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Ich glaube, Briefe hast du schon immer gemocht. Handgeschrieben, auf mehreren Seiten, nie auf der Rückseite, weil du am Ende jedes Blatt nebeneinander gelegt hast, um die Übersicht zu behalten. Mit Datum oben rechts, vielleicht von einem Ort den du kennst. 

Du hast schon immer gerne im Atlas gestöbert. Ich kenne dich gut, ich erinnere mich an deine ersten Nike-Schuhe, die du hattest, den 4YOU-Rucksack, den dir deine Schwester übergeben hat, die ersten Buttons aus dem Laden im Forum Wetzlar. Dir war Gerechtigkeit immer ein Anliegen, deshalb war dir dein rotes Che Guevara Shirt auch so wichtig, als es dir deine Eltern es zum Geburtstag schenkten, weil es dein einziges Geschenk war, das du bekamst. Dein erstes Konzert war Clueso, Wir sind Helden und Fettes Brot, auf der YouFM-Clubnight 2006, kurz, nachdem du deinen ersten Kuss hattest. Du musstest deine Freunde verlassen, seid umgezogen, du hast viel geweint, aber nur für dich, in deinem kleinen Zimmer, das du dir mit deiner Schwester teilen musstest. 

Weißt du noch? Alles war im Umbruch, und ich glaube heute weiß ich, wie sich das anfühlt.

Kannst du dich noch an den Burger King erinnern, auch im Forum Wetzlar? Dort, wo die Jungs vor den Hockern standen, die Hände in den Taschen der neuen Camouflage-Jacken, nichts bestellt, aber so getan, als ob uns der Laden gehörte. Es gab manche Dinge, die hast gerne gemacht, am liebsten mit den Jungs, die nicht nur wussten wo du herkamst, sondern auch nie danach gefragt haben, wie dein Name richtig ausgesprochen wird. Eure Eltern haben sich gut verstanden, weil man genau wusste, wer in welchem Apartment der Sozialwohnungen in der Wetzlarer Straße wohnte. 

Du hast nach Selbstverständlichkeiten gesucht, die dir keine Sicherheit gaben. Als du deinen ersten Mp3-Player bekommen hast, hat dein Freund, dessen Eltern die beste Pizza der Stadt machten, dir die neusten Lieder von 50 Cent und The Game drauf gezogen. Bordeaux-Farben, wie du es mochtest, mit fast zehn Liedern drauf. Du bist durch Asslar gelaufen, Hände in den Taschen, Kapuze auf, nur du und deine festen Blicke in die Straßen, vor denen du nie Angst hattest. 

Ich mache mir Sorgen um dich. Ich will dich begreifen, im Heute,  ich weiß, das ist unmöglich. Aber darf ich Angst haben beim Gedanken an dich? Daran, dass du ausgehalten hast, was heute wehtun würde? Daran, dass viele eine Vorstellung über dich hatten, nur du nicht? 

Manchmal glaube ich, im heute, belüge ich mich selbst. Ich spreche von Ablehnung und Missgunst, von Unglaube und Unbehagen, von dir als eine Person, auf die dein Vater stolz war, aber er es musste, weil was blieb ihm anderes übrig. Du hattest immer Angst, wenn ihr vom Familienbesuch nach Hause kamt, die Tür aufging und du mit einem Herzenssprung: „Hallo Einbrecher!“  in den Flur gerufen hast, in der Hoffnung, es würde schon keiner antworten, und falls sie es tun, würden sie erst reden wollen, bevor sie dich und deine Familie überfallen. Deine Eltern sagten, das passiere nicht, aber als die Realität dich einmal einholte, hattest du danach immer Angst in eurer Wohnung nachts, im ersten Stock, die direkt an den Garagen lag, wo der Fluchtweg so kurz war. Dein Vater würde dich immer beschützen, das wusstest du, aber manchmal hattest du Angst, dass du dich selber nicht schützen kannst, obwohl viele deiner Freunde in der Schule das dachten. Ihnen war deine Stärke und Mut eine Selbstverständlichkeit, eine unausgesprochene Wahrheit, die nie jemand überprüfte. Ich bin mir sicher, du hast dir auch gewünscht, in Selbstverständlichkeiten zu leben.

Weißt du, ich glaube, du wolltest vieles sein. Fussballer, Tänzer, Sänger. Auf dem ESC wolltest du singen, für Deutschland eher nicht, aber die Bühne war dir immer wichtig. Du wolltest leise sein, was nicht immer klappte, aber zumindest nachdem Basketball-Training auch Salsa tanzen, aber du weißt ja, vor der ersten Stunde deinen Freunden das zu erzählen wäre eher uncool gewesen. Angst ist das falsche Wort, aber vielleicht war es die Angst davor du selbst zu sein, weil fremde Worte und Gedanken so oft um dich herum gekreist sind, bis du an ihnen fast erstickt bist. 

Du fragst dich bestimmt, wer ich bin, wenn du das so liest. Vielleicht noch im alten Kinderzimmer, wo du die Tapete schon abgezogen hast, oder in deinem neuen, eigenen Zimmer, mit eigenem Schreibtisch und Pflanzen, die deine Mutter reingestellt hast, weil es die Luftqualität verbessert. Deiner Mama war deine Gesundheit immer wichtig, dir ja eigentlich auch, aber du hast gelernt die Fäuste zusammenzudrücken und den Schmerz wegzuschlucken. Das hast du so gesehen, im Fernseher, der immer an war, zwischen RTL2 und Trt hast du manchmal deine Augen, und oft dein Herz bewegt.

Ich bin der, der ich früher hätte sein wollen. 

Glaube mir, ich bin noch immer auf der Suche, noch immer stecke ich meine Hände in die Jackentaschen und höre die gleiche Musik, zu der du das erste Mal beim Kinderfasching getanzt hast. Du denkst, ich bin längst an einem sicheren Ort angekommen, aber ich habe noch immer Angst mich in Unklarheiten zu verlieren. Vor und hinter Grenzen zu sein, die ich nicht selber ziehe, sondern andere für mich. Aber heute versuche ich weniger Angst zu haben, weil ich im dazwischen meinen Platz gefunden habe, von dem ich dir heute schreibe. Wenn ich sage, ich liebe dich, wünsche ich mir, dass du meine Worte aufschreibst, auf einen kleinen Zettel notierst und auf den großen Spiegel im Kinderzimmer klebst, in den du jeden Tag geschaut hast. Denn das ist die einzige Wahrheit, die ich kenne. 

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