Alles nur Beschiss – Der Kapitalismus liefert nicht mehr.
Vor einer Weile fiel mir auf, dass der Kapitalismus so richtig kaputt ist. Ich meine damit ausnahmsweise heute mal nicht die ganz offensichtlichen Probleme wie Ausbeutung, ungerechte Verteilung der Wertschöpfung, die Grenzen des Wachstums, dass der Planet ausgereizt und das Klima und die Umwelt kaputt sind usw. usf. Nein, es geht mir heute um etwas viel einfacheres: Selbst im Rahmen des Kernparameters seines eigenen Wertesystems – der möglichst effizienten Ressourcen-Verteilung auf der Basis der Preissignale des Marktes – ist der Kapitalismus völlig kaputt.
Gefühlt sind wir inzwischen nur noch von Betrügern, Abzockern, Vertragsverwirrern, Täuschungsprofis und Scammern umgeben. Viele Alltags-Transaktionen sind zu einer Abwägung geworden, zwischen der Wahrscheinlichkeit, abgezogen zu werden, versus der Wahrscheinlichkeit die gewünschte Ware oder Dienstleistung tatsächlich in guter Qualität zu erhalten. Die sprichwörtliche "bei Wish bestellt"-Produktqualität (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) ist inzwischen zu einem relevanten Risiko für fast alles online Bestellte geworden.
Finanzprodukte zur Alterssicherung sind nicht auf Sicherheit oder Inflationsschutz hin optimiert, sondern auf optimalen Provisionsertrag für die Verkäufer – auch aber nicht nur bei der Riester-Rente. (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
Neben dem Verlust durch die – eher nur ausnahmsweise inflationsdeckenden – Renditen oder Zinsen fallen auch noch Gebühren und sonstige "Kleinigkeiten" an, die am Ende dafür sorgen, dass das Geld weniger und nicht mehr wird. Viele Versicherungen gegen diverse Lebensrisiken sind in Wahrheit so etwas wie zweistufige Lottoscheine geworden: Bekomme ich überhaupt eine Police? Und wird die dann im Schadensfall auch wirklich zahlen, oder windet sich der Anbieter mit irgendeiner Formalie aus der Verantwortung?
Selbst so etwas Simples, wie ein belegtes Brötchen am Bahnhofskiosk zu kaufen, birgt eine hohe Wahrscheinlichkeit, abgezockt zu werden. Oft genug handelt es sich bei dem "reichhaltigen Belag" um ein kreatives Arrangement einer enttäuschenden Mindermenge der teureren Bestandteile an der Vorderkante eines nicht allzu tiefen Einschnitts in das Backwerk. Im Supermarkt ist das Phänomen als Shrinkflation (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) bekannt, der Reduktion des Inhalts bei gleichbleibender Packungsoptik.
Für Dienstleistungen bei denen an allen Ecken gespart wird, bis sie nur noch wenig mit der durch die Werbung erzeugten Qualitäts-Erwartung zu tun haben, hat sich der Name Skimpflation (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) etabliert. Eine Variante davon sind die Fake-Rabatte, die gerade am "Black Friday" überall zu bewundern sind und die Streaming-Service-Abos, bei denen, entgegen aller Erwartungen, nun doch lästige Werbespots eingeblendet werden.
All diese Phänomene eskalieren gerade. Oberflächlich sind die Gründe oft halbwegs nachvollziehbar. Das Personal ist knapp (wo ist es eigentlich hin?), die Lieferketten klappern noch, Energie ist enorm teuer usw. usf.
Im Kern ist es aber eine tiefgehende Korruption einer wichtigen Grundannahme des Kapitalismus: "Wenn die Kunden keine Lust mehr haben, beschissen zu werden oder schlechten Service zu bekommen, gehen sie halt zur Konkurrenz."
Diese Annahme ist immer öfter nicht mehr wahr. Beschiss-Kartelle bilden sich absichtlich oder eigendynamisch. Kostenreduktion ohne technologisch unterfütterte Produktivitäts- und Effizienzgewinne geht zwangsläufig nur durch Qualitätsabstriche. Gerne werden diese Abstriche durch alle Teilnehmer eines Marktsegments fast gleichzeitig umgesetzt – so wie die Preiserhöhungen bei Diesel und Benzin "ganz bestimmt" ohne direkte Absprachen passieren...
Die Dynamik ist dabei in Zeiten einer allgemeinen Wirtschaftskrise und Inflation fast zwangsläufig. Wer tatsächlich "ehrliche Preise" macht, also alle Kosten, inklusive langfristiger Wartungs- und Pflegekosten für ein Produkt seriös mit einberechnet, ist einfach teurer als die billig und schnell hinpfuschende Konkurrenz. Also dreht sich der Wettbewerb oft nicht mehr darum, das beste Produkt in der jeweiligen Preiskategorie zu haben, sondern das mit der höchsten Profitmarge. Die höchste Marge hat natürlich eine billige Fälschung des Originals. Aus gutem Grund investieren die ganz großen Oligopole wie Apple, Samsung und die Pharma-Konzerne viel Geld in Methoden zur Erkennung und Verhinderung von Produktfälschungen. Hier gibt es auch einen Hinweis, wo das jetzige Stadium der Kapitalismus-Kaputtheit herkommt: Obszöne Profit-Margen sind bei "führenden" Markenprodukten eher die Regel. Das schafft die richtige Motivationslage für Fälschungen und Versandbetrug (Gerät billig anbieten, Geld nehmen, es wird nie versendet).
Die "... dann gehen die Kunden zur Konkurrenz."-Annahme hat auch noch eine zweite Seite, da wo es keine offenen oder verdeckten Kartelle gibt: Wenn wiederkehrende Kunden sowieso zur Seltenheit werden, weil es im Online-Handel endlos viele Optionen gibt, dann ist es am profitabelsten so zu handeln, wie die Touristen-Abzocker an beliebten Sehenswürdigkeiten. Die wissen, dass die Touristen eh nur einmal bei ihnen Kunden werden, also gilt es bei dieser Gelegenheit das Maximum an Profit herauszuholen. Ob die sich hinterher abgezogen fühlen ist nebensächlich, solange man nicht in den Reiseführern und Online-Bewertungen sehr viel schlechter als die Konkurrenz aussieht. Die Sterne-Bewertungen auf den relevanten Plattformen sind ohnehin kaum noch brauchbar, weil sie effektiv den Mittelwert zwischen bezahlten Jublern und von der Konkurrenz bezahlten Schlechtmachern abbilden.
Zum Glück gibt es noch Unternehmen und Handwerker, die versuchen, ihre Verträge trotz widriger Umstände, Lieferkettenproblemen und ähnlichem irgendwie einzuhalten und transparent kommunizieren, was wo warum klemmt. Damit kann man umgehen, umdisponieren, umplanen, sich über Alternativen unterhalten. Solche Firmen sind in der Tat noch an langfristiger Reputation interessiert. Es gilt sie zu finden, sich gegenseitig zu empfehlen und sie auch dafür zu loben, dass sie versuchen durchzuhalten. Und natürlich gibt es an vielen Stellen keine preislich stemmbare Alternative zur industriellen Massenproduktion. Aber auch hier ist die Frage, ob man beim billigsten Kistenschieber mit Chatbot-"Kundenservice" oder einem Händler kauft, wo im Zweifel noch jemand mit Ahnung ans Telefon geht.
Ist der Kapitalismus an diesem Punkt reparierbar? Könnten noch mehr Regulierung, mehr Vorschriften und EU-Standards das Problem eindämmen? Ich habe da Zweifel. Es fühlt sich eher so an, als wären viele auf so einer Art "Endgame"-Trip, wo es nur noch gilt, möglichst viel Geld zusammenzuraffen, bevor die verschiedenen Krisen so richtig reinhämmern. Der Staat scheitert bei der Bändigung des Kapitalismus an seiner mangelnden Durchsetzungskraft schon bei existierenden Regeln und Vorschriften und der realen Gefahr, dass neue Regulierungen durch die Oligopol-Lobbyisten zu ihren eigenen Gunsten konzipiert und geschrieben werden. Noch mehr davon löst das Problem nicht. Wie bei so vielen Strukturen des Wirtschaftssystems entdecken wir jetzt, dass die Mechanismen zur Stabilisierung und Sicherung für Schönwetter-Jahrzehnte konzipiert, gebaut und getestet wurden. Wir leben nur leider nicht mehr in solchen Zeiten. (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
Vielleicht geht ja in einigen Bereichen was mit neu zu gründenden Händler- und Handwerkergilden, die für ein Mindestmaß an Verlässlichkeit und Qualität sorgen? (Neu zu gründen deshalb, weil viele existierende Verbände und Kammern schon so lange unterwegs sind, dass sie strukturell eher Teil des Problems als der Lösung geworden sind.) Genossenschaftliche, kooperative Ansätze des Wirtschaftens sind auf jeden Fall echte, positive Alternativen, mit denen es in geeigneten Feldern viel mehr zu experimentieren gilt. Sie haben natürlich auch ihre Probleme und Mühen der Ebenen, aber immerhin gibt es erfolgreiche Beispiele. (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
In diesem Sinne,
Durchhalten und mehr Experimente wagen!
Ihr
Frank Rieger
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