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Stell dir vor, deine Arbeit tut dir gut und am Ende des Monats hast du trotzdem genug Geld übrig. Die Kitas in der Gegend sind modern ausgestattet, genau wie die Schulen. Beim Arzt bekommst du schnell einen Termin, auch für komplizierte Untersuchungen. Das Personal im Krankenhaus behandelt dich freundlich und kompetent. Dein Chef behandelt dich respektvoll unabhängig von deinem Geschlecht. Du hast keine Angst vor Altersarmut, weil die Renten hoch genug sind und deine Kinder gucken zuversichtlich auf die Zukunft, weil es Jobs gibt und ein sicheres Klima. Wenn du ein Problem hast, hört die Politik dir zu und du hast die Möglichkeit auch selbst zu gestalten. Fürs Studium oder eine Ausbildung in eine andere Stadt zu ziehen ist einfach, weil es genügend Wohnungen gibt, und es hängt auch nicht von deiner Hautfarbe ab, ob du einziehen darfst. Stell dir vor, nicht nur den obersten Schichten geht es jedes Jahr besser, sondern allen: jenen, die gerade nicht arbeiten, all den Berufstätigen und auch jenen, die schon in Rente sind.

Stell dir vor: all das ist möglich.

Warum?

Weil die Mehrheit der Menschen das will – und was man will, kann Wirklichkeit werden.  

Doch schau dich um, auf dem Weg durch die Straßen. Wenn du auf dem Fahrrad sitzt, im Bus und im Auto. Du siehst gestresste Eltern, die ihre weinenden Kinder zur Kita schleifen. Du siehst Alte, die Pfandflaschen aus dem Müll ziehen, Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben. Du siehst die Obdachlosen, verdreckt und verzweifelt. Du siehst Kinder, die auf ihr Handy starren, abhängig von Geräten, die sie krank machen. Du siehst den Streit in den sozialen Medien, und an den Laternen die Plakate von Politikern, die jedes Wahljahr wieder ihre Lügen erzählen.

Zuhause versuchst du die Krisen auszublenden, doch jede Stunde kommen sie in den Radionachrichten, du siehst sie im Fernsehen und Internet: wieder ein Waldbrand, wieder eine Überschwemmung, wieder ein Krieg. Die Fachleute sagen, dass es alles nur immer noch schlimmer wird. Du schaltest ab. Aber es bleibt das bedrückende Gefühl, nichts tun zu können.

Aber das sollte so nicht sein, wir leben doch in einer Demokratie. Wir sollten entscheiden können, wie es läuft – doch wenn du über all das nachdenkst, fühlt es sich nicht so an. Wie kann es sein, dass wir nicht gehört werden? Wie kann es sein, dass wir nur alle vier Jahre wählen können, aber Vorstandschefs auch kurzfristig einen Termin bei den Entscheidern kriegt? Warum kann man sich mit Geld in unserer Demokratie Einfluss kaufen? Das ist nicht fair.

Es ist nicht fair, dass Steuersünder nur selten verurteilt werden, aber jedes Jahr 7000 Schwarzfahrer ins Gefängnis müssen, weil sie zu arm waren, um die Strafe zu zahlen. Es ist nicht fair, dass große Unternehmen nur wenige Prozent Steuern zahlen, während viele andere unter den Abgaben ächzen. Es ist nicht fair, dass Abgeordnete der Wirtschaft Geschenke machen, und dafür dann mit schicken Posten belohnt werden.

Aber so ist es gerade. Und so wird es weitergehen, wenn wir nicht handeln, wenn wir uns nicht gegenseitig helfen. So wie wir geholfen haben, als 2015 Millionen Menschen nach Deutschland kamen und wir sie mit Essen, einem Bett und Kleidung versorgt haben. Als 2020 Corona sich ausbreitete, wir füreinander einkaufen gingen, gekocht haben und Medikamente bei der Apotheke besorgten. Als 2021 das Ahrtal überschwemmt wurde, und Zehntausende hinfuhren, um Schlamm zu schüppen, aufzuräumen, reparieren.

Wir Menschen sind ja im Grunde gut, hilfsbereit. Wenn jemand anderes lächelt, lächelst du auch. Wenn jemand traurig ist, wirst du auch traurig und tröstest. Wir sind füreinander da, leider viel zu selten. Es sei denn, du entscheidest dich, es anders zu machen. Es sei denn, wir entscheiden uns, es anders zu machen. Es sei denn, wir tun uns zusammen.

Lokale Versammlungen in jedem Dorf, jeder Kleinstadt, jedem Großstadtkiez. Räume, in denen wir uns treffen mit Leuten, die wir vorher nicht kannten, weil wir uns überwinden und sagen: es muss doch besser gehen.

Am Anfang ist es komisch, die unangenehme Stille im Raum. Was die anderen wohl denken? Kann ich denen vertrauen? Dann ein erstes Kennenlernen vielleicht vorne an dem Tisch, wo der Kaffee und der Tee stehen, vielleicht nur ein freundliches Nicken, aber auf der anderen Seite des Raumes lacht schon jemand.

Dann der Moment, wo das Gespräch beginnt, und jeder sagen darf, was die Gründe fürs eigene Kommen sind. Das meiste macht Sinn, ja, ist nachvollziehbar, auf jeden Fall überwiegt es den Teil, der irritiert. Berechtigte Ängste und Wünsche, die jeder so kennt, schließlich leben wir ja in bedrückenden Zeiten. Viele in der Gruppe nicken, auch als die Moderation die Person zum Reden auffordert, die sich bisher nicht getraut hat, etwas zu sagen. Oftmals sind das ja die Sensibelsten mit dem feinsten Gespür für das, was falsch läuft.

Schritt für Schritt zeigt sich im Prozess ein Problem, das viele in der Gruppe betrifft, etwas, das so nicht weitegehen kann, etwas, das man ändern kann, das man ändern sollte.

Sich versammeln heißt: zuhören, verstehen, voneinander lernen. Jeder hat einen Teil des Puzzles, keine Information, kein Mensch ist nicht wichtig, jeder wird gebraucht, wenn wir die Dinge verändern wollen.

Sich versammeln heißt, sich ineinander wiederzuerkennen, heißt das Misstrauen und die Angst vor den anderen zu überwinden, heißt Beziehungen aufzubauen, vielleicht sogar Freundschaften.

Sich versammeln heißt, gemeinsam Stärke zu finden, Probleme zu lösen, die zu groß für den einzelnen sind, heißt gemeinsam ins Handeln zu kommen. Denn nur Reden ist billig, das tut die Politik schon genug. Es geht darum, etwas zu tun.

Wir befreien uns aus der Einsamkeit und der Vereinzelung.

Wir befreien uns von dem Gefühl, nichts tun zu können, ausgeliefert zu sein.

Wir befreien uns aus der Rolle des Zuschauers, des Nichtstuers.

Wir kommen ins Handeln.

Vielleicht geht es erstmal nur darum, sich gegenseitig zu unterstützen: Wer kann wen mal zum Arzt fahren oder eine Bohrmaschine leihen? Vielleicht geht’s erstmal nur um die Einkäufe für den alten Witwer, der vorne an der Ecke wohnt. Vielleicht geht es darum, sich mal wieder zu begegnen, klassischer Kaffeeklatsch, weil viele in unserer heutigen Gesellschaft niemanden mehr haben, täglich stundenlang vor dem Fernseher sitzen. Vielleicht geht es aber auch um mehr.

Da könnte die Bahnstation sein, die keinen Aufzug hat, und deshalb für Rollstuhlfahrer und Eltern mit Kinderwagen schlecht erreichbar ist. Da könnte die Familie sein, die kürzlich erst nach Deutschland gekommen ist, und jetzt aus ihrer Wohnung geschmissen werden soll. Da könnte der Jugendtreff sein, der geschlossen werden soll, weil das Geld gekürzt wird.

Ein einzelner ist in so einer Situation überfordert und meistens machtlos, doch eine kleine Versammlung, die dranbleibt, kann etwas bewegen. Man kann selbst tätig werden und Hilfe organisieren. Oder man kann die lokale Politik einschalten, und wenn die nichts macht, Macht man halt Druck. Wer sagt denn, dass man nicht auch mal im Foyer des Rathauses bleiben kann, bis der Bürgermeister mit einem spricht und wenn er die Polizei ruft, soll er mal der Presse erklären, warum er seine eigenen Bürger so behandelt.

Jede große Veränderung hat mit einigen wenigen Leuten angefangen – und eine große Veränderung braucht es angesichts der Probleme der Welt.

Deshalb treffen wir uns nicht nur an vielen einzelnen Orten, sondern auch immer wieder zu bundesweiten Versammlungen. Wir kommen zusammen aus allen Winkeln des Landes, um darüber zu sprechen, wie wir bei den großen Problemen vorrankommen. Den Problemen, die die Politik nicht mehr angeht, die uns aber alle betreffen: Armut, Ausgrenzung, Klimakrise.

Wir verschaffen unseren Stimmen Gehör, wir sind das Gegengewicht zur Elitenpolitik, wir halten dagegen – und schaffen etwas Neues, denn das was wir machen, ist im Grunde schon eine kleine, friedliche Revolution: Wir warten nicht mehr darauf, dass die Politik etwas für uns tut, so wie Kinder darauf warten, dass ihre Eltern endlich handeln. Nein, wir machen selbst. Wir leben Demokratie, so wie sie mal gedacht war: Wir als Bevölkerung treffen die Entscheidungen.

Zwei Menschen, die sich treffen, sind zwei Menschen, die sich treffen. Aber 20 Lokale Versammlungen, die sich zusammentun, sind eine Bewegung, die die Gesellschaft verändern.

Klingt wie ein großer Traum?

Ist es.

Und jeder große Traum beginnt mit einem ersten Schritt, und wenn wir dann erstmal richtig ins Laufen kommen, dann können wir nicht nur die Probleme unserer Zeit lösen, nein: Vielleicht können wir unser aller Leben auch ein kleines Stück besser machen – den Versuch ist es allemal wert.

In diesem Sinne: versammelt euch!

Diesen Text würde ich gerne als kleines Booklet bei unseren Lokalen Versammlungen auslegen. Ich fasse darin die Gedanken und Erfahrungen der vergangenen Monate im Projekt Menschlichkeit zusammen. Weil ich aber derzeit an nichts anderem arbeite, fehlt mir ein bisschen der Blick von außen, und ich frage mich:

Klingt der Text plausibel?

Ist er schlüssig?

Macht er Sinn?

Ich weiß, Du und ich sind in ähnlichen Bubbles unterwegs, aber trotzdem würde ich mich freuen, wenn du ein Feedback hast und es mir schickst – ich glaube so sehr an dieses Projekt und möchte, dass es möglichst viele Menschen mitnimmt.


Liebe Grüße
Raphael

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