Der Name der Reise
Wo das deutsche Herz schlägt/ Doku Immer zu Diensten/ Johannes Willms über Louis 14/Das Sonntagshuhn der Fontaine de Mars in Paris
Nach der Lesung in der Stadtbücherei St. Ingbert als Gast des dortigen Literaturforums am vergangenen Mittwoch geht meine Lesereise mit Montaigne Katze in eine Sommerpause, im September geht es dann weiter.
Ich durfte eine für mich neue Institution kennenlernen: das Lesungshotel. Hier bringen die Heldinnen und Helden unseres Literaturbetriebs lesende Menschen unter. Sie verstehen sich auf die Kunst, mit kargen Mitteln zu zaubern und verfügen über langjährige Verbindungen zur örtlichen Hotellerie. Lesungshotels gehören so gut wie nie einer Kette an. Es ist auch nicht so, dass das Zimmer eines Lesungshotels immer saharagelb gestrichen ist – manchmal leuchtet es sonnengelb, butterfarben oder khaki. Es gibt genau eine Flasche stilles Wasser, eine Bibel, aber keine Prospekte, Nüsse oder sonstiges Zeugs. Das Gelb ist freundlich, aber doch so, dass man dann auch gern wieder abreisen soll– ein Lesungshotel ist schließlich nicht der Zauberberg.
Lesungshotels sind personalkostenmässig optimiert: Portier, Liftboy, Zimmerservice und all die anderen Gestalten aus der Hotel-Folklore kann man hier vergessen, es ist mehr oder weniger menschenleer. Manchmal liegen Schlüssel und Meldeschein auf dem Tresen, meist ist es ein Minijobber oder Mitglied der Eigentümerfamilie, die die Stellung halten. In Lüneburg durfte ich freundlicherweise das einzigartige, analoge Reservierungssystem fotografieren. Es ist jedem Computer überlegen, teilte man mir mit und ich glaubte es sofort. Ich werde es zu Hause mal nachbauen.
In einem Lesungshotel fühlt man sich in jedem Zimmer wie ein Teenager, der bei lieben Verwandten mit einem Faible für Gelb übernachten darf. Essen nach 18 Uhr ist schwierig, aber am Morgen sind alle unten und stürzen sich, draußen ist es noch dunkel, auf Eier und Speck. Beim deutschen Frühstück drücken sich die Freude, auch heute wieder wach geworden zu sein und die ganze Liebe zur Welt aus.
Lesungshotels sind der deutsche Mittelstand, wo er auf das Bildungsbürgertum trifft – das Herz dessen, was an Deutschland einzigartig und auch etwas kurios ist. Mehr als einmal musste ich an Loriot und Walter Kempowski denken, wenn ich die Regeln und Gepflogenheiten der stillen, leeren Häuser mitgeteilt bekam: kein offenes Feuer auf dem Zimmer, Schlüssel immer behalten, Schlüssel immer abgeben. Aber geschlafen habe ich jedes Mal unvergleichlich gut und ich freue mich jetzt schon auf die Hotels des Herbstes.
Das politische Thema, bei dem sich seit Jahrzehnten so gar nichts bewegt, ist die Migration. In Italien und Frankreich wurde daraus eine nationale Obsession, ein Psychodrom der Affekte, in dem kein Argument mehr willkommen ist. Das Vereinigte Königreich hat sich lieber per Brexit ins Elend gestürzt, als mit der Migration klar zu kommen und neuen Menschen Heimat zu werden. Das Thema erzeugt seit Jahrzehnten eine Dauerschleife des Unsinns und immer heißt es, man dürfe nicht darüber reden.Da wird gleichzeitig nach effektiverer Abschiebung gerufen als auch nach mehr Anwerbungen. Da wird die Ödnis der Dörfer beklagt, der Mangel an Fachkräften und zugleich werden Verträge geschlossen, um Menschen abzuschrecken, wegzuekeln und zu demütigen.
Sommer für Sommer nimmt die europäische Öffentlichkeit es hin, dass Menschen jeden Alters bei riskanten Überfahrten sterben, anstatt pragmatische und humane Lösungen anzubieten, die kein Hexenwerk wären. Es wird die Illusion erzeugt, dass Mensch trotz Not und Ödnis einfach bleiben wird, wo er ist, wenn Europa böse kuckt. Sollen Väter und Mütter in den Brennpunkten der Welt oder hoffnungslosen Nationen zusehen, wie ihre Kinder im Elend groß werden?
Man muss Migration neu denken. Zur Grundausstattung jedes Menschen gehören Füße und mit denen kann man sich fortbewegen. Alle Völker und Kulturen haben diese Möglichkeit mehr oder minder stark genutzt. Manche gehen, manche bleiben und wenn es eng wird, gehen viele.
Menschen sind kein Spargel und sprießen nicht aus deutscher Scholle. Wer auch immer in Kerneuropa so herumspringt, seine Vorfahren sind auch irgendwann mal aus Ostafrika oder anderen Ursprungsgebieten hier her geschlurft. Nicht mal die alte Religion, das Christentum in all seinen Unterformen, ist in Deutschland entstanden. Jesus von Nazareth wusste nichts von Köln, Passau oder Altötting.
Der europäische Umgang mit Menschen, die hier her möchten, ist mit unseren Werten nicht vereinbar, spottet Artikel 1 GG, der allgemeinen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und wird als Schandfleck unserer Zeit in Erinnerung bleiben. Warum dürfen Personen, die den Mut zur Migration aufbringen, nicht das Flugzeug nehmen? Bei der Ankunft könnte man dann schauen, wie es gemeinsam weiter geht, welche Schulungen gut wären und welche Abschlüsse anerkannt werden können.
Das ist keine rührselige Utopie: Es wird ohnehin so kommen.
Arte bietet nun einen bewegenden, dabei coolen Dokumentarfilm über einen Mann, der seine Heimat und Familie in Mali verließ, um sich in Frankreich etwas aufzubauen. Hin musste er mit dem Schlepperboot, aber als er seine Aufenthaltserlaubnis hatte, konnte er sicher fliegen. Warum bietet man das nicht gleich an? Ist so ein Papier wichtiger als Menschenleben?
https://www.arte.tv/de/videos/107817-000-A/immer-zu-diensten/ (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Ich habe fast alle Bücher von Johannes Willms im Regal stehen und nun, ein Jahr nach seinem Tod, kommt ein weiteres hinzu. Wenn man den Autor ein bisschen kennt spürt man, dass ihm Figur und Epoche des Sonnenkönigs fremd bleiben. Wie in kaum einem anderen Werk schimpft und wütet er über den Unsinn dieser Zeit. Bezeichnend ist diese Stelle: "In der geschilderten Situation die Entscheidung zu treffen, die eigene Streitmacht auf dem flandrischen Schauplatz zu schwächen (...) wirft die Frage auf, ob Louis XIV noch ganz bei Sinnen war". Willms arbeitet sehr gut heraus, dass der Job des absolutistischen Monarchen zu einem verzerrten Weltbild, eigentlich in den Wahnsinn führt – eine mustergültige Beobachtung auch für die Potentaten unserer Zeit. Wie immer verzaubern sein sicheres Urteil, seine altmeisterliche Sprache und der Mut zur Meinung in zaudernden Zeiten. Man lernt einiges über den Hof von Versailler, mehr noch über das Leben.
In dieser sympathischen Serie stellen KollegInnen von Le Monde ihre Lieblingsgerichte in Lieblingsrestaurants vor. Das Motto ist, dass sich die Welt schon genug verändert und manches besser beim alten bleibt (übrigens ein typischer Montaigne-Gedanke!). Etwa das Sonntagshuhn. (Hier wird es allerdings schon am Samstag mariniert und massiert)
https://www.lemonde.fr/le-monde-passe-a-table/article/2023/06/10/a-la-fontaine-de-mars-a-paris-le-poulet-roti-du-dimanche-midi-est-prepare-avec-une-minutie-quasi-amoureuse-depuis-trente-ans_6177065_6082232.html (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Kopf hoch,
Ihr
Nils Minkmar
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