Erinnerungskultur oder Schlussstrich?
Wo endet Erinnerung, wo beginnt Verdrängung?
Von Wolfgang Hauck, Projektleiter des NaziCrimesAtlas.
„Schlussstrich? 90 Prozent AfD und 58 Prozent Union.” Wie umkämpft die deutsche Erinnerungskultur ist, lässt sich in einem aktuellen Artikel der ZEIT („Wollen die Deutschen noch hinschauen?“) und den Kommentaren nachlesen.

Die Ergebnisse der aktuellen ZEIT-Umfrage zur NS-Erinnerungskultur haben aufgeschreckt – nicht allein wegen der Zahlen. 192 Leserkommentare zu einem Artikel vom 26. März 2025 darüber verdeutlichen, wie stark sich das Verhältnis zur deutschen Vergangenheit verschoben hat.
Eine Mehrheit der Befragten, 55 Prozent, befürwortet einen sogenannten Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit. Was genau darunter verstanden wird, bleibt offen – aber der Wunsch, sich der historischen Verantwortung zu entziehen, ist unübersehbar. Die Reaktionen der Leserschaft machen deutlich: Die Erinnerungskultur ist nicht mehr gesamtgesellschaftlicher Konsens, sondern ein umkämpftes Terrain.
Wer spricht – und mit welcher Absicht?

Die Kommentierenden zum Artikel (Stand 20. Mai 2025) lassen sich grob in drei Gruppen einteilen:
Verteidigende Stimmen der Erinnerung betonen die Bedeutung eines aktiven Gedenkens als demokratische Pflicht. Aussagen wie „Vergessen ist der erste Schritt zur Wiederholung“ markieren eine klare Haltung gegen das Erstarken rechter Ideologien.
Relativierende Stimmen behaupten eine Einseitigkeit der historischen Aufarbeitung oder argumentieren mit vermeintlich „guten Seiten“ des Nationalsozialismus – ein gefährlicher Trend, der historischen Revisionismus salonfähig macht.
Ambivalente Stimmen äußern Unsicherheit oder Überdruss. Hier zeigt sich, wie anfällig ein entpolitisiertes Geschichtsbild für strategische Manipulationen werden kann.
Auffällig: Mehrere Kommentare übernehmen fast wortgleich Sprachmuster, wie sie aus Kreisen der AfD oder der sogenannten Neuen Rechten bekannt sind. Aussagen wie „Man darf ja nichts mehr sagen“ oder „Die Masse hatte keine Schuld“ zielen nicht auf eine differenzierte Auseinandersetzung, sondern auf Entlastung und Umdeutung.
Ob es sich bei diesen Kommentaren um typische ZEIT-Leserinnen und -Leser handelt, lässt sich nicht überprüfen. Klar ist aber: Kommentarbereiche werden zunehmend strategisch genutzt – als Bühne, um radikale Positionen als Mehrheitsmeinung erscheinen zu lassen.
Erinnerung braucht Fakten – nicht Meinungskampf
Gerade deshalb ist unser Projekt, der Digitale Atlas der NS‑Verbrechen – NaziCrimesAtlas, von Bedeutung. Es liefert keine Meinungen, sondern faktenbasierte Informationen zu den Verbrechen des Nationalsozialismus – ortsgenau, wissenschaftlich fundiert und prinzipiell jedem zugänglich.

In einer Zeit, in der Erinnerung zunehmend politisiert wird, ist die sachliche Dokumentation historischer Realität unser stärkstes Gegenmittel. Der Atlas ermöglicht jungen Menschen, lokalen Initiativen und Bildungseinrichtungen, sich ein eigenes, fundiertes Bild zu machen – jenseits der verzerrenden Logik von Kommentarspalten und Meinungskämpfen.
Fazit
Die Erinnerung an den Nationalsozialismus ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Sie muss erklärt, neu vermittelt und konsequent gegen Angriffe verteidigt werden – besonders jetzt, wo rechte Narrative erstarken und die gesellschaftliche Mitte ins Wanken gerät.
Wer für das Vergessen plädiert, will oft nicht nur die Vergangenheit ruhen lassen – sondern die politische Deutungshoheit über sie gewinnen.
Die Leserreaktionen auf die ZEIT-Umfrage zeigen: Wer für das Vergessen plädiert, geht oft weit über das Ende des Gedenkens hinaus. Es geht um Deutungshoheit – und um die Grundlagen unserer Demokratie.
„Erinnerung ist keine Schuld – sie ist Verantwortung.“
Diesen Satz ernst zu nehmen, ist keine historische Pflichtübung – es ist ein demokratisches Überlebensprinzip.
Hinweis: Die Umfrage „Haltung der Deutschen zur NS-Geschichte“ wurde vom 14. bis 29. Januar 2025 von Policy Matters (Berlin) und Norstat (München) im Auftrag der ZEIT durchgeführt. Es wurden 1.049 Personen ab 14 Jahren befragt.
Quelle: Die ZEIT, Nr. 13/2025, Artikel von Christian Staas, Infografik: Anna Wilkens.
Der Artikel
www.zeit.de (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), abgerufen am 20. Mai 2025
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Die Umfragen
2020: https://www.zeit.de/2020/19/zeit-umfrage-erinnerungskultur.pdf (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
2025: https://live0.zeit.de/zeit/EinstellungderDeutschenzurNSZeit.pdf (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)
