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Ein Geburts- und zwei Todestage

Der 80. Geburtstag meines guten Freundes Jonathan Bragdon (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) führte mich kurz vor Weihnachten wieder einmal nach Amsterdam. Eine reibungslose Zugfahrt - frühmorgens in Berlin gestartet - ins morgengraue Flachland, vorbei an Windrädern und bereits skandinavisch anmutende Häuserreihen. Um 12:30 dann schon die Ankunft in der trotz Regen THC umwölkten Innenstadt und flugses, von Satelliten unterstützes Einschlagen des Fußweges zur Festgemeinde. Jonathans hinreissende vier Kinder haben ihm einen wundevollen Festakt organisiert. Der weitverzweigte Frundeskreis fand sich fast vollständig ein und ich durfte mit der Begleitung der betörenden Tara Khozein (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) meine Vertonung auf drei von Jonathans Gedichten basierendem Song "Giacometti" (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) vortragen. Die Atmosphäre war so herzlich, der zwar nicht gleichzeitige aber doch gemeinsame Besuch im Eye Filmmuseum (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) so inspirierend, dass ich mit dem neuen, von meinem Bruderherz verabreichten Telefonapparat eine kleine Filmskizze fertigte. "Bragdon's Melody" (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) kann als Vorläufer zu einem umfassenderen Portrait über diesen hochinteressanten Maler und Zeichner verstanden werden. Ich hoffe, dass ich das in nächster Zeit gebacken kriege.

Nach Bewältigung der restlichen Festtage beginnt dann im Januar leider bereits der Reigen von Todesfällen, die wohl grundsätzliche Einschnitte markieren werden. Kurz bevor sich die reale Welt komplett unübersehbar in eines seiner verstörendsten Werke verwandelt, stirbt David Lynch (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)und mein Schock und Unglauben darüber ist vergleichbar wie seinerzeit bei David Bowie. Wenn jemand einer Kunst so sehr seinen ureigenen Stempel aufgedrückt hat, ist es paradoxerweise schwer zu ertragen, dass diese Person nun einfach nicht mehr Leben soll; paradoxerweise, weil sie gerade durch das unverbrüchliche Werk ja im Grunde nun unsterblich geworden ist. Die schnelle Kontaktaufnahme mit einem meiner ältesten und besten Freunde und das gemeinsame Erinnern der nächtlichen Filmvorführung von "Eraserhead" (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) im Zürcher Kino Nord Süd, tröstet etwas. Wir waren seinerzeit, noch keine 20 Jahre alt, so erstaunt, aufgewühlt, erschrocken aber auch begeistert aus dem Kino gekommen, dass mit diesem Erlebnis wohl tatsächlich der Grundstein gelegt wurde für meine praktische Hinwendung zu dem Medium und der wissenschaftlichen des Freundes. Heute ist er Prof für Fimwissenschaft in der Uni Zürich.

Nach der Inthronisierung des bösartigen Clowns muss dann auch gleich noch der Tod des 87 jährigen Garth Hudson verkraftet werden. Mit dem letzten Mitglied der legendären Band "The Band" (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) tritt damit die Seele dieses grossartigen Projektes ab. Eine Handvoll Kanadier erschaffen mit ihren Songs eine Ikonographie der US Amerikanischen Musikkultur, wühlen in deren ältesten Ausdrucksformen herum wie Trüffelschweine, erschaffen so, zusammen mit Bob Dylan, eine “Invisible Republic” (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)(Greil Marcus) und erscheinen dabei wie Landstreicher aus der Zeit unmittelbar nach dem Bürgerkrieg. In dem Zusammenhang ist mir bei dem wöchentlichen Treffen im Autorenforum, Berlin in Steglitz (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), wo ich mich mittlerweile jeden Montag einfinde um Texten von Kollegy (auch Hermes Phettberg, der diese Schreibweise für den einzig wahrhaft genderneutralen Plural vorgeschlagen hat, ist kürzlich verstorben) zu lauschen und mitzukommentieren, ein toller Begriff über den Weg gelaufen: “Woolgatherer”, bedeutet einerseits Tagträumer, enstammt aber aus einer ganz anderen Ecke: Woolgatherer wurden die ärmsten der armen Landstreicher genannt. Sie pickten die an den Zäunen hängen gebliebenen Wollknäuel der Schafe, um dann auf den Marktplätzen den einen oder andern Penny dafür zu bekommen. Garth Hudsons Tagträumereien sind in dieser Aufnahme ganz besonders schön festgehalten:

Last Waltz Garth Hudson solo "The Weight" Apr 9 2017 Chicago nunupics (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Nun gut. Es muss alles irgendwie weiter gehen. Ich schustere an einem neuen Text herum. “Vergegenwärtigung” betrachtet meine zweigeteilte Kindheit zwischen kleinbürgerlichen Großeltern und akademisch, linksausgerichteten Erziehungsberechtigten (Mutter/Ziehvater). Das Eintauchen in die Thematik offenbart in ungeahnter Weise, wie das Schreiben an sich zu gedanklicher Durchdringung führt, Bewußtsein überhaupt erst erschafft. Um es mit Dave zu sagen: Schaut auf den Donut und nicht auf das Loch. In diesem Sinne wünsche ich Euch ein erfülltes 2025.