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Weihnachten in Huchting

Ein Porträt von mir. So sehe ich im Moment aus. Meine neue Brille habe ich dieses Mal aber abgesetzt.

Kurzgeschichte

Weihnachten in Huchting

Diese Geschichte ist in meinem Buch ‘Huchting - Geschichten von der Straße’ erschienen. (Adeo Verlag) Die Version, die ich Dir hier zeige, ist die unlektorierte Version direkt aus meinem Schreibprogramm.

Am Abend des zweiten Weihnachtsfeiertages hält er es nicht mehr aus. Sie haben die Tage gestern und heute bei Katjas Eltern verbracht und unglaublich viel gegessen. Schweinefleisch hat es zum Glück nicht gegeben. Denn auch wenn Sadiq aus Liebe zu den Webers zum Katholizismus übergetreten ist und es jetzt offiziell essen dürfte – er kriegt das Zeug einfach nicht runter. Nur der Gedanke daran schüttelt ihn. Dafür hat es jede Menge Rind gegeben – Braten, Rouladen – und dazu Kartoffeln in jeder erdenklichen Weise, ob gekocht, gebacken oder zu Klößen geformt. Anschließend Früchte – meistens leider als Kompott, was er nicht ausstehen kann – und dann Kekse, Kekse, Kekse. Sein Körper ist so vollgestopft mit Nahrung, dass die Eingeweide kaum noch Platz finden.

An beiden Tagen sind sie jeweils nur einmal kurz nach draußen gegangen, obwohl das Wetter ungewöhnlich warm und trocken ist. Denis und Noam haben sich einfach nicht bewegen lassen: Die Großeltern haben Denis eine Carrera-Bahn geschenkt, die sie sofort aufgebaut haben und seitdem im Dauerbetrieb ist. In regelmäßigen Abständen kommt es zum Streit, nämlich immer dann, wenn Noam auch mal damit spielen will. Das lässt der ältere der beiden auf keinen Fall zu, egal was die Eltern und Großeltern dazu sagen.

„Ich muss mal raus“, sagt er zu Katja, als sie sich an der Toilette treffen und für einen kurzen kostbaren Moment alleine sind, „ich raste gleich aus.“

„Mach das“, sagt sie mit einem säuerlichen Lächeln, das ihm verrät, dass sie jetzt auch gerne einen Spaziergang machen würde, und zwar ohne die Jungs, aber dass es ihr dennoch lieber ist, wenn er geht, weil sie sich besser zusammenreißen kann und ihren Frust erst rauslassen wird, wenn sie wieder in ihrer Wohnung im Neuen Damm sind.

Deshalb zieht er mit schlechtem Gewissen die Haustür hinter sich zu und tritt hinaus auf den Haßkamp. Es ist knapp sechs Uhr und natürlich schon dunkel. Die Luft hat sich immerhin so weit abgekühlt, dass er im Licht der Straßenlaternen seinen Atem sehen kann. Er wendet sich nach rechts und geht bis zur Kirchhuchtinger Landstraße, der er nach Norden in Richtung Roland-Center und St. Georgs-Kirche folgt. Die Gleichmäßigkeit der Schritte und das Ein- und Ausatmen beruhigen ihn allmählich. Er lässt die Gedanken schweifen und denkt an nichts Besonderes. Sein Weg führt ihn am Marmaris Imbiss vorbei, ihrem Lieblingsdönerladen. Und da muss er lächeln, denn das erinnert ihn an das Weihnachtsfest von vor fünf Jahren. 

Es sollte das erste sein, das sie als junge Familie alleine feierten. Bisher war es üblich gewesen, dass sie das Fest bei Katjas Eltern begingen. Das hatte angefangen, als Denis geboren wurde und sie noch in Hannover lebten. Und dann später, als sie nach Huchting umgezogen und zunächst im Haus der Webers untergekommen waren, war es ja ohnehin klar, dass sie sich alle gemeinsam unter den Baum setzten.

Aber dann wurde es höchste Zeit für eine eigene Wohnung, weil Katja zum zweiten Mal schwanger wurde. Sie fanden eine, nur ein paar Meter entfernt im Neuen Damm 38, und richteten sich dort kurz vor Noams Geburt ein.

Als der schließlich auf der Welt war, gab es keinen Grund mehr, länger zu warten: Sie wollten ihr eigenes Fest mit eigenem Baum in ihrem eigenen Wohnzimmer! Es war ein Zeichen von Reife, meinte Katja, es bewies, dass sie nun wirklich erwachsen geworden waren.

Denis war damals etwas über zwei Jahre alt. Er liebte Autos über alles, auch wenn er nicht im herkömmlichen Sinn mit ihnen spielte, sondern sie nur betastete und vor allem mit dem Daumen an ihren Hinterrädern drehte. Katja und Sadiq wollten ihm deshalb ein schönes großes Geschenk zu machen, das mit Autos zu tun hatte. Schließlich sollte ihr erstes echtes Familienweihnachtsfest etwas Besonderes sein.

Sie entschieden sich für eine mehrstöckige Spielzeugautogarage, in der Denis seine Autos herein- und herausfahren lassen oder sie mit einem Fahrstuhl auf die oberste Ebene transportieren konnte, achteten darauf, dass er nichts von dem Kauf mitbekam, und wickelten den großen Karton in sehr buntes Geschenkpapier ein.

Ihre Vorfreude auf Denis’ glückliches Gesicht wuchs, je näher der Heilige Abend rückte. Endlich war es so weit. Sie hatten einen lärmigen Gottesdienst in der St. Pius-Kirche mit vielen Kindern über sich ergehen lassen, aus dem Denis ständig flüchten wollte, weil ihm die Lautstärke der Kinderstimmen und die Musik auf die Nerven ging und weil er sich durch die Gerüche der Menschen belästigt fühlte und weil sie ihm die Bedeutung der weihnachtlichen Tradition nicht begreiflich machen konnten (und unter diesen Umständen selbst am Sinn der Tradition zu zweifeln begannen.) Schließlich betraten sie erschöpft ihre Wohnung und gingen zum wichtigsten Teil des Abends über: der Bescherung.

Denis hatte schon herausgefunden, dass das größte Geschenk für ihn bestimmt war. Er konnte es kaum erwarten, das Papier endlich aufzureißen. Sie mussten ihm dabei helfen, denn seine Hände waren noch zu kraftlos und ungeschickt, um es mit dem Klebefilm und dem starken Papier aufnehmen zu können. Dann lag der große Karton endlich vor ihm, und er beäugte ihn argwöhnisch. Ein großes Bild zeigte die Garage in voller Aktion: Autos schienen darauf hinein und hinauszurasen, und zwar so schnell, dass sie nur ganz verschwommen zu sehen waren. Er blickte sie mit großen Augen an.

„Na“, sagte Katja, „wie findest du das? Freust du dich?“

„Schokolade?“ sagte Denis.

„Nein, Denis, das ist eine Garage für deine Autos! Da kannst du jetzt immer schön deine Autos drinne parken lassen. Das ist ganz toll!“ fügte sie am Ende hinzu, weil ihr langsam dämmerte, dass Denis sich überhaupt nicht freute. Stattdessen kramte er im bunten Papier herum, das jetzt verstreut auf dem Boden lag, um nach weiteren Geschenken zu suchen.

Doch so leicht würden sie sich nicht geschlagen geben. Denis, so meinten sie, hatte einfach nur noch nicht begriffen, was für ein grandioses Geschenk er da erhalten hatte. Sie mussten es ihm nur verständlich machen, und dann würde er sich freuen, genau so, wie sie es vorausgesehen hatten.

Resolut schnappte sich Katja die Pappschachtel und öffnete sie. „Komm“, sagte sie, „wir bauen die Garage mal auf!“
„Guck mal, Autos“, sprang ihr Sadiq zur Seite und deutete auf das Bild der Verpackung, weil ihr Sohn doch Autos so liebte und er inständig hoffte, dass dieser Hinweis seine Laune retten würde.
Aber in der Schachtel befanden sich keine Autos. Nur eine unendliche Anzahl an quietschbunten Plastikteilchen, die erst zusammengesetzt eine Parkgarage ergeben sollten. Mit zitternden Händen machte sich Katja daran, die Teile zusammenzusetzen, während Sadiq Ermutigungen und Beschwichtigungen stammelte. Es war klar, dass hier eine ganz große Pleite drohte.

Als Katja schließlich die Parkgarage zusammengebaut hatte und in einem letzten verzweifelten Versuch, den Abend zu retten, mit gespieltem Triumph Denis’ Geschenk vor ihn auf den Boden stellte, stieß der kleine Autist einen Schrei aus, packte das kantige Ding und schleuderte es ihr an den Kopf. Das war zu viel. Sie brach in Tränen aus. Der Kampf um ein fröhliches erstes Familienweihnachtsfest war endgültig verloren.

„Scheiß doch auf den Heiligen Abend“, zischte Katja. „Ich will spazieren gehen.“
„Aber“, sagte Sadiq, „das geht doch nicht. Wir feiern doch gerade unser erstes eigenes Weihnachten!“
„Mir ist die Lust auf Feiern vergangenen“, schniefte sie. „Lass uns rausgehen und bei den Leuten in die Fenster gucken.“
Sie hatte Recht. Es war zwecklos. Die Lage war nur noch dadurch zu retten, dass sie so taten, als wäre es der ganz gewöhnliche Abend eines stinknormalen Wochentages. Sie packten die Jungs warm ein, setzten sie in den großen Doppelkinderwagen, den sie ‚das Schiff’ getauft hatten, und durchstreiften schweigend und deprimiert die Straßen.

Draußen war es dunkel, kalt und ungewöhnlich still. Aus den Fenstern der Häuser leuchteten Lichter: Kerzen, Lichterketten und anderer Weihnachtsschmuck, aber auch bunte Spiralen und blinkende Dinger, die den Eindruck machten, als sollten sie den Flugverkehr über Huchting regeln. Die frische Luft und die Bewegung taten gut. Wer sagt denn überhaupt, dachte Sadiq, dass diese Leute, die da hinter ihren Gardinen und vor ihren Bäumen hocken, glücklicher sind als wir?
Katja drehte sich zu ihm um und hatte wieder ein leichtes Lächeln auf den Lippen. „Weißt du, worauf ich Lust habe?“ sagte sie.
„Nee, worauf?“
„Döner!“
„Leck mich am Arsch“, sagte er, „warum eigentlich nicht?“

Sie lenkten das Schiff durch die Kirchhuchtinger Landstraße zu ihrem Lieblingsimbiss und bestellten drei schöne große Döner. Im Laden war es sehr warm, außerdem hatte der Kinderwagen darin keinen Platz, und es war zu umständlich, beide Kinder herauszuhieven. Sie gingen lieber weiter, stellten sich schließlich an einen Stromkasten direkt an der Straße gegenüber der St. Georgs-Kirche und betrachteten das heiligabendliche Treiben in Huchting.

In diesem Augenblick läuteten die Glocken. Die Christmette war gerade zu Ende gegangen. Und deshalb zogen, während sie in ihre Döner bissen, gutgekleidete Damen und Herren wie in einer Prozession an ihnen vorbei, auf dem Weg zu ihrem Festessen, und musterten sie argwöhnisch.

Ich komm mir vor wie die heilige Familie“, sagte Sadiq mit vollem Mund und grinste.
„So was Ähnliches habe ich auch grad gedacht“, sagte Katja. Dann mussten sie lachen. 

Er hat inzwischen die Carl-Hurtzig-Straße erreicht. Ein Fußweg führt an den Räumen des Nachbarschaftstreffs vorbei, über die stillgelegten Gleise und weiter in die Robinsbalje. Hier umgeben ihn hohe Wohnblöcke, von denen manche heruntergekommener aussehen als andere. Am Rand der Straße stapelt sich ein Haufen alter Möbel, die offensichtlich jemand loswerden will. Ein weißes Plastikband mit orangem Aufdruck ist darüber gespannt worden, auf dem zu lesen ist: „Wir ermitteln – Die Bremer Stadtreinigung“. Sadiq muss lächeln.

Er bleibt stehen, dreht sich um die eigene Achse und nimmt alles in sich auf: die hohen Fassaden, die dunklen Hauseingänge, die grell-blinkende Weihnachts-Deko an den Fenstern. Und er denkt sich: Hier wohnt auch die eine oder andere heilige Familie. Und wahrscheinlich sind es mehr, als man ahnt.
Dann geht er wieder zu den Gleisen und macht sich einen Spaß daraus, auf ihnen durch die Dunkelheit nach Hause zu wandern, unter der B 75 hindurch und vorbei an ThyssenKrupp. In der Nähe des Haßkamps findet er eine Lücke im Zaun und kehrt zurück zu den anderen, zurück in den Festtagswahnsinn.

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