Passer au contenu principal

Das letzte Bild

Über Strickpullover im Ausverkauf, den Point of no Returne und das Sterben

von Katharina Burkhardt

An einem sonnigen Mittwoch im Januar 2000 ging ich mit einer Freundin in der Hamburger City shoppen. Wir hatten zusammen in Lüneburg studiert, sie wohnte immer noch dort, während ich mittlerweile nach Hamburg gezogen war, wo ich auch arbeitete. Unser Kontakt war nicht sonderlich eng, warum wir ausgerechnet gemeinsam durch die Kaufhäuser bummelten, weiß ich nicht mehr. Warum wir das mitten am Tag taten, auch nicht. Ich hatte offenbar Urlaub oder frei, keine Ahnung. Aber ich erinnere mich genau daran, dass bei Peek & Cloppenburg alle Pullover reduziert waren und ich zwei Strickpullover kaufte, einen weißen und einen roten. Den roten besaß ich recht lange, ich sortierte ihn erst vor wenigen Jahren aus. Seltsam, was für Nebensächlichkeiten uns manchmal im Gedächtnis haften bleiben, während wir uns an die wichtigen Dinge nicht mehr erinnern.

Einige Tage vor dieser Shoppingtour rief meine Mutter mich an. Ich weiß nicht mehr, wann das war. Fünf Tage vorher? Zehn? Ich weiß auch nicht, was für ein Wochentag war und welche Uhrzeit. In meiner Erinnerung war es draußen hell, also fand das Gespräch wohl nicht abends statt. Die Stimme meiner Mutter klang lebhaft wie immer, nicht ängstlich oder gar verzweifelt. »Die Ärzte können nichts mehr für mich tun. Mein Weg ist zu Ende.« Ich weiß nicht, was ich geantwortet habe. So was völlig Banales wie »Ach, Mama« vermutlich. Ach, Mama, das ist aber schade, dass du jetzt stirbst. Du bist doch noch viel zu jung dafür, und ich auch. Es war absolut surreal, mein Gehirn weigerte sich, zu begreifen, was die Worte meiner Mutter bedeuteten.

Nach diesem Gespräch lebte ich einfach weiter, als hätte es nie stattgefunden. Ich ging zur Arbeit, verbrachte Zeit mit meinem Freund, vielleicht fuhr ich zum Reiten, ich weiß es nicht mehr. Ich weiß auch nicht, ob ich mit meinen Geschwistern oder Freunden darüber sprach. Tage- oder wochenlang lebte ich in einer Blase, in der ich alles Gefühl für Zeit verlor und alle Erinnerungen verschwanden.

Einmal besuchten mich meine Eltern. Wie viele Tage nach dem Telefonat war das? Zwei? Oder zehn? Ich bilde mir ein, es war ein Sonntag, aber das denke ich vielleicht nur, weil ich den Küchentisch hübsch gedeckt hatte, mit einer Tischdecke und den guten Servietten. Meine Mutter lief durch die Wohnung. »Die Vorhänge hättest du ja mal bügeln können.« Sie war ganz meine Mama, wie immer. Ich nickte leicht genervt, wie immer. Nach dem Kaffeetrinken gingen wir spazieren, ein paar Schritte durchs Viertel, vorbei an Siedlungshäusern mit alten Gärten.

Von diesem Besuch meiner Eltern gibt es Fotos. Meine Mutter hält einen Kaffeebecher in der Hand, sie blickt müde aus wimpernlosen Augen unter der Perücke. Mein Vater hat Kuchen mit Schlagsahne auf dem Teller. Auch er sieht erschöpft aus, verbreitet aber tapfer lächelnd Optimismus. Ein anderes Foto zeigt meine Eltern Arm in Arm vor der Haustür. Sie verschwinden beide fast in ihren viel zu großen Mänteln. Mein Vater trägt wie immer seine Baskenmütze, meine Mutter einen Wollhut, der farblich zu ihrem Schal passt. Das ist das letzte gemeinsame Foto, das es von meinen Eltern gibt.

Einige Tage (wie viele?) später kaufte ich die beiden Strickpullover. Ich erinnere mich daran, dass ich meiner Freundin erzählte, meiner Mutter gehe es sehr schlecht. Ich sagte nicht: »Sie wird in den nächsten Tagen sterben«, weil das für mich so unvorstellbar war, dass ich gar nicht daran dachte. Nach der Shoppingtour fuhr ich zu meinen Eltern. Sie lebten seit zwei Monaten in einer kleinen Wohnung in einer Seniorenresidenz, einem Ort, für den sie viel zu jung waren, gleichzeitig aber auch viel zu krank. Damals gab es noch keine Hospize oder Palliativstationen, jedenfalls wussten wir lediglich von einem Hospiz, das hauptsächlich homosexuellen Aidspatienten vorbehalten war.

Ich setzte mich zu meinen Eltern an den Tisch, meine Mutter erzählte, dass sie ein interessantes Gespräch mit einer anderen Bewohnerin der Residenz geführt habe. Sie besaß die Gabe, mit großer Neugier auf fremde Menschen zuzugehen und überall sofort Kontakte zu knüpfen. Sie fragte nach den Dingen, die mich bewegten. Ich war verlegen, als ich von meinem Freund erzählte, den ich noch nicht lange kannte. Sie hörte aufmerksam zu. Sie war so präsent, so wach, als hätten wir noch alle Zeit der Welt miteinander. Später setzte sie sich eine Weile ans Klavier. Sie spielte nicht gut, hatte es viele Jahre kaum getan, aber es machte ihr Spaß. Es schien, als habe meine Mutter sich in ihrem neuen Zuhause eingerichtet und vor, dort die nächsten zwanzig Jahre zu verbringen.

»Für den Fall, dass mal was sein sollte, wäre es gut, wenn du alle Adressen von Leuten aufschreiben würdest, die wir informieren sollen«, sagte ich zu ihr. Ich tat ebenfalls so, als würde sie noch zwanzig Jahre leben. Das mit den Adressen war ja nur für den Fall, dass iiiirgendwann mal, eventuell, vielleicht.

Als ich ging, blieben meine Eltern im Flur stehen, ein Stück von der Tür entfernt. »Mal sehen, wie lange es noch mit mir geht«, sagte meine Mutter. Sie winkte mir nach, es war eine beinahe kindliche Geste. Das war das letzte Mal, dass sie mich verabschiedete.

Was ich auf dem Heimweg dachte und fühlte, weiß ich nicht mehr. Ich glaube, es war nicht so, dass ich verzweifelt war, dass ich ein Gespür dafür hatte, was geschehen war oder noch geschehen würde. Den nächsten Tag verbrachte ich mit Wäschewaschen und Einkaufen. Es war ein Tag wie jeder andere. Nachmittags rief mein Vater an, ich hockte gerade über einem Ordner mit Rechnungen auf dem Sofa. Er sagte, es gehe meiner Mutter sehr schlecht und es sei gut, wenn ich käme. Er rief sonst nie an, nur im Notfall. Aber ich blieb gelassen. Es hatte hunderte Notfälle in den vergangenen zwei Jahren gegeben.

Und doch wusste ich, ohne es mir bewusst zu machen, was sein Anruf bedeutete. Aber statt hysterisch zu werden, machte ich noch meinen Abwasch, als wüsste ich, dass ich so schnell nicht mehr dazu kommen würde. Ich trug einen eng anliegenden Strickpullover in fließenden Braun- und Gelbtönen, daran erinnere ich mich genau. Und ich legte die Kette um, die meine Mutter mir geschenkt hatte.

Dann packte ich ein paar Dinge in meinen blauen Bree-Rucksack und ging zur S-Bahn. In der Bahn las ich in dem Buch Paula von Isabelle Allende, in dem die Autorin den Tod ihrer Tocher verarbeitet. Ich las es nie zu Ende. Der Rucksack wurde bald darauf aus dem Auto meines Freundes gestohlen, darin war nicht nur mein Portemonnaie mit allen Papieren, sondern auch jenes Buch. Ein paarmal überlegte ich, es neu zu kaufen, aber ich schaffte es nicht. Ich habe es bis heute nicht fertig gelesen.

Meine Mutter lag auf der Seite im Bett, eine Wolldecke über den Füßen. Sie spürte, dass ich kam, aber sie konnte nicht mehr sprechen. Ich hörte sie stöhnen, als wollte sie mich begrüßen. Ihre Haut war feucht und heiß, ihr Atem ging flach. Mein Vater, der Arzt, wirkte verwirrt und orientierungslos. Er wusste vermutlich viel genauer als ich, was uns bevorstand, konnte es gleichzeitig aber noch weniger begreifen.
»Brauchst du etwas?«, fragte ich meine Mutter.
»Übelkeit«, nuschelte sie.
In Filmen sagen die Leute große bedeutende Worte, bevor sie die Augen für immer schließen. Das letzte Wort meiner Mutter war Übelkeit. Man kann da vieles hinein interpretieren und in einem Hollywoodfilm wäre das vermutlich ein symbolträchtiges Schlusswort gewesen, das den überlebenden Helden und den ganzen Kinosaal zu Tränen rührte. Im Fall meiner Mutter bedeutete es einfach: Scheiße, ich fühle mich echt schlecht. Die Ärzte hatten es während ihrer gesamten Krankenzeit nicht geschafft, ihre Medikation so einzustellen, dass sie keine Schmerzen und keine Nebenwirkungen hatte. Ständig war ihr entweder schlecht oder sie litt unter starken Schmerzen, manchmal auch beides. Das war schwer zu ertragen – nicht nur für sie.

Ich gab ihr eine Tablette gegen die Übelkeit, aber sie schaffte es nicht mehr, sie zu schlucken. Eine Pflegerin kam, nahm mich beiseite und erklärte mir, dass meine Mutter die Nacht nicht überleben werde. Ich reagierte darauf, als hätte sie gesagt, dass es zum Essen Rouladen gäbe. Mit einer geradezu unheimlichen Ruhe.
»Wir möchten nur, dass sie keine Schmerzen hat«, sagte ich.
Die Pflegerin gab ihr eine Morphiumspritze, mein Vater und ich standen daneben. Noch während sie sich über meine Mutter beugte, sagte sie wenig taktvoll: »Das hätten wir uns sparen können.«

Ich begriff nicht sofort, was sie meinte. Erst als mein Vater entsetzt den Namen meiner Mutter rief und hektisch das Zimmer verließ, um sein Stethoskop zu holen, verstand ich. Sie hatte sich mitten im Trubel still und leise verabschiedet, als hätte sie keine Lust mehr auf weitere Spritzen, weitere Qualen gehabt, als sei sie den ganzen Zirkus um ihren geschundenen Körper endgültig leid gewesen.

Mein Vater hielt ihr das Stethoskop an die Brust, fühlte ihren Puls, holte von irgendwoher einen Taschenspiegel hervor, um noch einmal zu prüfen, ob da nicht doch noch ein Hauch von Atem war.
Über das Bett hinweg griff ich nach seiner Hand. »Papa, sie hat es geschafft.«
Er sah mich groß an. »Ja«, sagte er. »Sie hat es geschafft.«

Meine Mutter erhielt die Diagnose Plasmozytom an ihrem fünfundsechzigsten Geburtstag. Das war der 23. März 1998. Vorausgegangen waren etliche Monate der Ratlosigkeit und Fehldiagnosen. Niemand wusste recht, woher ihre starken Rückenschmerzen und das veränderte Blutbild kamen. Statt eine Party zu feiern, trugen wir an ihrem Geburtstag einen Korb mit Geschenken und Luftballons ins Krankenhaus. Die Ärzte gaben sich optimistisch. »Die Krankheit ist nicht heilbar, aber man kann damit gut viele Jahre leben.«

Viele Jahre – also bis sie richtig alt war. Bis es offiziell Zeit zum Sterben war. Da musste man sich nicht verrückt machen. Wir zwangen uns zu guter Laune und Fröhlichkeit. »Hey, es ist dein fünfundsechzigster Geburtstag! Mögen noch viele weitere Geburtstage folgen.«

Andererseits stand das Wort Krebs im Raum. Es bereitete mir Magenschmerzen und schlaflose Nächte. Die Diagnose Krebs war nicht gut, niemals. So was ging doch selten gut aus. Meine Mutter war das Herz unserer Familie, die Seele, die alles zusammenhielt, meine Zuflucht in schwierigen Zeiten. Unverstellbar, dass sie nicht mehr da sein könnte.

Tagsüber verdrängte ich die Angst. Ich ging arbeiten, traf Freunde, machte Sport, verreiste und war mit einer unglücklichen Liebe befasst. Ich lebte mein Leben, wie es sich für eine Dreißigjährige gehörte. Meine Geschwister und ich waren alle gerade dabei, uns etwas aufzubauen, beruflich und privat. Meine Schwester hatte geheiratet und das erste Kind bekommen, mein jüngerer Bruder schrieb an seiner Doktorarbeit, der ältere machte sich selbstständig, ich hatte den ersten festen Job nach dem Studium. Wir lebten längst nicht mehr zu Hause, und doch war unser Elternhaus ein wichtiger Bezugspunkt, wir verbrachten unsere Wochenenden und Ferien dort und feierten alle zusammen Weihnachten.

Und obwohl wir einfach weitermachten und unser Leben lebten, änderte sich doch vieles. Die Krankheit meiner Mutter beherrschte unterbewusst unser Denken und Fühlen. Ich entwickelte eine hartnäckige Schlaflosigkeit, manchmal war ich nachts stundenlang wach. Wenn ich zu unruhig war, lief ich in dem langen Flur der Lüneburger Altbauwohnung auf und ab, in der ich in einer WG lebte. Meine Ängste konnte ich nicht in Worte fassen, ich schrieb oft Tagebuch, befasste mich darin aber mit völlig anderen Themen.

Das Jahr verging, ein weiteres folgte, die Krankheit meiner Mutter verlief in Wellen, mal ging es ihr besser, mal schlechter. Sie gab sich nach außen stark und optimistisch, lebte ihr Leben buchstäblich bis zum letzten Atemzug intensiv und voller Neugier. Im Sommer zog ich von Lüneburg nach Hamburg – meine erste eigene Wohnung! Ich richtete mich ein und genoss mein Leben in der Großstadt. Eine neue Liebe gab es auch. Vieles war richtig toll.

Als ich meine Mutter im Krankenhaus besuchte, erzählte sie mir einmal, dass sie sich Sorgen um meinen Vater mache. Er habe plötzlich für einen kurzen Moment das Bewusstsein verloren, während er sie besuchte. Es war August, das Wetter drückend schwül. Wir schoben es darauf und auf die Sorgen, die er sich um meine Mutter machte.

Anfang September erhielt ich im Büro einen Anruf aus einem Krankenhaus. Meine Eltern hätten einen Autounfall gehabt, meiner Mutter gehe es gut, aber meinen Vater müsse man zur Beobachtung dabehalten. Er war am Steuer ohnmächtig geworden und auf schnurgerader Straße gegen einen Baum gefahren. Bei den Untersuchungen entdeckten die Ärzte, dass er einen bösartigen Hirntumor hatte.

Dieser Tag war der Point of no Returne – ab hier war klar, dass nichts mehr gut werden würde. Mit dem Taxi fuhr ich mit meiner Mutter in die Klinik, um meinen Vater abzuholen. Vor dem Eingang wich sie, die ihr Leben lang furchtlos und mutig vorangegangen war, zurück. »Ich schaffe das nicht. Ich kann da nicht mit reingehen.« Also ging ich allein.

Mein Vater saß in einem Rollstuhl, eine Decke um die Schultern geschlungen, wie der gefallene Held einer griechischen Tragödie. Ich brachte ihn und meine Mutter nach Hause, und plötzlich war ich nicht mehr das Kind, die Tochter, sondern die Erwachsene, die ihre hilflosen Eltern an die Hand nahm.

Eine Bekannte sagte damals: »Warum durften sie bei dem Unfall nicht einfach beide sterben?« Rückblickend wären ihnen damit tatsächlich quälende Monate voller Leid erspart geblieben. Doch sie hätten auch ihr zweites Enkelkind nicht mehr kennengelernt, das bald darauf zur Welt kam. Sie hätten ihr letztes gemeinsames Weihnachts- und Silvesterfest nicht mehr erlebt. Sie hätten sich nicht verabschiedet.

Mein Vater wurde operiert, ich besuchte ihn auf der Intensivstation. Der Anblick von Hirnoperierten ist nicht schön, sie sehen ein bisschen aus wie Aliens, mit geschwollenem, teilweise rasiertem Schädel und riesigen Narben. Fortan pendelte ich zwischen zwei Krankenhäusern – in einem lag meine Mutter, im anderen mein Vater. Ein Freund meiner Eltern, der auch Arzt war, machte mir klar, dass sie keine Zukunft hatten. »Sie werden beide sterben, deine Mutter schon sehr bald.« Ich war dankbar, dass er das so deutlich sagte, damit konnte ich besser leben als mit der Ungewissheit. Doch niemand konnte wissen, wann der Tag x wirklich da sein würde. Also schob ich konkrete Gedanken daran beiseite. Viel Zeit zum Grübeln hatte ich ohnehin nicht.

Meine Geschwister lebten zum Teil weit weg, ich war die Einzige vor Ort und zerriss mich fast zwischen Besuchen, Bergen von Papierkram, den ich für meine Eltern erledigen musste, und meinem eigenen Leben, das gerade auch sehr spannend und intensiv war. Keine Ahnung, wie ich das schaffte, vielleicht, weil ich noch jung war, vielleicht auch, weil einem in solchen Ausnahmesituationen Kräfte zufliegen und man über sich hinauswächst.

Es war klar, dass meine Eltern nicht mehr in ihrem großen Haus wohnen konnten. Sie brauchten mehr Unterstützung, vor allem in Hinblick auf die Zeit, in der mein Vater allein sein würde. Es war eine glückliche Fügung, dass in einer Seniorenresidenz eine Wohnung frei wurde, in die sie ohne Wartezeit ziehen konnten. Das war nicht ideal, aber besser als das Haus mit den vielen Treppen. Wir begannen zu packen und auszusortieren. Meine Mutter saß auf dem Bett und wies meine Schwester und mich an, was wir einpacken sollten. »Die Bettwäsche kommt mit, die Decken da hinten nicht, die braucht kein Mensch mehr.« Nüchtern und pragmatisch regelte sie ihre Dinge. Anders mein Vater. Er, der seine Gefühle immer kontrolliert hatte, der schwierige Situationen mit Disziplin meisterte, saß völlig aufgelöst in seinem Arbeitszimmer zwischen den vielen Büchern, von denen er sich nicht trennen konnte. »Das ist ja, als wäre man schon tot.«

An einem Tag im November verließen sie ihr Haus, um sich auf ihre letzte Etappe zu begeben. Es dämmerte bereits, als meine Mutter mich bat, sie in den Garten zu begleiten. Sie war während ihrer Krankheit schmal und klein geworden, ich spürte ihre mageren Finger fest in meiner Hand. Sie schaute noch einmal in jede Ecke, selbst auf den Kompost. Wir verweilten kurz an den Gräbern unseres Hundes und der Schildkröte. Ich weiß nicht mehr, was wir miteinander sprachen, vielleicht schwiegen wir die ganze Zeit, obwohl das ungewöhnlich für meine Mutter gewesen wäre. Ich weiß nur, dass da eine eigenartige Ruhe war, ein Frieden, der sich zwischen uns ausbreitete, während meine Mutter sich von ihrem Leben verabschiedete.

Weihnachten feierten wir alle zusammen in ihrer neuen Wohnung. Meine Schwester hatte mittlerweile zwei Kinder, meine Mutter freute sich über das winzige Baby, aber sie hatte keine Kraft mehr, es auf den Arm zu nehmen. Sie saß oft in ihrem Sessel, mit einem abwesenden Blick, als sei sie schon nicht mehr ganz da.

Den Jahrtausendwechsel verbrachte ich auf einer Party in einem Lüneburger Lokal. Meine Eltern feierten in ihrem neuen Zuhause. Silvester hatten sie, solange ich mich zurückerinnere, immer besinnlich verbracht, in stiller Rückschau und Dankbarkeit, oft mit einem Gang in die Kirche, nie mit Gästen. An diesem Abend feierten sie in großer Runde mit all den anderen Residenzbewohnern und Mitarbeitern. Sie lachten und tanzten und vergnügten sich, als gäbe es kein Morgen.

»Mein Vater hat sich oft gefragt, wie das Leben wohl sein wird, wenn wir das Jahr 2000 erreichen«, erzählte meine Mutter manchmal. »Er war neugierig auf die Zukunft.« Das hatte er mit seiner Tochter gemeinsam. Auch sie war neugierig auf alles, was da kommen würde, ein Leben lang. Vom neuen Jahrtausend erlebte sie nur wenige Wochen. Sie starb am 27. Januar 2000 mit sechsundsechzig Jahren.

Unmittelbar nach ihrem Sterben ging ich ins Wohnzimmer, um meine Schwester anzurufen. Auf dem Tisch lagen mehrere Papiere, vollgeschrieben mit der Handschrift meiner Mutter. Sie hatte in ihren letzten Lebensstunden alle Menschen und deren Adressen aufgeschrieben, die wir benachrichtigen sollten. Wie ich es ihr am Tag zuvor geraten hatte. Es waren viele Namen, und viele Leute kamen zu ihrer Beerdigung. Meine Mutter war eine beliebte Frau gewesen, ihre herzliche und engagierte Art kam gut an, sie hatte sich für andere Menschen und die Umwelt eingesetzt und hinterließ nicht nur in unserer Familie eine riesige Lücke. Doch das sind viele andere Geschichten.

Hat dir diese Geschichte gefallen? Dann erzähl es bitte weiter. Bestimmt haben andere Menschen genauso viel Freude beim Lesen wie du.

Einladung: Folge mir auf meinen anderen Kanälen. Auf Facebook (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), Thread (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)s und meiner Website (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) erzähle ich andere Geschichten und von meiner Arbeit. Auf Instagram (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) poste ich schöne Dinge aus Garten, Wald und Küche.

Du hast diesen Newsletter noch nicht abonniert? Hier kannst du das nachholen. Jeden Monat flattert kostenlos eine Geschichte in dein Postfach.

Ist dir diese Geschichte ein Kännchen Tee wert? Ich freue mich riesig, wenn du meine Arbeit an 50 schöne Dinge mit einer Mitgliedschaft unterstützt.