Haus Gottes
Über Handrasenmäher, das Land außerhalb und ein Haus voller Kunst
von Katharina Burkhardt
Neulich ging ich an einer frisch gemähten Wiese vorbei und als mir der Geruch des geschnittenen Grases in die Nase stieg, sah ich schlagartig den sommerlichen Garten meiner Kindertage vor mir, wie ich barfuß durchs feuchte Gras laufe, Kränze aus Gänseblümchen und Löwenzahn winde, mich in einer geheimen Ecke zwischen den Johannisbeersträuchern verstecke, wo das Gras weich und besonders grün ist, und ich das Gefühl habe, der Garten sei mindestens so riesig wie das Weltall.
Ich sehe meinen Vater, der ein kurzärmeliges Hemd und eine ausgebeulte Cordhose trägt und sich mit dem Handrasenmäher durch das hohe Gras kämpft. Die Rasenfläche war groß und uneben, teils lag sie an einem Hang. Heute ist mir klar, dass das eine echte Strafarbeit war und jeden Gang ins Fitness-Studio ersetzte. Ich glaube, es vergingen Jahre, bis meine Eltern auf die Idee kamen, einen Benzinrasenmäher mit Fangkorb zu kaufen. Der machte einen Höllenlärm und stank fürchterlich, aber das störte niemanden.
Überhaupt konnten wir in diesem kleinen Paradies tun und lassen, was wir wollten. Niemand regte sich jemals auf, wenn wir Lärm machten oder wenn der Garten mal wieder etwas verwildert aussah. Unsere einzigen direkten Nachbarn hatten sechs Kinder und lebten in einem riesigen Haus, das von einem weitläufigen Grundstück umgeben war, das auch nicht gerade wie ein englischer Park aussah. Unser Haus war klein, viel zu klein genau genommen für eine sechsköpfige Familie. Das hatte zur Folge, dass wir ständig umräumten, in der Hoffnung, damit mehr Raum zu schaffen. Wir bauten Bodenkammern zu Kinderzimmern aus, die eng und schmal waren, unter den Dachschrägen konnte man nicht aufrecht stehen. Aber so schufen wir wenigstens ein bisschen Platz und Privatsphäre für alle. Umziehen war schwierig, es fehlte in unserem Ort an passendem Wohnraum. Außerhalb des Ortes zu leben, war vom Arbeitgeber meines Vaters nicht erwünscht. Unser Paradies besaß unsichtbare Mauern, wir waren darin gefangen.
Wir zogen 1970 nach Bielefeld, als ich zwei Jahre alt war. Dort lebten wir im Stadtteil Bethel, wo mein Vater eine Stelle als Assistenzarzt antrat. Bethel stammt aus dem Hebräischen (bet-el) und heißt übersetzt »Haus Gottes«. Alles begann mit einem Pflegehaus für anfallskranke Menschen, das 1867 errichtet wurde. Heute ist die Stiftung Bethel der größte Arbeitgeber in Bielefeld und das größte diakonische Unternehmen Europas, in dem an mehreren Standorten Menschen mit unterschiedlichsten Beeinträchtigungen therapiert werden und leben und arbeiten.
In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts war Bethel ein Reich für sich, ein Land außerhalb, in dem andere Regeln galten als im Rest der Welt. Das Ortsschild wies darauf hin, dass man nun Anstaltsgebiet betrat. Von Bodelschwinghsche Anstalten lautete damals der offizielle Name, benannt nach Friedrich von Bodelschwingh, der als Leiter die Anstalt im 19. Jahrhundert prägte und dafür sorgte, dass sie schnell wuchs. Im Dienst der Nächstenliebe wurden hier Menschen betreut und gepflegt, die durch das gesellschaftliche Raster fielen. Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen, allen voran Epileptiker, aber auch Obdachlose und schwer erziehbare Jugendliche. Gerade die Jugenderziehung wird heute kritisch aufgearbeitet, wer mehr dazu erfahren möchte, wird zum Beispiel unter dem Stichwort »Freistatt« fündig. Der gleichnamige Spielfilm aus dem Jahr 2015 zeigt sehr realitätsnah, wie brutal mit Jugendlichen umgegangen wurde, die in Heimen untergebracht waren, die zu Bethel gehörten. Sie wurden körperlich und seelisch schwer misshandelt, von Nächstenliebe und Barmherzigkeit keine Spur. Erst Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts fand ein langsames Umdenken statt.
Doch auch für die Mitarbeitenden war der Dienst am Menschen nicht leicht. Diakone, die in Bethel ausgebildet wurden, mussten lange Zeit die Anstaltsleitung um Erlaubnis fragen, wenn sie heiraten wollten. Diakonissen durften gar nicht heiraten, sie lebten wie Nonnen in einem Mutterhaus, trugen eine graue Tracht und dienten ihr Leben lang der Gemeinschaft. Sie waren billige und willige Arbeitskräfte, die Schwerstkranke rund um die Uhr pflegten und betreuten.
Auch alle anderen Mitarbeitenden wie Ärzte, Pastoren und Handwerker, lebten in Wohnungen und Häusern direkt auf dem Anstaltsgebiet. Eine Trennung von Beruflichem und Privatem gab es kaum, wir trafen die Patienten meines Vaters auf der Straße, beim Einkaufen, bei den zahlreichen Festen – und manchmal standen sie auch einfach abends oder am Wochenende vor unserer Tür. Im Dienst der Kirche opferten die Mitarbeitenden sich für andere auf bis zum buchstäblichen Zusammenbruch. Nie wieder lernte ich so viele Familien kennen, in denen mindestens ein Familienmitglied unter Depressionen oder anderen psychischen Erkrankungen litt.
Für mich war Bethel vor allem Heimat, ich wuchs dort behütet auf, um nicht zu sagen weltfremd. Dass alles anders als anderswo war, fand ich manchmal aufregend, manchmal lustig, als ich älter wurde, auch ein bisschen nervig. Aber ich mochte es, wenn die Menschen fast ehrfürchtig sagten: »Oh, du wohnst in Bethel. Das ist aber etwas Besonderes.« Dann fühlte ich mich selbst auch besonders.
Bethel galt oft als Modell für medizinische und therapeutische Konzepte und als die kirchliche Vorzeigeeinrichtung schlechthin. Regelmäßig wurden ganze Busladungen Neugieriger aus der gesamten Bundesrepublik und sogar aus dem Ausland angekarrt und durch den Ort geführt. Hin und wieder sprachen uns auf der Straße ältere Damen an, die glaubten, wir seien auch Patienten, wie damals alle pflegebedürftigen Bethelbewohner genannt wurden. Wenn sie fragten, ob wir uns wohlfühlten und uns das Essen schmecke, schielten wir manchmal und zuckten mit den Gliedern, wie wir es bei Spastikern gesehen hatten.
In der Epilepsieforschung waren die Betheler Kliniken damals weltweit führend. Epileptiker, die man an ihren Lederhelmen erkannte, gehörten zum Alltagsbild. Ich sah als Kind einige von ihnen auf der Straße fallen, in krampfhaften Zuckungen, und ich erschrak jedes Mal darüber. Es gab aber nicht nur erschreckende oder verstörende Anblicke. Viele der Patienten waren einfach nur liebenswert. Da war zum Beispiel Ernst, der bei jedem Festumzug voranging und den Dirigentenstab schwang. Er trug immer, auch wenn keine Feste stattfanden, eine Uniform mit zahlreichen Abzeichen und eine Pickelhaube. Oder Heidelinde, die wallende Gewänder und ausladende Hüte trug und immer strahlte, als sei heute der schönste Tag auf der ganzen Welt. Oder der Läufer, der im Anzug die Straßen entlangrannte, als habe er einen wichtigen Termin verpasst. Wir lernten früh, dass Anderssein normal ist, dass jeder Mensch mit Respekt behandelt werden sollte.
Wenn wir verreisten, nahm mein Vater einen Diakasten mit und hielt an den Urlaubsorten Lichtbildvorträge über Bethel. Wir saßen stolz daneben. Bethel, das waren wir, alle anderen hatten ja keine Ahnung. Immerhin hatten wir eine eigene Währung, das sogenannte Bethel-Geld. Das waren streng genommen Warengutscheine, mit denen wir in Geschäften und Handwerksbetrieben innerhalb Bethels einkaufen konnten. Der Kurswechsel war günstig, wie meine Mutter gern betonte, die regelmäßig auf der Sparkasse D-Mark in Bethel-Geld tauschte. Wir hatten auch eine eigene Post, die Botenmeisterei. Wenn man dort Briefe abgab und sie mit dem Vermerk D.B. versah (»Durch Botenmeisterei«), wurden sie innerhalb von Bethel kostenlos ausgetragen, und zwar gefühlt zu jeder Tageszeit, auch sonntags. Und wir hatten eine eigene Telefonzentrale mit eigener Vorwahl, die man zur Bielefelder Vorwahl hinzufügen musste. Innerhalb von Bethel waren sämtliche Telefonate kostenlos – zur großen Freude von uns Kindern. Ich verbrachte Stunden im ungeheizten Schlafzimmer meiner Eltern, um ungestört mit meinen Freundinnen zu telefonieren. Als Arzt besaß mein Vater zwei Telefonanschlüsse, wenn auch nur einen Apparat. Den konnte man wahlweise im Arbeitszimmer (das später Schlafzimmer wurde) oder im Esszimmer (das später Arbeitszimmer wurde) anschließen. Und da hockte ich dann in eisiger Kälte auf dem Bett, spielte mit dem gedrillten Telefonkabel, starrte auf die Wählscheibe und tauschte mit meiner Freundin den neusten Klatsch und Tratsch aus.
Bevor wir in das Haus mit dem großen Garten zogen, wohnten wir ein paar Jahre in einem neu gebauten Mehrfamilienhaus. Gegenüber befand sich das Künstlerhaus Lydda. Damals lebte dort die Familie Pöschel. Werner und Gerhild Pöschel hatten das Haus in den sechziger Jahren vor dem Abriss bewahrt und in viel Eigenleistung zu einem Wohnhaus mit Werkstatt umgebaut, wobei sie bemüht waren, alles Alte zu bewahren. Im Laufe der Zeit entwickelte sich dieses Haus zu einem Gesamtkunstwerk, das auch dann einen Besuch wert war, wenn gerade keine Ausstellung lief. Ich habe den Geruch des Holzes noch in der Nase und höre die Dielen knarzen, ich spüre die andächtige Atmosphäre in den Ausstellungsräumen und der Werkstatt und sehe mich fasziniert die zahlreichen Kunstobjekte bestaunen, die in allen Ecken des Hauses standen. Ich liebte die Holztüren mit den verschnörkelten Türstürzen, die alten Möbel und den freien, kreativen Geist, der durch das Haus zu wehen schien.
Werner Pöschel war Diakon und Grafiker und unter dem Namen Petit Frère (kleiner Bruder, in Anspielung auf seine Körpergröße) künstlerisch tätig. In Haus Lydda arbeitete er nicht nur selbst kreativ, er gab auch behinderten Menschen den Raum, schöpferisch tätig zu werden. Das brachte ihm viel Anerkennung, zuletzt erhielt er für seine Leistungen das Bundesverdienstkreuz. Er stammte aus Sachsen, wie mein Vater. Vielleicht hatten die beiden deshalb von Anfang an einen Draht zueinander. Sie verband eine Art Freundschaft, obwohl sie sich nie duzten. Vielmehr nannten sie einander Bruder, wie Diakone damals angesprochen wurden. Mein Vater war kein Diakon, sondern Arzt und Pastor, aber Bruder Pöschel überging diese Titel einfach und nannte ihn Bruder Burkhardt. Vor dem Herrn waren alle gleich.
Die Kinder der Pöschels waren älter als wir, die Jüngste ging mit meinem ältesten Bruder in eine Klasse. Dennoch hatten wir eine Zeitlang viel Kontakt, als meine Eltern einmal zu einer Beerdigung reisen mussten, blieb ich ein paar Tage bei Pöschels und teilte das Zimmer mit ihrer Tochter, die denselben Vornamen trägt wie ich. Ich lernte damals gerade Lesen und Schreiben und Frau Pöschel übte mit mir so schwierige Wörter wie Lokomotive. In der Weihnachtszeit gestaltete Werner Pöschel mit uns Kindern Postkarten und ließ uns Tischdeckchen bedrucken, die von den Patienten gewebt worden waren. Eins dieser Deckchen besitze ich immer noch.
Zu meiner Konfirmation schenkte er mir eine Lithografie, die ein Segelschiff zeigt, das sich durch hohe Wellen kämpft. Auf der Rückseite hat er eine Widmung für mich geschrieben. Ich hätte hier gern ein Foto davon gepostet, aber ich finde das Bild nicht wieder. Ich bin mir sicher, dass es mit umgezogen ist und irgendwann an einer sehr seltsamen Stelle wieder auftauchen wird. Ich habe viel weggeworfen, aber garantiert nicht dieses Bild. Überhaupt verbrachte ich reichlich Zeit mit Suchen, als ich diesen Text schrieb. Ich suchte vergeblich einen alten Text über das Haus Lydda, den ich vor etlichen Jahren verfasste, und der mir viel treffender zu sein scheint, weil ich damals noch näher an allem dran war. Und ich suchte ebenfalls vergeblich die Abschrift einer Rede, die mein Vater zum 65. Geburtstag von Werner Pöschel hielt. Gefunden habe ich nur einige Fotos und unendlich viele Erinnerungen in meinem Kopf, über Haus Lydda, über unser eigenes Haus, über Bethel, meine Familie, meine Freunde, meine ganze Kindheit.
Als wir aus Bethel fortzogen, war ich siebzehn. Der Abschied fiel mir schwer, ich mochte meine Freunde und mein Zuhause nicht loslassen. Erst Jahre später begriff ich, wie eng das Leben in Bethel gewesen war, wie stark der Druck der Gemeinschaft und die Verpflichtung des ewigen Dienens vor allem auf den Erwachsenen lasteten. Meine Eltern hatten in Bethel kaum echte Freundschaften geknüpft und luden selten Leute nach Hause ein. Das fiel mir erst auf, als meine Mutter in Hamburg plötzlich Geburtstagspartys schmiss und sich mit anderen Frauen zum Kaffeeklatsch verabredete.
Haus Lydda steht noch und wird weiterhin als Künstlerhaus betrieben, ganz in Werner Pöschels Sinn. Er selbst spürte nach vierzig Dienstjahren in Bethel die brutale Härte eines Verwaltungsapparats, der über den Bedürfnissen einzelner Menschen steht. Alle Mitarbeiter mussten die Wohnungen und Häuser verlassen, sobald das Dienstverhältnis mit Bethel endete. Das galt auch für Pöschels, deren Leben und Wirken untrennbar mit ihrem Haus verbunden war, das ohne ihre Initiative längst nicht mehr stehen würde. Als Werner Pöschel in den Ruhestand ging, wurde er regelrecht genötigt, alles aufzugeben, was sein Leben ausmachte. Er zerbrach daran und starb 2002 nach langer schwerer Krankheit in seinem Altersruhesitz.
Einige Jahre nach seinem Tod fand eine Werkschau seiner künstlerischen Arbeiten statt, zu der ich eingeladen wurde, meine Eltern lebten da beide auch schon nicht mehr. Noch einmal traf ich seine Frau und seine Kinder und schwelgte in Erinnerungen. Auch nach dieser Veranstaltung reiste ich immer mal wieder nach Bethel und registrierte all die Veränderungen. Viele der alten Häuser stehen mittlerweile nicht mehr, die Instandhaltung ist dem Wirtschaftsunternehmen Bethel zu teuer, die Mitarbeiter leben längst anderswo. Der Rückzug ins Private ist auch in Bethel wichtig geworden. Heute möchte sich niemand mehr dienend aufopfern.
Manchmal stand ich bei meinen Besuchen am Gartentor und schaute zu den alten Bäumen, auf denen wir als Kinder herumkletterten. Ich hörte uns lachen und spielen, herumtoben und streiten. Ich sah meinen Vater Rasen mähen und meine Mutter Äpfel und Pflaumen ernten. Viele Jahre sah äußerlich alles so aus wie in meiner Kindheit. Im Garten stand noch unsere große Schaukel und das Gartenhäuschen, das mein Vater aus alten Dielenbrettern gebaut hatte. Irgendwann verschwand die Schaukel und auch andere Dinge veränderten sich. Vor einigen Jahren schrieb mir ein ehemaliger Nachbarsjunge, dass das Haus abgerissen worden sei. Seitdem ist mein Bedürfnis erloschen, an den Ort meiner Kindheit zurückzukehren. Ich möchte mir meine Erinnerungen bewahren, mit allem Schönen und Hässlichen, Skurrilen und Lustigen. Manchmal träume ich heute noch nachts von Bethel, ich sehe mich durch die Straßen laufen und stehe in unserem Haus. Der Keller, der mir als Kind immer unheimlich war, ist es auch in meinen Träumen noch. Manches ändert sich wohl nie. Doch das ist eine andere Geschichte.
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