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Salatschüssel-Blues

Über Erinnerungen im Zeitraffer, das Loslassen unnützer Dinge und Abschiedsschmerz

von Katharina Burkhardt

Als ich aus Hamburg fortzog, ließ ich vieles zurück. Stück für Stück verkaufte und verschenkte ich Möbel und andere Dinge, bis die Zimmer immer leerer wurden. An manches Teil klammerte ich mich wie eine Ertrinkende. Alte Gläser, Salatschüsseln und verschlissene Sessel wurden zu Stellvertretern für ein ganzes Leben.

Ich bin eigentlich ein ordentlicher Mensch, es ist nicht so, dass ich Dinge horten würde. Aber ich schätze, es gibt in jedem Haushalt den einen Schrank, das eine Schubfach, in dem sich Zeug stapelt, das man seit vielen Jahren nicht mehr angeschaut hat. Bei einem Umzug kann man den ganzen Kram unbesehen in einen Umzugskarton werfen und im neuen Zuhause wieder in den einen Schrank stopfen. Oder man nutzt die Chance und sortiert mal gründlich aus. Manchmal fiel mir das leicht und ich pfefferte schwungvoll jede Menge Ramsch in Müllbeutel. Manchmal schlich ich um Berge von Briefen und Fotos herum, nahm zaghaft hier und da mal was in die Hand und schob es schnell wieder in den Stapel zurück. Ich konnte mich nicht aufraffen, hatte keine Lust, fand alles anstrengend und hoffte, dass sich der ganze Krempel von selbst sortieren oder besser noch in Luft auflösen würde. Dann wieder wollte ich alles nehmen und an der Elbe in einem riesigen Feuer verbrennen und rituelle Tänze aufführen.

Mein Umzug fand in Etappen statt. Zunächst vermietete ich die Wohnung mehrmals befristet unter – drei, vier Monate, wie es gerade passte. Dafür räumte ich alle privaten Dinge weg, vieles nahm ich bereits mit ins Saarland. Ich durchforstete Aktenordner und schredderte säckeweise Papier. Jedes Blatt nahm ich in die Hand, um zu entscheiden, ob ich es aufheben wollte. Im Zeitraffer durchlief ich berufliche Stationen. Hausarbeiten aus meiner Studienzeit, Entwürfe für Romane und Kurzgeschichten, die ich nie schrieb, Berge von Unterlagen aus dem Beginn meiner Selbstständigkeit – Existenzgründung, Marketingworkshops, Seminarkonzepte. Ich behielt fast nichts, am Ende verschenkte ich einen großen Stapel leerer Ordner.

Einmal besuchten mich meine Schwester und ihre Töchter, die sich gerade ihre eigenen Haushalte einrichteten. Ich gab ihnen vieles mit, von dem ich annahm, ich würde es nicht mehr brauchen. Als sie wieder weg waren, dachte ich erschrocken: »Oh nein, ich hab ihnen ausgerechnet meine liebsten Salatschüsseln mitgegeben, die ungeliebten sind alle noch hier. Wie konnte das nur passieren?« Ich war drauf und dran, anzurufen und zu sagen: »Gebt mir das Zeug zurück, ich kann ohne meine Lieblingsschüsseln nicht leben.«

Dann habe ich mal tief durchgeatmet. Danach ging es wieder.

Richtig schwierig wurde es, als ich die Wohnung endgültig auflöste und ein Möbelstück nach dem nächsten verschwand. Andere Leute ziehen um, indem sie am Tag x alles in einen Möbelwagen packen und am neuen Ort wieder auspacken. Ich zog um, indem sich um mich herum alles verflüchtigte, bis nichts mehr da war.

Mittwoch, 2. März 2022 – Hamburg

Ich sitze an meinem Schreibtisch, die Morgensonne scheint durch das Fenster und malt Muster auf die weiße Arbeitsplatte und die Dielenböden. Nur wenige Wochen im Jahr kann ich die Sonne in diesem Raum genießen. Im Winter steht sie zu tief, im Sommer hält das Laub der Bäume alles Licht zurück. Aber jetzt, jetzt ist die perfekte Zeit für dieses Zimmer, und ich freue mich, dass die Sonne auch brav scheint und den Raum morgens hell und freundlich erscheinen lässt.

Ich lasse den Blick aus dem Fenster schweifen, in der Kastanie turnt ein Eichhörnchen herum. So viele Stunden habe ich hier gesessen, nachgedacht, gearbeitet, meine Selbstständigkeit aufgebaut, den ersten Roman verfasst, Seminare vorbereitet und fremde Texte lektoriert. Nun heißt es Abschied nehmen. Voller Wehmut, aber auch voller Dankbarkeit für alles, was war, und für das, was sein wird.

Samstag, 5. März

Die ersten Möbel sind fort. Sie hinterlassen nackte Stellen und öffnen den Raum. Die Wohnung wird luftiger. Das erste Stück, das ging, war ein niedriges Regal aus den fünfziger Jahren, auf dem meine Stereoanlage stand. Es gehörte ursprünglich meinem Vater. Das Furnier war fleckig und wellig, ich nahm nicht an, dass daran wirklich jemand Interesse haben könnte. Doch die Frau, die es abholte, geriet bei seinem Anblick in Verzückung. »Ich liebe so alte Möbel. Die haben Geschichte.« Ich freute mich und ließ mich von dieser Leichtigkeit ermutigen, weitere Anzeigen bei eBay aufzugeben.

Die Menschen sind nett, sie wissen meine alten Dinge zu schätzen. Die Kommode aus dem ehemaligen Schlafzimmer meiner Großeltern soll einen neuen Look erhalten und zur Wickelkommode werden. Die über hundert Jahre alten Kleider und Hüte landen bei einer Kostümsammlerin. Jemand montiert die reichlich abgenutzten Küchenschränke ab, die ich schon gebraucht gekauft hatte – »sind doch noch richtig gut.« Selbst der echt schäbige Esszimmerstuhl, der mir als Kleiderständer diente, wird trotz tausend Macken bejubelt – »so ein tolles Stück!«. Ist halt original aus den Fünfzigern und den Leuten richtig Geld wert.

Dienstag, 8. März

Ich spaziere mit einer Freundin hinunter zum Fischmarkt, wir sitzen am Anleger in der Sonne. Schiffe gucken, die Fähren, viele Leute, es sind Schulferien. Der Wind frischt auf, wir schlendern weiter Richtung L’Osteria an der großen Elbstraße, ergattern ein Plätzchen auf der Terrasse mit traumhaftem Blick aufs Wasser. Es ist windgeschützt, die Sonne wärmt, wir essen, reden, erinnern uns. Ich genieße das Wetter, die Sonne, das Hafenflair und unsere Freundschaft. Wie seit rund fünfundzwanzig Jahren reden wir auch heute über Kunst, Pferde und unsere Familien. Ein Moment der Ruhe, eine Pause in turbulenten Zeiten zum Aufatmen und Kraft tanken. Der Abschied fällt mir leicht, weil ich das Gefühl habe, dass wir uns wiedersehen werden. Ein Versprechen ohne Pathos, ein friedliches Laufenlassen der Ereignisse.

Mittwoch, 9. März

Jemand holt meine alten Lautsprecherboxen ab, die aus den neunziger Jahren stammen. Ein Hamburger Urgestein, fröhlich, mit weißen Haaren, die zum kleinen Zopf gebunden sind, und knallroter Brille auf der Stirn. Fachmännisch begutachtet er die alten Boxen – »Tipptopp!« – und meine anderen elektronischen Geräte.
»Ich bin vom Fach. Ich habe früher bei Wiesenhavern gearbeitet.«
Ach, Wiesenhavern, denke ich, der Fotofachladen in der Mönckebergstraße. Gibt es den überhaupt noch? Immer mehr Traditionsgeschäfte verschwinden.
Dann schaut er sich um. »Das ist eine tolle Gegend«, sagt er begeistert. »Ich habe früher auch hier gewohnt.«
Ich erzähle von meinem Umzug.
Seine Augen leuchten. »Wunderbar! Flieg hinaus, Abenteuer erleben, Neues entdecken!«
In der Tür dreht er sich noch mal um. »Alles Gute für Sie. Oder wie man in Hamburch sacht: Lebewohl, mien Deern.«
Ich lache den dicken Kloß im Hals weg.

Freitag, 11. März

Ich schaffe mir Oasen im Chaos. Küchentisch, Wohnzimmertisch und die Fensterbank im Schlafzimmer halte ich frei von Umzugskram. Dafür stehen dort Frühlingsblumen und Kerzen. Wenn mir alles zu viel wird, fokussiere ich mich auf diese hübschen Inseln. Jeden Mittag gehe ich eine Stunde an die Elbe und setze mich auf einen der niedrigen Fenstersimse der Fischauktionshalle, Schiffe und Leute gucken, Wasser und Hafen. Es sind traumhafte Frühlingstage, die viele Sonne ist ein Geschenk, genau wie all die wunderbaren Menschen, die meine Sachen kaufen. Hamburg zeigt sich mir zum Abschied von seiner allerschönsten Seite. Ich kann mich gar nicht sattsehen an meinem Lieblingsort, dem Fischmarktanleger, der früher eine verschlafene Ecke war, und an dem man es mittlerweile an schönen Tagen kaum noch aushält, so ein Gewimmel herrscht hier. Vieles hat sich verändert, nicht alles ist besser geworden. Es wird Zeit für mich, zu gehen.

Wenn ich von meinem Spaziergang heimkehre, bin ich ruhig, geerdet – und unendlich lustlos. Nachmittags schaffe ich kaum etwas, selbst einkaufen ist mir zu viel. Ich sitze da, erledige Dinge am Computer, stopfe Zuckerzeug in mich hinein und schaue auf das Umzugschaos, als ginge es mich nichts an. Abends ab sieben kann ich mich kaum noch auf den Beinen halten. Dafür bin ich morgens oft schon um sechs wach, ruhelos und erschöpft zugleich.

Heute verbringe ich vermutlich die letzte Nacht in meinem bislang unveränderten Schlafzimmer. Ab morgen verschwindet auch dort ein Möbelstück nach dem nächsten. »Du ziehst aus, wie du eingezogen bist«, sagt der Liebste. »Schritt für Schritt.« Es ist aber noch mehr. Ich ziehe aus, wie ich über zwanzig Jahre in dieser Wohnung gelebt habe: allein. Ich stemme alles allein, organisiere, entscheide, verkaufe, verschenke. Ich wache allein auf und schlafe allein ein. Dazwischen beiße ich mich durch, Tag für Tag. So wie ich es all die Jahre immer getan habe. Doch es gibt diesmal einen entscheidenden Unterschied: Die Zukunft bedeutet Zweisamkeit. Ich muss nichts mehr alleine bewältigen. Das zu wissen, ist eine solche Beruhigung, dass ich dafür bereit bin, das alles hier aufzugeben.

Sonntag, 13. März

Ein Paar in meinem Alter baut mein Bett ab. Nach Jahrzehnten mit getrennten Haushalten haben sie entschieden, nun zusammenzuziehen. Ein größeres Bett muss her. Meins sieht aus wie neu, ich habe es erst vor wenigen Jahren gekauft. Massives Buchenholz, schlichtes Design, ich war so glücklich über diese Neuanschaffung. Selten genug habe ich mir neue Möbel gegönnt, die meisten kamen mit Vergangenheit zu mir. »Das ist eine Anschaffung fürs Leben«, sagte der Mitarbeiter des kleinen Möbelladens, der es damals für mich aufbaute. Wenige Monate später lernte ich den Liebsten kennen. Das Bett verwaiste immer öfter. Nun geht es ganz fort.

Die Frau trällert Lieder, während der Mann schraubt. Ich beobachte die beiden und denke an meine Zukunft mit dem Liebsten.

Donnerstag, 17. März

Die meisten Möbel sind weg, ich schlafe auf einer Matratze im nahezu leeren Schlafzimmer und esse am Balkontisch in der nackten Küche. Zurückgeblieben ist viel Chaos. Gläser und Vasen, Geschirr und Kerzenleuchter, dazwischen altes Werkzeug und längst vergessene Dinge, verstreut auf dem Fußboden, ausgebreitet auf den Fensterbänken. Ich schaffe es nicht, die alten Teebecher, die ich seit Jahren nicht mehr gebraucht habe, und die Sektgläser, von denen die Hälfte längst kaputt ist, in einen Müllbeutel zu stopfen und wegzuwerfen. Geradezu verzweifelt suche ich nach Möglichkeiten, sie weiterzugeben, erst will ich sie bei eBay verkaufen, dann verschenken, vielleicht auch einem Sozialkaufhaus spenden. Aber niemand will diese Dinge haben und ich gerate regelrecht in Panik.

Am schlimmsten ist es mit dem Wohnzimmertisch und dem alten Sessel. Ich klammere mich an sie wie eine Ertrinkende an einen Rettungsring, bilde mir ein, dass sie mir Halt in der Fremde geben, dass ich ohne sie nicht leben kann. Ich verbringe Stunden damit, eine Transportmöglichkeit zu finden, die möglichst wenig kostet, am besten gar nichts. Die kostbarsten Dinge sind mir kein Geld wert, denn sie lassen sich nicht mit Materiellem aufwiegen. Sie sind Teil meiner Familiengeschichte, meine Vergangenheit, all das, für das auch diese Wohnung steht. Ich durchlebe einen Schnelldurchlauf meines vergangenen Lebens, Erinnerungsarbeit, wie andere sie vielleicht erst mit achtzig leisten.

Abends sitze ich am Balkontisch, chatte mit der einundneunzigjährigen Frau W., die nur wenige Meter von mir entfernt ebenfalls allein in ihrer Wohnung sitzt und mir rührende Nachrichten schickt. Und ich weine und weine um all das Vergangene. Einen Moment überlege ich, hinaufzugehen, mich in ihre alten müden Arme zu werfen wie ein Kind an die Brust seiner Mutter, weil sie mich an meine eigene, schon lange verstorbene Mutter erinnert, und es sich irgendwie so anfühlt, als würde ich sie ein zweites Mal verlieren. Aber ich schaffe es nicht, bin zu aufgelöst, zu erschöpft. Ich werde morgen hinaufgehen und hoffen, dass ich den Abschied aushalten kann. Dann werde ich ein paar große Müllsäcke nehmen und alles wegwerfen, was ich nicht mitnehmen kann und mag. Und ich werde eine Entscheidung bezüglich der letzten Möbel treffen, an denen so viele Erinnerungen haften, dass sie darunter genauso zusammenbrechen wie ich.

Vielleicht ist es gut, loszulassen. Alles loszulassen. Ein Leben ohne den Ballast der Vergangenheit zu beginnen. Aber geht das überhaupt?

Donnerstag, 21. April – Saarland

Ich habe eine Pause eingelegt und mit dem Liebsten eine Reise gemacht, die lange vor meinen Umzugsplänen feststand. Nächste Woche geht es ein letztes Mal nach Hamburg zur Schlüsselübergabe. Ich habe im Urlaub so viel geschlafen wie selten zuvor. Jetzt laufe ich durch das Haus und den Wald und frage mich, ob ich wirklich hier leben will. Auf einmal beschleicht mich ein mulmiges Gefühl, kommen mir Zweifel.

Während ich diese Zeilen schreibe, ruft mein ehemaliger Nachbar und Freund K. an und erzählt, dass er gerade in meiner Wohnung ist, um den Kühlschrank abzuholen, den ich ihm überlassen habe. Er erzählt, wie wehmütig er sei angesichts der leeren Räume, und dass das ganze Haus trauere, weil ich fortgehe. Mir schießen Tränen in die Augen.
»Habe ich die richtige Entscheidung getroffen?«, frage ich K.
»Ja«, sagt er nachdrücklich. »Du bist jetzt nicht mehr allein, du kannst die Lasten des Alltags auf mehrere Schultern verteilen. Das ist gut.« Das stimmt. Aber ich werde K. trotzdem vermissen und all die anderen Menschen, die mich über die Jahre hinweg begleitet haben. Ich werde mein altes Leben vermissen.

Montag, 2. Mai – Hamburg

Gestern kam mein Freund M. vorbei, um sich zu verabschieden. Der letzte Gast in meiner Wohnung. Er saß auf dem Sofa, das heute Morgen zum Sperrmüll kam, mit einer Umzugskiste als Tisch, und trank Pulverkaffee mit mir und dem Liebsten, der auf der Treppenleiter hockte. M. verbreitete Fröhlichkeit und Herzlichkeit und erinnerte mich daran, warum mir unsere Freundschaft so kostbar ist. Andere Freunde riefen an und wünschten mir alles Gute. Nachbarinnen führten letzte überraschend innige Gespräche mit mir, im Abschied entsteht häufige eine Nähe und Verbundenheit, die man nie vorher und auch nachher nicht mehr erlebt. Die alte Frau W. umarmte mich fest. »Gehen Sie … mit Gott«, sagte sie mit leisem Augenzwinkern. Andere fanden keine Zeit für ein letztes Tschüss, manche schwiegen schon viel zu lange. Ja, ich verliere vieles und viele, aber ich bin nicht über alles traurig. Neuanfänge sind gut.

Für die Stadt fand ich keine Ruhe mehr, der Spaziergang an die Elbe fiel kurz aus, ich ertrug die Menschen nicht, am Tag vor der Abreise schlenderte ich noch einmal durch mein Viertel, ohne zu begreifen, dass das alles längst Vergangenheit war. Wir saßen ein letztes Mal unter der Kastanie im Hof, doch auch hier fand ich keine Ruhe. Es war okay, den eigentlichen Abschied hatte ich längst zelebriert, als ich im März ganz für mich war.

Und dann die leere Wohnung. Wirklich leer. Richtig leer.

Nicht mal ein Putztuch hing noch irgendwo herum. Ich kann nicht glauben, dass ich es geschafft habe, die ganze Wohnung leerzuräumen. Am Wochenende half der Liebste mir, die Lampen abzumontieren, den Sperrmüll auf die Straße zu schleppen und die Wohnung zu putzen. Den Mitarbeiter der Hausverwaltung interessierte das kaum, er warf nur einen flüchtigen Blick in die Runde – »Sieht alles sehr gut aus« –, das war’s.

Von einem dicken Schlüsselbund nahm ich nur den Ring wieder mit. Tür zu. Fertig. Wir stiegen ins Auto, warfen einen letzten Blick zu den kahlen Fenstern hinauf und fuhren davon. Die Sonne schien, die kleine Straße entließ mich bei frühlingshaftem Wetter. Dreiundzwanzig Jahre glitten vorüber wie ein laues Lüftchen und wogen doch tonnenschwer.

Übermorgen werde ich mich auf dem örtlichen Rathaus anmelden, dann bin ich nach siebenunddreißig Jahren keine Hamburger Bürgerin mehr.

Ich habe Angst. Und ich bin glücklich, dankbar, neugierig.

5. Februar 2024 - Saarland

Zwei Jahre ist es her, seit ich die Kündigung für meine Wohnung abschickte. Zwei Jahre, die in der Erinnerung zusammenschrumpfen wie wenige Wochen. Wenn ich die alten Texte lese und die Fotos anschaue, ist mir alles so gegenwärtig, als sei es gestern erst geschehen. Ich sehe mich in meiner Wohnung, ich spüre den kühlen Dielenboden unter den nackten Füßen, liege in meinem Bett und lese oder gucke Filme. Ich sitze am Schreibtisch, auf dem Sofa, am Küchentisch. Ich arbeite, telefoniere, esse, lebe. Ich gehe durch mein Viertel, das mir so vertraut ist, dass ich auch in der Erinnerung alles genau vor Augen habe. Ich fühle mich wieder jung, unabhängig und voller Tatendrang.

Mein jetziger Alltag hat mit dem damaligen Leben nichts mehr zu tun, wirklich gar nichts. Meine Tage sind voll, ich komme manchmal kaum zum Innehalten. Bewusste Momente des Erinnerns habe ich selten. Ich lebe im Jetzt, die Gegenwart ist wichtiger als alles Vergangene. Meine Wohnung vermisse ich nicht, auch all die Dinge nicht, die ich so schweren Herzens losgelassen habe. Das ist vielleicht die größte Überraschung. Von vielen Sachen habe ich damals Fotos gemacht, hauptsächlich für die Onlineportale. Ich würde mich an uralte Regalbretter, ausrangierte Lampen und hässliche Bettwäsche nicht mehr erinnern, gäbe es diese Fotos nicht. Tatsächlich brauche ich viel weniger, als ich oft dachte.

Meine Gegenwart ist erfüllt von Mann und Hund, Haus und Garten und nach langer Pause auch endlich wieder vom Schreiben. Zeit für mich habe ich nur noch selten, viel zu selten. Das vermisse ich. Den Raum für mich, Stunden oder Tage, in denen ich allein bin und in meiner Kreativität baden kann. Und ich vermisse die Menschen, die ich zurückgelassen habe. Meine Familie, Nachbarn, Freunde. Menschen, die mir vertraut sind, denen ich auch mal erzählen kann, wenn ich mich nicht gut fühle. Die Entfernung zwischen uns ist gewaltig, bis Hamburg sind es rund sechshundertsechzig Kilometer, zu meiner Familie noch gut hundert mehr. Das ist derzeit eine Weltreise, ich bin oft bis zu elf Stunden unterwegs. Die Züge haben immer Verspätung und auf den Straßen gibt es immer Staus. In elf Stunden kann man ans andere Ende der Welt fliegen, auch die wenigen Reisen in den Norden fühlen sich für mich wie Weltreisen an.

In Hamburg war ich seit dem Umzug nicht wieder. Die zwei Jahre waren so bewegt, so übervoll und unfassbar anstrengend, dass ich nie Zeit fand, meine alte Heimat zu besuchen. Vielleicht habe ich auch Angst, dass mich das Heimweh zu sehr überwältigt. Vieles ist großartig in meinem neuen Zuhause. Ich möchte die Ruhe und Beschaulichkeit nicht mehr missen, die Zweisamkeit, den eigenen Garten, die viele Natur um uns herum. Manches ist allerdings auch schwierig und anders, als ich es mir erhofft hatte. Zurück möchte ich trotzdem nicht. Alles hat seine Zeit. Und jede Veränderung schafft Raum für Neues. Doch das ist eine andere Geschichte.

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