Im Nebel des Unerzählten
Wie ich lernen muss, die Liebe zu meinen Geschichten wieder zuzulassen
Ich bin ja das Schreibutensil der Herzen, was bedeutet, dass ich ständig mit Buchideen schwanger gehe, aber keine neue Veröffentlichung vorweisen kann. Und das kommt so.
Ich habe gemerkt, dass mir Romane mehr liegen als Sachbücher. Mir fällt es leicher, mir Dinge auszudenken als Thesen zu formulieren. Aus dem Fenster zu fabulieren, ist einfacher als diszipliniert zu recherchieren und hermeneutisch Schlussfolgerungen aus Texten, Quellen und Fakten abzuleiten. Sachbücher sind wie Hausaufgaben, Romane wie eine Flasche Rosé Crémant. Das eine erfordert Disziplin und Sorgfalt, das andere freies Denken. Sachbücher sind für Menschen, denen mit akademischen Titeln autorisiertes Fachwissen wichtig ist, Romane für solche, die frei flottieren. Die außerhalb begrenzender Faktoren stehen. Vielleicht ist es also kein Wunder, dass ich mich in Romanen eher zuhause fühle.
Ich habe mich in gewisser Weise damit arrangiert, dass ich eher eine Romanschreiberin bin. Sachbücher gehen schneller, bringen schneller Geld, deshalb arrangiere ich mich nur mit schwerem Herzen. Für Romane brauche ich nur meine Fantasie und ein bis an die Grenzen der Verzweiflung fühlendes Herz. Beides habe ich im Überfluss. Aber ich brauche auch Liebe für meine Figuren und ihre Welt. Die Welt, in der ich mich bei einem neuen Roman bewege, muss mir vertraut, muss meine sein.
Eine Person, die Welten und Figuren erfindet, ist im Grunde eine göttliche Entität. Sie hat Allmacht über alles, was in einem Buch geschieht. Ich mag diese Macht sehr. Ich allein darf entscheiden, was meine Figuren fühlen. Ich darf bestimmen, wie die Welt aussieht, welche Werte und Regeln dort gelten. Natürlich alles im Rahmen von Glaubwürdigkeit und Logik, aber im großen Ganzen bin ich völlig frei. Liebe ich.
Die einzige Herausforderung besteht für mich darin zuzulassen, dass mir meine Figuren ans Herz wachsen. Ich muss mich in meine Figuren verlieben, um über sie schreiben zu können. Denn dann habe ich das Gefühl, sie zu kennen, ihre Verhaltensweise sicher und glaubwürdig vorhersagen und beschreiben zu können.
Bei meinen beiden Skarabäus Lampes und auch bei dem historischen Roman, der seit nunmehr acht Monaten auf Rückmeldung der Verlage, die ihn bekommen haben, wartet, war das kein Problem. Ich war jeder Figur bis in die kleinste Nebenrolle zärtlich zugetan, hatte immer das Gefühl, über sehr vertraute Freunde zu schreiben. Oft habe ich beim Schreiben geweint. Ich war nicht nur unbedarft, was die Buchbranche anging, sondern hatte auch keinerlei Ambitionen. Ich spürte, dass ein Stoff geschrieben werden wollte, und habe ihn geschrieben. Mehr als eine vage Hoffnung auf Verkaufbarkeit war da nicht.
Das ist heute anders. Ich weiß mehr über die Buchbranche und habe noch genug Geld für zwei Monatsmieten auf dem Konto, alle Rücklagen sind aufgebraucht. Das verändert den Blick auf das Schreiben sehr. Mein Agent glaubt fest an meine Fähigkeiten als Schriftstellerin, dem neuen Projekt traut er sogar einigen kommerziellen Erfolg zu.
Und doch sitze ich dieser Tage vor meinem neuen Romanprojekt und glotze ins Leere. Den Plot sehe ich glasklar vor mir. Ich weiß, dass es guter Stoff ist. Richtig guter Stoff. Und doch habe ich noch keine Leseprobe. In den letzten Wochen (minus Todesgrippe aus der Hölle) habe ich ein Exposé geschrieben, die Geschichte feiner ausgearbeitet, aber sobald ich einen Versuch mache, wirklich zu schreiben, Szenen und Dialoge zu erschaffen, blockiert mein Gehirn.
Wann immer ich blockiere, gehe ich mit mir selbst in eine Therapiesitzung. Eine meiner großen Stärken in dieser für mich ansonsten schwierigen Welt ist ja, dass ich durch meine therapeutischen Erfahrungen und meine psychischen Erkrankungen guten und leichten Zugang zu meinen Gefühlen habe. Ich brauche nie lange, um zu ahnen, dass hinter einem Gefühl mehr steckt, und dieses Mehr aus mir herauszulocken. Ich bin mir selbst eine fantastische Therapeutin.
Und heute habe ich im Gespräch mit mir erfahren, dass ich mir im Grunde nicht erlaube, Liebe zu meinen Figuren zu entwickeln. Denn die Liebe zu meinen Figuren und meinen Geschichten ist das, was mich verletzlich macht. Der Misserfolg von Skarabäus Lampe, meinem geliebten Alter Ego, dem nervigen Meisterdetektiv, aber auch die unfassbar lange Wartezeit darauf, dass jemand in meinem historischen Roman sieht, was ich hineingeschrieben habe, haben mir gezeigt, wie schmerzhaft es ist, Figuren zu lieben, die niemand sonst lieben kann. Lieben in einem Sinn, der mir die Miete zahlt.
Es tut weh um meiner Liebe willen, aber es fühlt sich auch an, als hätte ich versagt. Nicht an mir oder meinem eigenen Anspruch, sondern an den Figuren. Jedes Vorhaben, ein Buch zu schreiben, beinhaltet immer auch das Versprechen an die Figuren, ihre Geschichte zu erzählen. Ausbleibender Erfolg - in einem Sinn, der mir die Miete zahlt - fühlt sich an, als hätte ich dieses Versprechen gebrochen. Vor allem bei dem historischen Roman hat mich das Gefühl viel Substanz gekostet. Weil die Geschichte wahr ist und ich es so wichtig finde, dass sie erzählt wird. Ich hatte allen Figuren voller Liebe gesagt, dass ich dafür sorgen werde, dass sie nicht vergessen werden, und kann dieses Versprechen - zumindest bis jetzt - nicht einhalten, weil noch kein Verlag für das Manuskript geboten hat. Das ist ein furchtbares Gefühl. Es fühlt sich nicht bloß wie Zurückweisung an, sondern als ob jemand alles entwertet, was man selbst mit absoluter Gewissheit weiß.
Die Kapitalisierung schriftstellerischen Tuns, die - ich nenne es mal: Verwirtschaftlichung von Talent in der Verlagsbranche hat dazu geführt, dass nur einen Buchvertrag bekommt, wer Massen ansprechen kann. “One size fits all” verkauft sich besser als Zeug, bei dem man nachdenken, Ambivalenzen aushalten und mitfühlen muss, bevor man zu einem Resumée kommt. Ich kann keine Massen ansprechen. Weder als Mensch noch als Schriftstellerin. So wie ich alles gleichzeitig bin, sind meine Geschichten alles gleichzeitig. Schwer zu kategorisieren.
Und auch wenn der neue Roman nicht auf wahren Begebenheiten basiert, spüre ich, wie ich mir selbst nicht erlaube, Liebe zu den Figuren zu entwickeln, weil ich nicht versagen will. Weder vor ihnen noch vor mir. Ich will nicht wieder das Gefühl haben, meine Figuren im Stich zu lassen. Alles außerhalb des Exposés liegt wie im Nebel oder unter Wolken. Die Figuren sind fahl und durchscheinend, weil ich nicht will, dass dieses Buch mir so wehtut wie das letzte Manuskript (das schon so lange ohne Antwort liegt).
Konkrete Szenen und Dialoge, in denen ich ganz nahe an die Gefühlswelt meiner Figuren herankomme, vermeide ich. Weil ich vor ihnen nicht versagen und mich nicht schlecht fühlen will. Ich weiß, ich muss an diesen Ort und mich selbst verletzlich machen. Ich schreibe nur dann wirklich gut, wenn ich im engen, intensiven und emotionalen Kontakt mit den Figuren bin. Ich muss zulassen, dass mir die Geschichte und die Personen etwas bedeuten. Muss zulassen, dass mir die Geschichte wehtut und ein ausbleibender Erfolg erst recht. Damit ich gut bin.
Die heutige Therapiesitzung mit mir selbst war wichtig, um herauszufinden, was mich blockiert. Jetzt muss ich nur noch schaffen, die 27 stählernen Schotts, die ich seit dem Misserfolg des ersten Skarabäus Lampe und dem Beginn dieser quälenden Wartezeit in mir verschlossen habe, um überhaupt einigermaßen im Alltag zu funktionieren, wieder zu öffnen. Leben hineinzulassen. Liebe. Wärme. Empathie. Alles für eine Geschichte, die nach meinem Empfinden wichtig zu erzählen ist.
Einmal, nur ein einziges Mal mit einem Roman richtig abräumen. Aufrütteln, erschüttern, Gefühle an ihre Grenzen bringen. Das wär’s.
Und ich fürchte, ich muss da mit meiner eigenen Erschütterung anfangen.
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