Liebe Leserïnnen,
derzeit werden im ganzen Land die Corona-Sicherheitsmaßnahmen zurückgefahren, als sei die Pandemie vorbei, während die Infektionszahlen und die Bettenbelegung wieder steigen und steigen. Dies passiert mehr oder weniger unverhohlen mit dem Argument, selber Schuld, wer sich nicht impfen lässt. Der deutsche Ethikrat lehnt Privilegien für Geimpfte ab (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Doch während Debatten auf ethischer Ebene hitzig geführt werden, wird leider ein Haken auf der technischen Ebene übersehen: Die digitalen Impfzertifikate sind leider nicht zuverlässig (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre).
Folgendermaßen:
Nach der Impfung stellt die Arztpraxis oder das Impfzentrum ein digitales Zertifikat aus, welches für ein Jahr gültig ist. Wie bei einem klassischen Papierdokument braucht auch ein digitales Zertifikat eine Signatur, eine Unterschrift, aus der hervorgeht, welche Stelle bezeugt, dass da eine Person geimpft wurde. Eigentlich sollte das die Praxis sein oder das Impfzentrum oder die ausstellende Apotheke – praktisch wurde das jedoch unsinnig umgesetzt: Alle digitalen Impfzertifikate tragen die Signatur des Robert-Koch-Institutes.
Das ist, als würde Angela Merkel allen ihr unterstehenden Ämtern ihre Blanko-Unterschrift zur Verfügung stellen und als seien dann sämtliche Bescheide nur noch von Angela Merkel unterschrieben, ohne das klar wäre, wer da im Einzelfall unterschrieben hat. Das ist ein Problem, weil so Arztpraxen und Apotheken völlig frei darin sind, gefälschte Impfzertifikate auszustellen, ohne dass diese sich später zurückverfolgen oder von korrekten Zertifikaten unterscheiden ließen.
Sicherlich ist derlei verboten. Wer das tut, riskiert bis zu zwei Jahre Freiheitsstrafe. Allerdings gibt es sowohl einen Markt wie auch die nötige kriminelle (oder ideologische) Energie für solche Dienstleistungen, was zum Beispiel deutlich wurde, als manche Arztpraxen recht freigiebig Masken-Atteste ausstellten (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), oft sogar ohne die die jeweilige Praxis persönlich betreten zu müssen.
Die General-Signatur des RKI verhindert leider auch, nachträglich digitale Zertifikate zu sperren oder zurückzuziehen, die in ein einem bestimmten Zeitraum von einer bestimmten Stelle ausgegeben wurden. Warum das nötig ist: Offenbar arbeitete im Impfzentrum Roffhausen bei Wilhelmshaven eine fanatische Impfgegnerin und zog tausende von Spritzen mit Kochsalzlösung statt mit Impfstoff auf. Wie viele Menschen auf diese Weise eine Scheinimpfung erhielten, lässt sich nachträglich kaum klären, aber es ist von Tausenden auszugehen (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), die jetzt nochmal richtig geimpft werden müssen.
Dass ungeimpfte Menschen tausendfach mit gültigen Impfausweisen und digitalen Impfzertifikaten herumlaufen, ist also kein theoretisches Szenario, sondern konkret so passiert. Sicherlich werden viele von ihnen sich schon aus Eigennutz nochmal impfen lassen. Aber ob sie es tun oder lassen ändert nichts daran, dass sie überall hineinkommen, wo die „2G“- oder „3G-Regel“ gilt.
Dabei ist der eigentlich äußerst leicht zu fälschende Impfpass aus Papier noch etwas sicherer als das digitale Zertifikat. Der Ausweis gibt Aufschluss, wer wann geimpft hat und welche Charge des Impfstoffs verabreicht wurde. Damit hätten Türsteherïnnen wenigstens noch theoretisch die Möglichkeit, dann Leute nicht reinzulassen, wenn sie laut Impfpass im fraglichen Zeitraum in Roffhausen geimpft worden sind. Was in Papierform mühselig und eher nicht sinnvoll umsetzbar ist, wäre eine Paradeanwendung für ein durchdachtes digitales Impfzertifikat. Leider bieten unsere digitalen Zertifikate designbedingt diese Möglichkeit nicht. Ihr IT-Design ist sogar dermaßen verbockt, dass sich solche Funktionen auch nicht mehr nachträglich implementieren lassen, ohne alle Impfpässe komplett für ungültig zu erklären und nochmal völlig neu auszugeben.
Aber vielleicht lohnt es sich auch nicht, sich über die technische Tauglichkeit der digitalen Impfnachweise groß Gedanken zu machen, schließlich werden sie auch in der Praxis nicht korrekt angewendet. Vorzeigen alleine genügt nicht, der QR-Code muss abgescannt und auf Gültigkeit geprüft werden. Dabei muss zusätzlich ein Personalausweis vorgezeigt werden, denn das Zertifikat belegt nur, dass Erika Mustermann (eventuell) geimpft wurde, aber nicht, ob Erika Mustermann auch vor einem steht. Dazu muss Erika Mustermann zusätzlich ihren Perso zeigen. Womit sämtliche Menschen schon einmal exkludiert wären, die aus verschiedenen Gründen keinen Perso vorzeigen können, beispielsweise Migranten ohne gültige Papiere.
Aber in der Praxis wird natürlich der Impfnachweise so gut wie nie verlangt. Und wenn gelegentlich mal doch, dann nur selten auch der Perso. Das entspricht nicht nur meiner Erfahrung, das sagen in meinem Umkreis alle (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), die gefragt (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) werden (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Das bedeutet, an Orten, wo die „2G“- oder „3G-Regel“ gilt, laufen mit hoher Wahrscheinlichkeit immer mal auch ungeimpfte Menschen ohne aktuelles negatives Testergebnis herum.
Das kann den meisten Geimpften zwar relativ egal sein. Ihr Risiko schwer zu erkranken ist sehr gering. Aber die Impfung sterilisiert nicht. Geimpfte Menschen können sich infizieren und die Infektion an andere weitergeben. Und weil sie geimpft sind, bekommen sie nur leichte oder gar keine Symptome und werden so gut wie nie getestet, weshalb niemand sagen kann, in welchem Ausmaß geimpfte Menschen am Infektionsgeschehen beteiligt sind. Die Standard-Antwort der Expertïnnen, wonach der Anteil geimpfter Menschen am Infektionsgeschehen vernachlässigbar gering ist, stammt noch aus der Zeit, bevor sich die wesentlich ansteckendere Delta-Variante ausbreitete.
Wer sich selbst außer Gefahr wähnt, kann also immer noch unwissentlich direkt oder indirekt eine ungeimpfte Person anstecken. Zusammenkünfte geimpfter Menschen können also zur weiteren Verbreitung des Virus beitragen, das irgendwann auf ungeimpfte Menschen trifft oder solche mit eingeschränktem Immunsystem. Ich möchte daran erinnern, dass es hier nicht nur um verbohrte Impfgegnerïnnen geht, sondern um Kinder unter 12, die durchaus an Long-Covid erkranken (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), oder beispielsweise Menschen, die nach einer Organtransplantation dauerhaft ihr Immunsystem unterdrücken müssen oder aus anderen Gründen ein geschwächtes Immunsystem haben.
Wie sehr die momentane Corona-Politik von Bundes- und Landesregierungen nicht funktioniert, zeigt sich unübersehbar an den dramatisch steigenden Fallzahlen. „2G“ und „3G“ brauchen wir ethisch und rechtlich gar nicht erst zu diskutieren, wenn die technische Basis dafür offensichtlich Murks ist. Die Impfung schützt – aber eben nur die allermeisten Geimpften. Bis zum Abebben der vierten Welle kommen wir um Masken, Abstand, Lüftung usw. nicht herum. Wir sollten testen, testen und nochmals testen und die positiv Getesteten konsequent in Isolation schicken. (Übrigens genau die Strategie, mit der Groß-Britannien seine katastrophal hohen Zahlen im Frühjahr/Sommer wieder senken konnte (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)). Leider machen wir gerade in ungefähr jeder Hinsicht das Gegenteil.
Und damit, liebe Leserïnnen, wünsche ich ein schönes Restwochenende.
Enno Park
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