Liebe Leserïnnen,
„mütend“ ist ein Kofferwort, das im Frühjahr aufkam um die Frustration, die Mischung aus Wut und Müdigkeit angesichts der Corona-Krise zu beschreiben. Ich habe den Eindruck, dass heute mehr Menschen denn je in diesem Gefühlszustand sind. RKI-Chef Lothar Wieler findet von Pressekonferenz zu Pressekonferenz immer deutlichere Worte. Die Wut geht längst nicht mehr von der verquerdenkenden Minderheit aus. Und die Philosophin Sabine Döring warnt davor, dass irgendwann auch einmal die Geduld derjenigen endet, die sich freiwillig vernünftig und solidarisch in der Pandemie verhalten.
Derzeit wird viel geredet über diese Wut, wie mit ihr umzugehen sei und woher sie komme. „Warum sind alle so wütend?“ fragt zum Beispiel der Podcast „Lakonisch elegant“, und unter der Prämisse, dass es keine dummen Fragen gebe, lässt sich das auch halbwegs anhören. Immerhin verleiht das Thema einem Gefühl Ausdruck, das gerade sehr viele Menschen teilen. Im Podcast versucht Philosoph und Journalist Nils Markwardt diese Frage mit einer These zu beantworten: Wir spürten gerade die „kybernetische Illusion“. Wir hätten eine Vorstellung von Gesellschaft, die so gesteuert werden könne, dass ein Ist-Wert in einen Soll-Wert verwandelt werden kann, zum Beispiel die Zahl der Neuinfektionen und der Bettenbelegung. Und uns frustriere die Desillusionierung von dieser Vorstellung.
Ich halte diese These für falsch und auch problematisch. Sie mag trösten und an stoisch denkende Menschen appellieren, nicht zu ändern zu versuchen, was sich nicht ändern lässt. Doch wird sie weder dem Begriff der kybernetischen Illusion gerecht (der auf die transzendentale Illusion nach Kant zurückgeht und nicht das meint, wonach er klingt) noch beschreibt sie das aktuelle Phänomen, sondern hilft eher, politisches Versagen zu beschönigen.
Gesellschaft lässt sich als komplexes kybernetisches System betrachten, das sich selbst regelt, um im Gleichgewicht zu bleiben. Politik ist ein wichtiger Bestandteil dieses Systems. Bei Politik geht es grundsätzlich darum, Entscheidungen zu treffen, die irgendwie auf die Gesellschaft wirken sollen. Die Annahme, es sei eine Illusion, dass sich Gesellschaft steuern ließe, bedeutet die Annahme, dass Regierbarkeit ganz an sich Illusion sei. Das Gegenteil ist der Fall, wie sich an zahllosen Beispielen zeigen lässt.
So ist die Zahl der Verkehrstoten bei steigendem Verkehrsaufkommen in den letzten Jahrzehnten ständig und enorm gesunken. Das liegt zum einen daran, das Auto technisch immer sicherer wurden, zum anderen aber auch an politischen Regularien von Gurtpflicht bis Promillegrenze. Die Reduktion der Zahl der Verkehrstoten passierte also nicht allein aufgrund von politischer Steuerung, aber eben auch. Hielten wir Gesellschaft für nicht steuerbar, wären diverse Institutionen vom Fiskus über die Justiz bis hin zum Militär absurd. Das Militär ist überhaupt ein gutes Beispiel: Wäre soziale Steuerbarkeit eine Illusion, würde die Organisation eines Heeres dem Versuch gleichen, ein Knäuel spielender Katzenbabys zu einem geordneten Morgenappell zu bewegen.
Selbstverständlich lässt sich auch eine Pandemie politisch steuern, wenn die wichtigsten Parameter wie Übertragbarkeit, Übertragungswege usw. bekannt sind. Ein gutes Beispiel ist China, dem es bisher mit totalitären Maßnahmen gelang, die Pandemie im eigenen Land unter Kontrolle zu behalten. Berichte aus anderen, nicht totalitär regierten Ländern klingen wie das Beispiel der Gurtpflicht: Teils wird erzählt, wie pflichtbewusst Menschen sich aufgrund ihrer Sozialisierung (oder auch aufgrund traumatischer Erfahrungen bei unkontrollierten Corona-Ausbrüchen) verhalten. Teils wird berichtet, dass die jeweilige Regierung eine gute Corona-Politik mache oder auch die nötigen Maßnahmen auf gute Weise kommuniziere.
Kommunikation ist an dieser Stelle das entscheidende Wort. Kommunikation findet durch politische Entscheidungen statt. Wer den Leuten sagt, sie sollten sich eigenverantwortlich richtig verhalten, muss in Kauf nehmen, dass viele das nicht tun, und kommuniziert damit automatisch, dass diese Angelegenheit, in der die Leute sich eigenverantwortlich verhalten sollen, nicht so wichtig sei. Ein Beispiel: Dieses Wochenende fand in Köln ein Fußballspiel mit 50.000 Zuschauerïnnen statt, die trotz entsprechender Verordnung keine Maske trugen. Da kann Lothar Wieler so oft in der Bundespressekonferenz ranten wie er will, sein Wort wird immer nicht so eindringlich wahrgenommen werden wie die Tatsache, dass ein solches Fußballspiel mit Publikum überhaupt stattfindet. Und wenn es stattfindet, also erlaubt ist, und alle selber wissen müssen, ob sie es für sich verantworten mögen, dorthin zu gehen, kann das mit der Pandemie ja nicht so schlimm sein. Wäre es schlimm, würde es ja verboten. An diesem Beispiel zeigt sich, dass Steuern, Regeln, das Kybernetische in psychosozialen Systemen eben nicht als technokratisches Ziehen an Marionettenfäden gedacht werden darf, sondern als Akt der Kommunikation. Jegliches Gelaber über „Eigenverantwortung“, „Spaltung der Gesellschaft“, „Belastung der Wirtschaft“ und jede Talkshow-Einladung für Sahra Wagenknecht hämmert den Menschen ein, dass die Lage nicht besonders ernst ist.
Von einer „kybernetischen Illusion“ kann in diesem Sinne also keine Rede sein, denn es werden nicht Unregierbare wirkungslos regiert, sondern es werden Regierbare falsch regiert. Noch im Oktober, bei steigenden Fallzahlen und Warnungen durch die Expertïnnen, öffneten im Land die Clubs und Restaurants, wurden in den Schulen die Maskenpflichten gelockert und Impfwillige in damals weitgehend leeren Impfstellen abgewiesen, weil sie für ihre Booster-Impfung zwei Wochen zu früh kamen. All diese politischen Entscheidungen wurden bis heute nicht revidiert und wirken sich als Fehlsteuerung auf den Verlauf der Pandemie aus.
Der Grundgedanke der Kybernetik ist das Regeln anhand von Messwerten. Wird ein bestimmter Wert überschritten, wird eine Maßnahme eingeleitet, welche wieder gestoppt wird, sobald der Wert seinen Sollbereich erreicht hat. Das Standardbeispiel, mit dem dieser Grundgedanke meist veranschaulicht wird, ist eine Heizungsanlage mit Thermostat, die aufheizt, sobald eine bestimmte, vorgeingestellte Temperatur unterschritten wird, und wieder damit aufhört, wenn eine andere Temperatur überschritten wird.
Wer ein solches Steuerungssystem sabotieren möchte, hat mehrere Möglichkeiten: Den Thermostaten verstellen oder dafür sorgen, dass das System mit falschen Messwerten arbeitet. Ersteres wurde versucht, als in Deutschland die Grenzwerte für die 7-Tage-Inzidenz von 35–50 auf 100 und mehr hinaufgesetzt wurden. Letzteres passierte, als statt der Inzidenz der Hospitalisierungsindex als Leitwert genommen wurde. Das ist ungefähr so, als würden Rauchmelder auf dem Balkon statt im Zimmer aufgehängt. Falsch eingestellt und ohne sinnvolle Messwerte kann das System auch nicht mehr richtig regeln. Die Folge sind Lockerungen trotz steigender Zahlen. Das System ist nicht aufgrund einer "kybernetischen Illusion" unsteuerbar, sondern weil es wissentlich von den Verantwortlichen in eine unsteuerbare Situation gesteuert wurde.
Das Furchtbare an der Situation – um weiter über die Ursachen der Wut zu reden, statt über Kybernetik – ist, dass es mit dem Regierungswechsel nicht besser wird, sondern schlimmer. Die momentane Lage entstand zwar durch eine ganze Reihe von Versäumnissen der alten, noch geschäftsführend regierenden Bundesregierung und der Bundesländer, doch die fortgesetzte Katastrophe ist der Ampel-Koalition zu verdanken. Linksliberal orientierte Menschen hören das nicht gerne und finden es „unfair“, die Ampel verantwortlich zu machen, wo sie doch noch gar nicht regiere. Doch das geht leider an den Tatsachen vorbei.
Am 25. November endete die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“, auf deren Basis Bund und Länder Lockdowns, Kontaktbeschränkungen, Schulschließungen und all die anderen Dinge umsetzen konnten, die nötig werden, sobald nichts anderes mehr hilft. Das war ein Zeitpunkt, an dem die Inzidenz noch nie so hoch war und noch nie so steil stieg. Es wäre also rational gewesen, wenn der Bundestag diese „epidemische Lage“ um ein paar Monate verlängert hätte. Bund und Länder hätten dann aufgrund des bestehenden Infektionsschutzgesetzes agieren können.
Aber offenbar war es einer Frage der Wahlkampf-Ehre, insbesondere seitens der FDP, diesen Zustand für beendet zu erklären. Noch bevor die Ampel-Koalition eine Kanzlerïn wählte oder sich überhaupt auf einen Koalitionsvertrag geeinigt hatte, änderte sie das Infektionsschutzgestz. In der neuen Version ist die „epidemische Lage“ nicht nur aufgehoben, sondern es ist den Bundesländern auch noch ausdrücklich verboten worden, flächendeckend Schulen zu schließen, Lockdowns anzuordnen, Veranstaltungen zu verbieten oder andere Kontaktbeschränkungen zu erlassen. Das geht nur noch für Einzelfälle auf Landkreis-Ebene. Viele der bestehenden Anti-Corona-Maßnahmen der Bundesländer – etwa Lockdown in Sachsen oder die Absage der Weihnachtsmärkte in Brandenburg – müssen am 15. Dezember enden, sofern sie pauschal und landesweit erlassen wurden. Liebe Brandenburgerïnnen, wenn ihr Glück habt, bekommt ihr also doch noch ein paar Tage Weihnachtsmarkt.
Währen die Bundesländer pandemiepolitisch also weitgehend entmachtet wurden, liegt jetzt alles in der Hand der Bundesregierung. Die ist aber geschäftsführend im Amt, hat keine Mehrheit im Parlament, und darf auch viele Maßnahmen gar nicht umsetzen, die Ländersache sind, die aber zugleich den Ländern verboten wurden. Da kann eins schon mal wütend werden, wenn Robert Habeck die Chuzpe hat, sich bei „Illner“ hinzusetzen und zu behaupten, es sei für die kommende Bundesregierung nicht leicht, die richtigen Entscheidungen zu treffen, weil Apparat und Wissensgrundlage noch fehle und wir in einer politischen Übergangsphase seien.
Ja, wütend. Da ist sie, die Wut, und es lässt sich ziemlich klar sagen, warum ich und viele andere Menschen wütend sind. Und nein, es ist keine „kybernetische Illusion“ sondern die völlige Verantwortungslosigkeit fast aller politischen Akteurïnnen quer über alle Parteien hinweg.
Eventuell, mit etwas Glück, dämmert gerade den Ampel-Parteien, dass sie soeben einen katastrophalen Fehlstart hingelegt haben, der zehntausenden von Menschen das Leben kosten wird, was bisher nur viele noch nicht so richtig gemerkt haben. Das Auftauchen der Omikron-Variante ist ein gesichtswahrender Ausweg, diesen Fehlstart zu revidieren und wirksame Maßnahmen einzuleiten.
Bis dahin wünsche ich ein schönes Restwochenende und einen besinnlichen ersten Advent.
Enno Park
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