Mit la-la-la zur emotionalen Reife
Im digitalen Wörterbuch steht unter So•li•da•ri•tät: Substantiv, feminin, die.
Feminin also. Es gibt so viele Worte, die ihrem grammatischen Geschlecht so schwerlich in der Übertragung auf Verhaltensweisen oder Zuschreibungen nachkommen (können), wie zum Beispiel die Wut, die Macht, die Sexualität, die Stärke, die Vorherrschaft, die Beförderung, die Bevorzugung, die Politik, die Bundestagsabgeordnetenparitätsregelung, die Sichtbarkeit. Alles wichtige steht im Femininum geschrieben, selbst die Männlichkeit, wird aber im Diversität und Emotionalität ausschließenden Maskulinum belebt, was man dann getrost toxisch männlich nennen darf. Das ist so ver•rückt, wie ein Stuhl mit 2 Metern Entfernung vom Tisch. Wie lässt sich die Welt retten, wenn die Solidarität unter Frauen holotisch, oder wenigstens weit verbreitet, nur ein Lippenbekenntnis bleibt?

In der Profilbeschreibung einer meiner Insta-Accounts steht Frauen eine Stimme geben, wo früher singt, schreibt, spielt stand. Früher galten meine Inhalte meiner Musik und dem Forschungserleben lasziv-satirischer Unterhaltsamkeit. Das Ziel war in erster Linie social media zu verstehen und in Bezug auf meine musikalische Karriere Nutzen daraus zu ziehen. In zweiter Linie galt es Nahrung aus männlicher Aufmerksamkeit und Anerkennung zu erzielen, was nichts anderes ist, als Macht durch Aneignung der eigenen Attraktivität und Sexualität zurückzugewinnen, in einem System, was ansonsten für FLINTA* keine Schlupflöcher ins Macht-Verteilungszentrum lässt. Wurde ich dafür verurteilt? Selbstverständlich. Mach(t)en das alle Frauen? Ich denke schon, nur nicht alle auf die gleiche Art, denn man kann nicht innerhalb eines Systems leben und gleichzeitig außerhalb davon stehen.
Es gibt zwei gute Bücher dazu: »Patriarchale Belastungsstörung« (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) von Beatrice Frasl und »Toxische Weiblichkeit« (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)von Sophia Fritz.
Hätte ich als Frau etwas machen können, um Aufmerksamkeit zu generieren und mich sichtbar zu machen, ohne dafür verurteilt zu werden? Niemals nicht, nein. Als Frau machst du es immer falsch, egal wie. Und deshalb ist es auch nur logisch, dass sich mit dem Verabschieden vom Gefällig-, Unterhaltsam- und Sexysein, hin zum Unbequemen und über das Patriarchat aufklärenden nicht nur die männliche Aufmerksamkeit aus meinem Instaprofil verdünnisiert hat, sondern die weibliche Aufmerksamkeit sich verdickt und gleichzeitig vergiftet hat.
Seid ich über das Patriarchat, insbesondere die toxische Männlichkeit und die strukturelle Benachteiligung von Frauen im Musikbusiness aufkläre, sind die Männer weg und die Frauen da, aber eher auf eine sich gesundstoßende Art und Weise.
Sätze wie „ich les ja eigentlich immer, was du da so schreibst“ und „du übertreibst immer so mit deinem Feminismus“ und „also mir ist so etwas noch nie passiert“ scheinen Standard Formulierungen für Frauen in meinem Umfeld zu sein, wenn sie mir DMs schreiben. So jedenfalls kommt es mir vor, denn ich lese diese Sätze immer wieder gleich, als wären es vom Nachrichtensystem vorgefertigte Wortlaute.
Besonders reizen mich die Frauen, die sich wirklich alles von mir reinziehen, jede story, jeden move, nie interagieren, außer mit solchen DMs, wie oben beschrieben und hinter meinem Rücken schlecht über mich sprechen, um sich bei anderen sich ihrer selbst vergewissernde Bestätigung einzuholen. Sie reizen mich dahingehend, dass ich mir fantasievolle Fragen stelle wie: wären wir im Krieg, unsere Männer, Freunde und Söhne an der Front, die Russen vor unserer Tür und ich mit diesen Frauen in einem Keller verbarrikadiert, würden diese Frauen dann noch immer das Patriarchat bespielen und den Russen irgendwelche Gefälligkeiten anbieten, um aus der Nummer wieder rauszukommen oder würden sie mit mir solidarisch die Kellertür zudrücken und einen gemeinsamen Plan schmieden, der sich niemandem anbiedern muss?
Meine Oma, die sorbische, die ihr Sorbischsein abgelegt hat, weil die Brutalität des Katholizismus – auch nur ein anderes Wort für Patriarchat — ihr nicht hat Flügel wachsen lassen, um zu Gott zu gelangen, sondern um den Konventionen zu entfliehen, erlebte solche Szenen, von denen ich bis jetzt nur fantasiere. Sie hat sie mir erzählt als ich ein Kind war und ich wusste schon damals nicht, wem nun weniger zu trauen ist, den Russen oder den Sorbinnen, den Männern oder den Frauen.
Wenn mich Frauen so reizen, verletzt mich das jedes Mal. Ich habe immer gedacht, ich müsse das aushalten, auch die andere Wange hinhalten, das wäre die reifere Reaktion. Aber das ist vermutlich auch nur eine good girl Konditionierung, die bedeutet, dass Mädchen dazu erzogen werden, zu glauben, dass sie für die Gefühle anderer Erwachsener verantwortlich sind und dass sie niemals jemanden in ihrer Umgebung enttäuschen oder verärgern dürfen. Heute versuche ich mir zu sagen, dass es mit sich gesundstoßenden Frauen ein bisschen so ist, wie als Lehrkraft mit Schüler:innen an einer Schule (ich war auch mal kurzzeitig Lehrerin an einer Schule): man kann nie alle erreichen, aber bei manchen fällt der Groschen später im Leben und sie werden sich an die Lektion der Lehrkraft zurück erinnern und mit leichter Latenz danke sagen. Und danke sagen bedeutet, ich habe ihnen eine Stimme gegeben, die sie dazu befähigt, sie für sich zu nutzen, um sich zu schützen, für sich oder andere einzustehen, Gutes zu bewirken, Veränderung voranzutreiben, Missstände zu benennen und Dinge einzufordern, die ihnen schlicht zustehen oder die sie aus lauter Verschwendung einfach wollen, so ist das. Es wird kein Danke sein, dass ich hören kann oder das für mich bestimmt ist, aber das ist auch nicht das Ziel. Jedenfalls nicht vordergründig. Und die Frauen und Schüler:innen, die ich jetzt erreiche, denen darf ich jetzt schon eine Stimme geben, wörtlich und metaphysisch.
Und wie schön diese Stimmen klingen. Und wie laut sie sind und selbstsicher und souverän und wütend und zärtlich und frei!
Denn anders als die meisten denken, läuft im Gesangsunterricht und Stimmbildung nicht nur la-la-la über dorische Tonleitern, als ob (!), sondern oft zunächst sehr viel psycho-emotionale und kognitive Arbeit, um den Menschen vor mir, der sich erst vulnerabel machen muss und gleichzeitig vor Ehrfurcht, Respekt und übermannenden und unangenehmen Gefühlen, wie Scham und Angst weder Unterkiefer noch Impulskontrolle im Griff hat, bevor die Stimme nicht nur als Werkzeug gesteuert werden kann, sondern auch als emotionales Ventil den Horizont erweitert und emotionale Reife wachsen lässt. Was es da so lange zu reden und zu fühlen gibt, fragen Menschen die noch nie ein Instrument gelernt haben, schon gar keines, was im eigenen Körper liegt. Als gute Pädagogin vermittelt man nicht nur Inhalte und Techniken, man jongliert nicht nur mit Didaktik und Methodik, man baut vor allem auch Beziehung auf, um einen sicheren Ort zu schaffen, in dem Fehlermachen normal ist, genauso wie die Kritik, die sich daran anschließt und die es auszuhalten und anzunehmen gilt, um daraus zu wachsen und von einer Entwicklungsstufe zur nächsten zu gelangen. Die Stimme ist ein Instrument, bei welchem einer guten Zuhörerin nichts verborgen bleibt und eine Singende lernt, dass zu ändern, was sie kann und das zu akzeptieren, was sie nicht ändern kann. Gesangsunterricht und Stimmbildung zu nehmen bedeutet auf unterschiedliche Auslöser angemessen und besonnen reagieren zu können, sowie Verantwortung zu übernehmen. Frauen eine Stimme zu geben bedeutet auch eine Befähigung zur Selbstreflexion, ein Entwickeln von Selbstvertrauen, Selbstbeherrschung, Selbstliebe und Selbsterfahrung. Wenn ich als Pädagogin und Künstlerin sage,
du musst dein Ändern leben,
fordere ich meine Schüler:innen und jene Menschen, die mir sonst noch zuhören zu nichts weniger auf, als dazu emotionale Reife zu erlangen und ihre Stimme in Solidarität mit FLINTA* zu erheben. Nur ein bisschen la-la-la, ja?
Hausaufgabe bis zum nächsten Mal ist es, diesen Film anzuschauen, am besten mehrmals: Feminism WTF – Dok-Film von Katharina Mückstein (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Stimmen aus Politik- und Sozialwissenschaften, Männlichkeitsforschung sowie Gender-, Queer- und Trans-Studies diskutieren, wie man in den 2020-er Jahren zum Aufbrechen von Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen beitragen und eine solidarische Gesellschaft schaffen kann. Tolle Bildsprache, mit künstlerisch-filmischer Ästhetik und glänzend beeindruckenden Stimmen, die zu klugem Wort finden.
Und wenn diese Hausaufgabe erledigt ist, kann noch ein Binge-Erlebnis der Serie Big little lies (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) als Belohnung fungieren, ach was, es ist viel mehr als eine Belohnung, es ist eine extraordinäre Beute aus ausgezeichneten Schauspielerinnen und fesselndem plot, der sich aus patriarchalen Lebensentwürfen und seinen Konsequenzen aus Sicht der ausschließlich weiblichen Hauptfiguren aufbaut. Mitreißend, spiegelnd und solidarisch herzerwärmend, mit Reese Witherspoon, Laura Dern, Nicole Kidman und Meryl Streep — tolltolltoll, schauspielerisches flexen!
Es grüßt, Christin
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