Passer au contenu principal

Ogottogottogott, Sven,

mit Deinem Brief vom vergangenen Sonntag hast Du mir eine Denkaufgabe gestellt, an der ich seit einer Woche knoble und die mich wahrscheinlich noch die kommenden 167 Jahre beschäftigen wird: Wenn ich mich nicht über Leute lustig machen darf, die innere Kopfstände vollführen, um ihre Irrationalität logisch scheinen zu lassen, und dabei ständig umfallen wie Sonnenschirme im Treibsand – worüber dürfen wir dann bitte noch lachen? Das mit den 167 Jahren ist natürlich etwas untertrieben. Insgeheim gehe ich davon aus, dass meine Existenz sich bald als so bedeutsam für den Fortbestand der Spezies Mensch erweisen wird, dass man alles daran setzen wird, um mich unsterblich zu machen.

Und damit sind wir bei: Peter Thiel, dem einflussreichsten Investoren im Silicon Valley. Er ist mitverantwortlich dafür, dass es Paypal gibt, ebay und Spotify. Bis vor kurzem saß er im Verwaltungsrat von Facebook, wo er 17 Jahre lang daran mitarbeitete, aus einem Uni-Netzwerk einen Brandbeschleuniger zu machen, der Demokratien überall auf der Welt in soziale Infernos verwandelt. Mit Thiel Capital hat er eine eigene Firma gegründet, die Brandbeschleunigung zum Unternehmenszweck erhoben hat. Nach seinem Tod möchte er sich in Stickstoff einfrieren lassen, damit man ihn wieder wecken kann, wenn jemand einen Entsafter erfunden hat, mit dem man den Tod aus dem Körper ziehen kann. Wäre doch schade, wenn der 54-Jährige in dreißig Jahren schon wieder gehen muss, wo es dann doch gerade erst so richtig lustig geworden sein wird auf unserem kleinen Planeten, der zunehmend zu einem globalen Wilden Westen mutiert, in dem wir alle mit stählernen Pferden über die Prärie reiten, uns nehmen, was uns nach unserer Meinung zusteht, und dabei leise vor uns hin murmeln: „Meine Freiheit beginnt da, wo deine endet. Yippie Yah Yei Veganerfleischersatzbacke. (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Vor sechs Jahren sorgte Thiels 1,2 Millionen-Dollar-Spende für Donald Trumps Wahlkampf dafür, dass sich das Silicon Valley wahrscheinlich nicht zum ersten Mal fragte, wie seine Idee vom Internet als Emanzipationsmedium nur so geschreddert werden konnte. Und bei den Zwischenwahlen für den Senat am 8. November wird Thiel zwei Kandidaten unterstützen für die Zeit nach Trump, von denen einer sagt: „Wenn Sie keine bösen Absichten haben, spricht nichts dagegen, dass Sie eine tödliche Waffe besitzen.“ Wer sich bei ebay diese Wahrheit angesehen hat, interessiert sich auch für: „Sie können sich kein Brot leisten? Essen Sie Kuchen." und „Natürlich stehe ich für die Folgen meines Verhaltens grade – solang sie gut sind.“

Thiel ist Teil einer selbsterklärten Elite, die demokratische Strukturen mit technologischen Innovationen so lang zu zersetzen versucht, bis von einer Gesellschaft, wie wir sie kennen, nichts mehr übrig ist. Dahinter steht ein grunedlegendes Misstrauen gegenüber politischen Institutionen. Er ist der Posterboy einer Haltung, die sich allein deshalb im Recht wähnt, weil sie sich regelmäßig selbst bestätigt – weil wir ihr mit jedem Like auf Instagram und jedem Post auf Facebook, jeder Bestellung bei Lieferando und jedem verschickten Song auf Spotify, jeder Suche auf Google und jedem reservierten Apartment bei Airbnb dabei helfen. Die Thiels haben begriffen, dass sie mit uns alles machen können, was sie wollen, solang sie uns erzählen, was wir hören wollen. Was sie schaffen, weil wir es ihnen mit jedem weiteren Klick etwas mehr verraten.

Thiel ist einer der weltweit mächtigsten jener Schattenmänner, die Regierungsverantwortung ganz neu definieren, weil sie Handeln steuern, ohne sich je selbst dafür verantworten zu müssen. Aber er ist natürlich nicht der einzige. Ein anderer heißt Dominic Cummings, der Stratege hinter der Leave-Kampagne zum Brexit. Der 50-Jährige begreift sich ebenfalls als Outlaw. Auch er ist überzeugt, dass der politische Betrieb so verrottet ist, dass er erst vollends zerstört werden muss, bevor etwas Neues entstehen kann: „We have to hack the political system.“ Auf deutsch: Lasst uns Hackfleisch daraus machen.

2019 hat HBO das wahr gewordene Brexit-Drama verfilmt mit Benedict Cumberbatch in der Hauptrolle. In der ARD-Mediathek steht der Film noch bis Ende Februar. Ich kann nur allen (glaubst Du wirklich, Sven, dass diesen Brief noch andere lesen außer Dir? ABER WIE KANN DAS SEIN?) raten, sich „Brexit – Chronik eines Abschieds“ anzusehen. (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) Cummings hat die Abstimmung gewonnen bzw. gewinnen lassen, weil es ihm gelungen ist, mit der Hilfe von Datenanalysten 1 Milliarde maßgeschneiderte Nachrichten an diejenigen zu schicken, die sich bis kurz vor der Abstimmung nicht sicher waren, wo sie ihr Kreuz machen sollten. Sie ließen sich am Ende von offensichtlichen Lügen verführen, weil sie das Gefühl hatten, dass ihnen mit der aus den Fugen geratenen Globalisierung, der zunehmenden sozialen Ungleichheit und der Überzeugung, dass die politischen Institutionen an nichts Anderem interessiert sind als an Machterhalt, die Kontrolle entglitten sei. Denen versprach Cummings mit dem Slogan „Take back control“, den wegen des großen Erfolgs heute Rechtspopulisten überall auf der Welt einsetzen, er würde die Geschichte verändern. In Wahrheit veränderte er nur seine Geschichte – die eines Narzisten, der es schon einmal versucht hatte, in der Politik Fuß zu fassen, aber gescheitert war und sich nicht interessierte für die Folgen seines Facebook-gestützten Feldzugs. Eine Woche vor dem Referendum wurde die britische Labour-Abgeordnete Jo Cox nach einer Bürgersprechstunde ermordet. Nach Augenzeugenberichten rief der Attentäter bei seiner Tat „Britain first“.

Dass wir uns so schwer tun damit, die tatsächlichen Ursachen der ökologischen, sozialen und ökonomischen Krisen zu erkennen, die jeden Tag an unsere Tür klopfen wie die Wellen eines tosenden Meeres, liegt auch daran, dass einflussreiche Menschen wie Thiel oder Cummings alles dafür tun, um unseren Blick zu vernebeln. Der französische Wissenschaftstheoretiker Bruno Latour fasst das in dem hörenswerten Radiofeature „Vor, während oder nach der Apokalypse? Wo stehen wir heute?“ (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) so zusammen:

Alles spricht dafür, dass ein gewichtiger Teil der führenden Klassen zu dem Schluss gelangt sei, dass für ihn und den Rest der Menschen nicht mehr genügend Platz vorhanden sei. Die Eliten waren dermaßen überzeugt, dass es keine gemeinsame Zukunft für alle geben könne, dass sie beschlossen haben, sich schleunigst von der gesamten Last der Solidarität zu befreien. Daher die Deregulierung. Dass eine Art goldene Festung für jene happy few errichtet werden müsse, die in der Lage wären, sich aus der Affäre zu ziehen. Daher die Explosion der Ungleichheiten. Und dass der bodenlose Egoismus einer solchen Flucht aus der gemeinsamen Welt nur vertuscht werden konnte, indem sie die Ursache dieser verzweifelten Flucht schlichtweg negierten. Daher die Leugnung der Klimaveränderung.

Thiel ist das Produkt einer Entwicklung, die die Gesellschaften im Globalen Norden über Jahrzehnte haben laufen lassen, weil sie ihnen kurzfristig Wohlstand und Fortschritt gebracht hat. Unnötig zu erwähnen, dass auch er nebenbei nicht nur an seiner eigenen Unendlichkeit arbeitet, sondern auch an der Errichtung von Mikrostaaten auf künstlichen Inseln im Ozean – ohne unnötige Spielereien wie Mindestlohn oder Gesundheitsversorgung. Mitkommen darf, wer über genug Geld und Kontakte verfügt. Alle anderen müssen leider draußen bleiben. Es ist die Tragik unserer Zeit: Heute noch vertrauen so viele Menschen auf die Versprechungen von Thiel oder Cummings, dass davon ganze Gesellschaften zu entgleisen drohen – doch wenn es so weit ist, werden sie sich gegenseitig die Köpfe einschlagen, weil Thiel und Cummings im Motorboot nur mit ihresgleichen in ihren Pop-up-Staat düsen werden. Genau genommen passiert das Köpfeeinschlagen ja schon heute.

Damit sind wir zu unserer Denkaufgabe zurückgekehrt. Du wirst nun zurecht fragen, wie das alles, worüber ich in dieser Woche nachgedacht habe, dabei geholfen hat, die Aufgabe zu lösen, die Du mir gestellt hast. Nämlich die Antwort auf die Frage zu finden: Ist es legitim, über jene Witze zu machen, die bockig die Hände vor der Brust verschränken und sich etwa aktuell mit noch so abwegigen Argumenten gegen eine Corona-Impfung zu wehren versuchen?

Ich bin zu folgendem Schluss gekommen: Ich kann mit dem, wovon ich Dir auch in diesem Brief erzählt habe, nur meinen Frieden finden, wenn ich mich darüber lustig machen kann. Humor ist der Treibstoff meiner Hoffnung. Aber wer stets nur über andere lacht, vergisst, dass er selbst Teil der Orientierungslosigkeit ist, die Leute wie Thiel und Cumming mit ihren unsichtbaren Nebelmaschinen erzeugen. Und wenn ich eins nicht will, dann wie die Heute-Show sein mit ihrer "Guck mal, wie doof die alle sind?"-Haltung, bei deren altbackenem Humor ich mir schon auf den rechten großen Zeh hauen muss, um in mir irgendein Gefühl zu wecken.

Mein lieber Sven, ich gelobe Besserung. Von nun an werde ich mit jedem Witz über andere immer auch einen über mich selbst machen. Das Foto, mit dem dieser Brief begann, soll ein Anfang sein. Wenn ich mir das ansehe, bin ich mir plötzlich nicht mehr sicher, ob das mit dem ewigen Leben in meinem Fall wirklich so eine gute Idee ist.

Liebe Grüße,
Dein Kai

https://www.youtube.com/watch?v=cnEQja0jBXs (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

(Deichkind – Denken Sie groß)

0 commentaire

Vous voulez être le·la premier·ère à écrire un commentaire ?
Devenez membre de Briefe zwischen Freunden et lancez la conversation.
Adhérer