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Lieber Kai, 

Seit dieser Woche befinde ich mich im Schwarzwald. Ein Filmprojekt hat mich hierhin gebracht, wodurch ich nun die nächsten Wochen nicht von Berliner Dönerbuden und Spätis umringt bin, sondern von Bäumen und Schwarzwaldhäusern. Nicht Autos von der Straße machen Lärm, sondern die Schleuse vom nahegelegenen Bach (du denkst dir jetzt: Das kann doch garnicht so laut sein - oh, wenn du wüsstest!). 

Es ist sehr schön hier. Gestern war ich drei Stunden wandern, um die Gegend kennenzulernen und einfach mal ein wenig Abstand von allem zu bekommen.  Ich hatte keinen Plan, ich hatte kein Ziel. Ich bin einfach losgegangen, weil ich raus wollte, die Natur sehen, mich bewegen. Es war schön so ziellos zu sein, gerade weil ich hier beruflich als Regieassistenz eigentlich für die zielorientierte Effizienz stehe. Ich stapfte vorbei an den riesigen Bäumen, kleinen Bächen, moosigen Landschaften. Aus dem dunklen Wald zurück ins Licht und wieder zurück. 

Während dieser Wanderung habe habe ich auch über deinen Brief nachgedacht und über die jetzige Zeit im Allgemeinen. Du hast in deinem letzten Brief kritisiert, wie sich die meisten Menschen nicht von ihren eigenen Überzeugungen abbringen lassen möchten und sie sich zu wenig trauen, das Unwissen oder die Unsicherheit zu zu lassen. Diese Kritik kann ich sehr gut verstehen, ich habe da schon öfter drüber nachgedacht.

In meiner eigenen Orientierungslosigkeit bin ich damals auf zwei Begriffe gestoßen, die beide in eine ähnliche Richtung gehen und die mir halfen, mich und diese Unsicherheit besser greifen zu können.
Der erste kommt aus dem Japanischen und heißt: Ma

Das Konzept von ma, so wie ich es mir angelesen habe (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre), ist ein leerer Raum zwischen Handlungen. Es ist die Zeit dazwischen, in der nichts passiert. Die Stille zwischen zwei Sätzen im Gespräch zum Beispiel.
Im Japanischen wird diese Stille, diese Leere, kulturell geschätzt. Sie ist wichtig, damit der eigene Geist zur Ruhe kommt, Ruhe hat. In unserer westlichen Kultur haben Stille und Leere eher eine negative Konnotation und unterbinden diese unentwegt.

Wir reizen und fluten unseren Geist mit Bildern, Informationen - wir fallen einander ins Wort. Wenn wir nichts zutun haben, scrollen wir durch Facebook, Instagram, YouTube. Anstatt nichts zutun, anstatt Leere zuzulassen, sagen wir uns: Konsumier mehr. Lass die Leere nicht zu, sie ist langweilig.
Wie viele Stunden wir alle wohl auf diesen Plattformen verbracht haben zur "Ablenkung", die uns zwar bestimmt unterhalten haben, aber letztlich auch genauso austauschbar waren ? Sie sind wohl unzählbar. Oder das Phänomen auf den Streaming Portalen mehr Zeit damit zu verbringen den Film auszusuchen als den Film zu schauen...

Ich möchte hier nicht den unschuldigen Mahner spielen Kai, ich hab nichts gegen Ablenkung, Zerstreuung, whatever. Und ich bleib genauso auf YouTube oder vor dem Fernseher (!) hängen. Womit ich hadere ist, dass es zu einem automatisierten Reflex geworden ist. Dass wir die Stille, die Leere stets überbrücken wollen, anstatt sie zu zu lassen und zu sehen, was daraus entstehen kann. Der Brückenschlag zum erforderten Verzicht, den wir im Kampf gegen den Klimawandel brauchen, erklärt sich von selbst - wir reden vom gleichen Phänomen.
Für die Bekämpfung des Klimawandels fordern wir Nicht-Konsum und Verzicht. Im allerersten Moment folgt dahinter aber erst einmal nur Leere, ein leerer Raum, der augenscheinlich neu zu befüllen ist. Dass das erst einmal Angst macht und keine Freudensprünge auslöst, kennen wir alle. 

Das führt mich auch gleich zu meinem nächsten Begriff: Liminalität.

Liminialität ist, hi Wikipedia!, (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre) ein Schwellenzustand, in dem sich Individuen oder Gruppen befinden, nachdem sie sich rituell von der herrschenden Sozialordnung gelöst haben. Die Pubertät wäre ein Beispiel. Aber auch das Ende eines Jobs, das Ende einer Beziehung - sie alle bedeuten das Ende der eigenen sozialen Ordnung, was erst einmal für Unsicherheit, Verwundbarkeit und Leere sorgt. Es ist die Zeit der Unordnung, indem die Karten neu gemischt werden.

Du hast das im letzten Brief so pointiert beschrieben: "Es heißt immer so schön: Manchmal muss man im Leben eine Tür zuschlagen,  bevor sich eine neue öffnet. Doch was es dabei nicht heißt, ist, dass man dann erstmal in einem Flur steht, in den kein Licht gerät. Das muss  man aushalten, Schritt für Schritt, mit den Händen an den Wänden  vorantastend, getragen von der Hoffnung, dass sich irgendwann und  irgendwo eine Tür öffnen wird. Je größer die Orientierungslosigkeit,  umso länger der Flur – das ist die Herausforderung."

Ich sehe das auch so. Ich würde aber noch hinzufügen, dass dieser Flur zugepflastert ist mit großen bunten Werbeanzeigen, die uns mit leichten Ausflüchte und Antworten locken. Es wird uns täglich suggeriert, wir müssen nur diese Sportschuhe oder diese App herunterladen, um endlich glücklich zu werden. Populistische Politiker zeigen uns auch einfache Wege auf, die uns wieder glücklich, great again, machen. Fast Food für die Seele, quasi.
Anstatt die Zeit im dunklen Flur als einen wichtigen Prozess zu fördern, ist in unserer Kultur der Satz "Ich weiß es nicht." ein Zeichen von Fehlbarkeit, Verwundbarkeit und persönlichem Scheitern. Oder wie es Charly Kaufman formulierte: "It's a sign of great weakness if you cannot just do it (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)."

Wir werden ständig mit unseren Ängsten und Fehlbarkeiten konfrontiert und sind dafür am verwundbarsten, wenn die Zeiten am unsichersten sind. Inmitten zweier globalen Krisen, der Klima und Corona Krise, sind wir als ganzer blauer Planet in einer liminalen Phase.
Was ich wie du in dieser Phase vermisse, ist die Erkenntnis, dass wir alle unsicher sind, wir alle nicht haargenau wissen, wie diese großen gesellschaftlichen Veränderungen umgesetzt oder möglich sind, aber wir alle gemeinsam für uns festhalten:

Das ist okay so. 

Solange beide Seiten - sowohl die Seite, die den Wandel möchte, als auch die Seite, die am alten System festhält -  weiterhin innere Zweifel als ein Zeichen der Schwäche und nicht als Zeichen des Prozesses darstellen, werden wir nie auf der anderen Seite des Flurs heraus kommen, sondern von den großen grellen Neon-Werbebannern auf dem Weg dorthin verschluckt werden. 

Ich möchte als Filmtipp für diese Zeit dir Spirited Away, bzw. auf deutsch: Chihiros Reise ins Zauberland, ans Herz legen. 

https://www.youtube.com/watch?v=ByXuk9QqQkk (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Du hast den Film vielleicht schon gesehen. Selbst dann oder auch wenn du vielleicht sonst keine Animationsfilme magst, ist dieser Film nicht nur ein filmisches Meisterwerk, sondern greift alle obigen Themen in solch einer Poesie auf, die meiner Meinung nach ihres Gleichen sucht. 

Als ich Berlin verlassen habe, begann das Stadtleben so langsam wieder aufzublühen. Die Inzidenzzahl ist mittlerweile unter 50, die Außengastro hat geöffnet. Die Stadt lebt wieder. Für mich ist es schade nicht Teil dieses Übergangsprozesses zu sein, ich wäre gerne dabei, aber ich freue mich auf deine Beobachtungen und Erzählungen dazu.
Ich bin sehr gespannt, wo die Stadt am Ende heraus kommt und gucke mir das dann im August an. Solange genieße ich hier, wo und wann immer es geht, die Ruhe und den Abstand und versuche mich mal selbst an ein bisschen mehr ma.

Liebe Grüße

Dein Sven

https://www.youtube.com/watch?v=_GdOhROdh9c (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

(Lambert - Stay in the dark)



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