Passer au contenu principal

Mein lieber Kai,

Ein wunderbarer Track, danke. Da fahren sich die ersten Kilometer ja von schon ganz von alleine! Ja, lass das machen! Gerne schon diesen Sommer, als persönlicher Testrun, ich muss ja wissen, was ich den Menschen da verkaufe!
Am liebsten auch gerne mit Ilse, Inge und Karin und einmal wild um die Parkbank tanzend,  gerne auch Reise nach Jerusalem spielend dazu! 

Ha - Was schreib ich denn da? Reise nach Jerusalem. Ich schreibe das so nonchalant dahin und stolper über diese Wortkombination. Sagt man das noch überhaupt? Ich höre auf zu schreiben, um sicher zu gehen, in keine sprachliche Tretmine gestapft zu sein. Wikipedia sagt mir schnell, dass der Ursprungs dieses Namens nicht geklärt ist. Dass das Spiel in Österreich "Reise nach Rom" heißt, in Israel kisaot musikaliim, "Musikalische Stühle".  In Deutschland aber: Reise nach Jerusalem. 

Letztes Jahr hatte ich meine eigene Reise dorthin. Ich besuchte Jerusalem das erste Mal. Es war eine überwältigende Erfahrung. Überwältigt von der Kraft dieses Ortes, auf so vielen Ebenen. Auch ohne aktivem Religionsbezug spürst du die Energie dieses Ortes. Der Stadt haftet wahrlich etwas Mythisches an, gibt es wohl keine Stadt, die einem - vom Religions- und Geschichtsunterricht bishin zu heutigen Tagesnachrichten - so oft begegnet. 

Jerusalem. Da läufst du durch die Via Dolorosa, bist zehn Minuten später an der über alles stehenden, von überall sichtbaren al-Aqsa Moschee, stehst kurz danach an der Klagemauer. Die größten Religionen der Welt vereint auf einem zwanzig minütigen Spaziergang. Eine wahnwitzige Erfahrung, auch in Hinblick der heutigen Ereignisse, der historischen ganz zu schweigen.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Besuch dieser Orte an irgendwem spurlos vorbei gehen kann. 

Was ich jetzt in den Nachrichten gesehen habe, was genau an diesem Ort passiert ist, wo ich vor sechszehn Monaten dieses Foto gemacht habe , pre-corona, als klassischer Tourist, erschüttert mich, wie mich dieser ganze Konflikt zutiefst... beschäftigt.

Der Konflikt zwischen den Israelis und den Palästinensern gilt als unlösbar. Die Historie dieses Konflikts ist vielschichtig, schwierig. Und sie erzählt so viel über alle Probleme, die auf dieser Welt toben. Dieser Brief wird niemals die Möglichkeit haben, diesen Konflikt auch nur auf der Oberfläche greifen zu können. Ich möchte mich hier auch auf keine Seite stellen.  Zu all dem wäre ich garnicht in der Lage. Sondern es soll um meine Reise nach Jerusalem gehen. 

Meine Reise endete nämlich nicht in der Altstadt, auf den Pfaden Jesus oder Mohammeds. Sie hatte dort ihren Anfang. Sie führte mich stattdessen weiter, nach Yad Vashem und somit zu noch mehr Bildungsetappen, zu mehr Geschichtsunterricht. Wie an so vielen Orten dieser Stadt erwachte hier auch ein großer Teil meiner Schulbildung plötzlich zum Leben, aber viel ergreifender, ja auch persönlicher als die religiösen Stätten es für mich leisten konnten, trotz aller Faszination und Ehrfucht vor diesen Stätten und dem starken Glauben an sich. 

Yad Vashem.
"Gedenkstätte der Märtyrer und Helden des Staates Israel im Holocaust" heißt es trocken auf Wikipedia. Dieser Ort ist jedoch viel mehr als das. Ich war noch nie in Ausschwitz, Kai. Ich habe es vor, sobald Corona es zulässt. Aber kein Museum, kein Mahnmal, kein Arbeitslagerbesuch in Deutschland konnte mir je so viel begreiflich machen über die deutsche, nationale Bürde, die wir alle zu tragen haben, wie der Besuch in Yad Vashem. 

Einige Tage vor meines Besuchs hat unser Bundespräsident eine Rede vor Ort gehalten. Ich teile nicht immer alles, wofür unser Frank-Walter Steinmeier steht oder stand. Stichwort Murat Kurnaz zum Beispiel (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre). Dennoch fand ich seine Rede sehr berührend und wichtig. 

https://www.youtube.com/watch?v=aWarJrXDku0 (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Ich kann dir nicht beschreiben, wie es ist, wie es sich anfühlt, dort zu sein, Kai. Ich habe einige Fotos gemacht, wie hier. Aber greifen konnte ich es nicht. Es blieb beim kläglichen Versuch. 

Dies ist das Denkmal zur Erinnerung an die Deportieren. Ein Reichsbahnwagen, mitten in Jerusalem. Ich will nicht wissen, wer alles in diesem Reichsbahnwagen um sein Leben gebangt hat. Ich kann dir nur sagen, dass ich mich dort vor Ort, mit den unzähligen Namen und Gesichtern, die mir auf dem Gelände von Yad Vashem begegneten, in einer Weise deutsch gefühlt habe, wie es noch nie zuvor tat.
Es ist immer schlimm, schrecklich, sich mit dem Holocaust auseinandersetzen zu müssen. Aber in einen Flieger zu steigen, auf einem anderen Kontinent zu landen und dort zu sehen, wie die Taten deines Landes für die familiären Narben und Wunden von schier allen Menschen, die dich gerade in diesem Moment umgeben, verantwortlich sind? Dass quasi jeder Jude dir dort eine persönliche Geschichte zur Shoah erzählen kann?
Das ließ mich wortlos zurück. Dort zu sehen, wie viel Leid mein Land hier zu verantworten hat - das war nicht greifbar, nicht beschreibbar. Und bis heute bin ich keinen Deut weiter, das besser in Worte fassen zu können. 

Gleichzeitig, und das mag jetzt eventuell grotesk erscheinen, habe ich mich durch diesen Ort auch sehr deutsch gefühlt. In einer Art und Weise, wie ich es wohl noch nie tat. Nicht aufgrund eines Gefühls der Überwindung, eines Gefühls einer neuen Generation, die neue Anfänge prägen wird. Mit nichten.
Was ich aus Yad Vashem mitnahm, war das Gefühl von historischer Verantwortung, wie wir mit Hetze, mit Menschenfeindlichkeit hier in Deutschland umgehen müssen.
Wir scheitern an dieser Aufgabe unentwegt, ja, aber ich erwarte von uns, dass wir wie Sysiphos nie aufgeben, in diese Richtung zu streben. Das bleibt unsere Aufgabe. Nie wieder.

Was Yad Vashem und Steinmeiers Rede jedoch auch zeigen, ist, dass Deutsche und Israelis trotz oder wegen dieser Geschichte,  trotz oder wegen dieser schrecklichen Vergangenheit für immer verbunden sind, was jedoch nicht gleichbedeutend mit ewigem Hass sein muss. Nehmen wir zum Beispiel das kulturelles Band zwischen Tel Aviv und Berlin - es erscheint mir wie ein kleines Wunder. 

Blicken wir auf an die Tötungen in Israel und Gaza von heute, gibt es für mich leider nichts Neues zu sagen. Ich kann mich auf keine Seite stellen, jemandem die Schuld zu weisen, in irgendeiner Form Vorwürfe machen. Nicht nur als Deutscher kann ich das nicht, auch einfach so weiß ich dafür dann doch zu wenig. 

Was ich aber weiterhin haben werde, ist die Hoffnung, dass dieses endlose Kapitel nicht so endlos bleiben muss, dass diese Geschichte nicht so blutig, nicht so deprimierend, nicht so aussichtslos bleiben muss. Der stärkste Glaube, den ich habe ist der an eine bessere, friedlichere Zukunft, solange für sie gekämpft wird, aller Rückschläge zum Trotz. 

Das jüdische und das deutsche Volk werden für immer verbunden sein. Ob wir wollen oder nicht. Die Frage ist nur, wie wir diese Geschichte weiterspinnen. Und diese Frage stellt sich, gerade hinblicklich Israel, bei vielen Staaten. Ob ich an eine schnelle Befriedung glaube? Leider nein. Sehe ich langfristig realistische Auswege? Leider nein. 

Und du wirst jetzt auch vielleicht aufstöhnen, dass ich auch hier schon wieder die Hoffnungskeule schwinge. Beim Nahostkonflikt. Ernsthaft, jetzt?

Aber wenn mich eins daran erinnert, dass die wahren Wunder unserer Menschheitsgeschichte nicht allzu lange zurück liegen müssen, dann steht dafür nicht nur die neue Beziehung, die Deutschland mit Israel pflegt.
Auch könnte dafür stehen, dass es sich weiß Gott nicht wie ein religiöser oder politischer Widerspruch anfühlt, dass ich meinen Brief über Jerusalem mit der Rede eines Schriftstellers mit iranischen Wurzeln beende, dessen Geburtstadt - nein, nicht Teheran, sondern Siegen in Südwestfalen - zufälligerweise meine Universitätsstadt war. 

https://www.youtube.com/watch?v=hj_7dZO3pSs (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Die Welt ist kompliziert. Sowohl in kriegerischen als auch in friedlichen Zeit. Das Einzige, was wir uns immer trauen sollten, ist es immer wieder, die aufrichtige, menschliche Begegnung zu suchen. Ich hoffe das gelingt uns immer mehr in Zukunft, auch in so schwarzen Tagen wie diesen. Navid Kermani bezeichnet in seiner Rede "Die Würde des Menschen ist unantastbar" als herrlichen deutschen Satz. Ich finde Versöhnung ist auch so ein herrliches deutsches Wort.

Ich freue mich schon auf die Abenteuer und Begegnungen unserer Radtour.
Wie wärs mit August? 

Ich wünsche dir eine schöne Woche.

Liebe Grüße

Dein Sven

https://www.youtube.com/watch?v=KCrOeUP9SEk (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

0 commentaire

Vous voulez être le·la premier·ère à écrire un commentaire ?
Devenez membre de Briefe zwischen Freunden et lancez la conversation.
Adhérer