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Mein lieber Sven,

ich stand heute Nacht auf der Geburtstagsparty eines lieben Freundes, der praktischerweise Du selbst warst (und damit auch Dir alles Gute, Große und Schöne zum Geburtstag – wie schön, dass Du geboren bist, wir hätten Dich sonst sehr vermisst!) auf eine Zigarette am Fenster mit einer ebenfalls lieben Freundin und sprach mit ihr über das Leben, die Liebe und was beiden einander machmal im Weg steht. Da sagte sie sinngemäß: Die Schönheit des Moments zu ertragen, auch wenn er schmerzhaft ist, ihn zu halten und nicht davor wegzurennen – das ist der Auftrag. Da nahm ich sie in den Arm und gab ihr einen Kuss und damit in gewisser Weise auch dem Schmerz.

Die Fähigkeit, den Schmerz anzunehmen, ist, woran es uns als Gesellschaft gerade so sehr mangelt, dass ich jeden Morgen schreien möchte, wenn ich das Radio anschalte und das nächste Interview höre zur vierten Welle. In welchem Corona-Winter sind wir jetzt nochmal, Sven – ist es der fünfte oder der sechste? Die Bitte, zu Weihnachten auf Reisen durchs Land zu verzichten, wie das der designierte Verkehrsminister Volker Wissing heute getan hat, weil die vor uns liegenden Wochen härter würden als die vor einem Jahr, ist inzwischen unser Virus for One-Moment: „The same procedure as last year, Miss Sophie?" „The same procedure as every year, James.“

Die Pandemie zwingt uns Anstrengungen auf, vor denen man am liebsten davon liefe. Wir können nicht tanzen und uns nicht bedenkenlos in die Arme fallen. Wir stecken uns regelmäßig ein Teststäbchen in die Nase, das sich anfühlt, als würde uns jemand am Gehirn kitzeln. Und wir müssen einen Impfstoff in den Körper lassen, zu dem es keine Langzeitstudien gibt. Isnichtwahr! Dass es gelungen ist, in so kurzer Zeit einen Covid-Impfstoff herzustellen, ist ein kleines großes Wissenschaftswunder und das Ergebnis jahrzehntelanger Forschung. Aber mitunter tun Menschen so, als hätte jemand nach dem Aufstehen ein paar Arme und Beine von Corona-Toten durch den Entsafter geschoben, um dann zu sagen: „Leute, ich bin nicht ganz sicher, aber ich glaube, das hilft. Prost.“

Am bislang lustigsten fand ich die Aussage eines AfD-Bundestagsabgeordneten, der im Bundestag sagte, der mRNA-Impfstoff sei genmanipuliert. Das ist intellektuell etwa auf der Flughöhe von: Ketchup ist tomatenmanipuliert. 

Corona ist eine Naturkatastrophe. So zu tun, als könne man vor ihr Augen und Ohren verschließen, ist eine noch größere. Gestern habe ich einen Text gelesen (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)über Menschen, die sich nun doch impfen lassen. Bei den Befragten ging es nie um überlaufende Intensivstationen oder Verantwortung für andere, sondern um: „Sie lassen mich nicht mehr in den New Yorker.“ Ach, Sven.

Ja, ich weiß, dass viele Angst haben vor einer Impfung. Und man darf über diese Sorgen nicht lachen und alle für irre halten, die sie sich machen. Die Nebenwirkungen sind keine Hirngespinste und wir sind gut beraten, die Angst davor ernst zu nehmen und darüber mit Respekt und Fürsorge füreinander zu sprechen. Aber wer mit Verweis auf die möglichen Folgen einer Corona-Impfung den eigenen Beitrag dazu verweigert, diese Scheißzeit hinter uns zu bringen, darf auch nicht ins Auto steigen. Straßenverkehr hat auch Nebenwirkungen – man nennt sie Unfall. Im September sind laut Statistischem Bundesamt 268 Menschen bei Straßenverkehrsunfällen ums Leben gekommen. (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)Von Toten bei Impfunfällen habe ich noch nichts gelesen. Liegt wahrscheinlich daran, dass die Systempresse nicht darüber berichtet.

In Wahrheit sind gerade viele nicht bereit oder imstande, sich dem Schmerz auszusetzen, den uns das Leben bereitet. Ich kann das verstehen. Wenn ich in eine Scherbe getreten bin, versucht mein Fuß auch, dem, was weh tut, im Wortsinn zu entgehen. Aber davon wird halt nichts besser. Dann leiern die Bänder aus und man braucht irgendwann Einlegesohlen.

Dabei wäre es so wertvoll, bis über die Knie in den Schmerz zu steigen. Die Schönheit des Moments, in dem wir gerade stecken, besteht doch darin, zu erleben, dass auch wir Teil der Natur sind, zu erkennen, dass der Mensch die Krone der Schöpfung sein mag, aber in einem Königreich lebt, in dem er sich auch mit dem härtesten Burgtor nicht abzuschotten vermag, und wenn doch, dann zum Preis all dessen, was das Leben lebenswert macht, und zu begreifen, dass eine Gesellschaft nur so weit funktionsfähig ist, so weit jede und jeder Einzelne sich als ihr aktives Mitglied begreift. Ein Orchester, in dem an der dritten Trompete jemand konsequent einen Halbton zu tief spielt, ist auch nicht überlebensfähig. Beziehungsweise nur für Banausen.

Deshalb kann ich nur allen wünschen, zu erleben, was wir sind und haben, Sven. Beisammen zu sein, wenn es weh tut, jemanden bei sich zu haben, der einen hält, wenn man weint, und morgens um sechs Arm in Arm im Kreis zu stehen, wenn die Flaschen leer sind und fast alle weg und das Stück läuft, mit dem ich diesen Brief beende – das bedeutet Glück. Weil der Schmerz dann unter uns sein und seinen Raum haben darf.

Im Sommer habe ich ein T-Shirt gekauft mit dem schönen Satz „Make Love Great Again“. Irgendwann werden sich diejenigen, die sich jetzt dem Schmerz stellen, in den Armen liegen und wissen, dass die Liebe in ihnen noch größer geworden ist. Diese Aussicht macht mich froh. Und jetzt geh ich weinen. 

Dein Kai

https://www.youtube.com/watch?v=kLyjzS5epVw (S'ouvre dans une nouvelle fenêtre)

Rinaldo, HWV 7a, Act II, Scene 4: Lascia ch'io pianga (Arr. for French Horn)

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