Die Kunst des offenen Blicks
In diesem Newsletter erfährst du, wie ein verflixter Film und ein ungewöhnlicher Trick eines Fotografen meine Art, durch den Sucher zu blicken, für immer veränderten. In sechs Minuten Lesezeit.
Liebe Leser:in, kennst du das Gefühl, wenn ein Satz dein fotografisches Denken auf den Kopf stellt? Bei mir lautete er: „Go out with an empty mind“. Es begann mit einem verflixten Film, den ich vor ungefähr zehn Jahren sah. Frag mich nicht nach dem Titel, denn den habe ich mittlerweile so erfolgreich verdrängt, dass mein Gehirn und selbst Google ihn nicht mehr herausrücken wollen.
Jedenfalls sah ich einen Fotografen, der einen interessanten Trick hatte. Bevor er sich auf Motivjagd begab, entschied er bewusst, sämtliche Erwartungen und Wünsche, die sich in seinem Kopf herumtrieben, wahrzunehmen. Damit meinte er sinngemäß: Schatten von Menschen, kontrastreiche Muster, Silhouetten im Gegenlicht.
Doch das Entscheidende kommt jetzt: Anschließend warf er jede dieser Erwartungen über Bord und machte sich willentlich frei davon. Mit diesem „empty mind“ zog er mit der Kamera los. Dieser Gedanke packte mich.
Meine fotografische Prägung
Ich versuchte, mir diese Haltung anzueignen – und musste zuerst herausfinden, welche fotografischen Einflüsse mich geformt hatten. Es sind diese Aufnahmen, die uns ob ihrer Komposition, Rafinesse oder genialen Perspektive den Atem rauben und sich deshalb in unser Gedächtnis einbrennen. Sie inspirieren uns, genau so ein Foto zu machen. In der Beginner-Phase zeigen sie uns, was fotografisch möglich ist.
Die Arbeit von Martin Parr in den 80ern faszinierte mich unfassbar, die ich in seinem Buch „The Last Resort“ (Opens in a new window) fand. Er hob Farben mit dem Einsatz eines Blitzes hervor und stellte gleichzeitig die Tristesse des Strandlebens unromantisch und unbeeindruckt dar.“ Ich war dazu sehr beeinflusst von Matt Stuarts Situationskomik in „All That Life can Affort“ (Opens in a new window) und den frechen, überdrehten Fotos der Flickr-Gruppe Hardcore Street Photography (Opens in a new window).
Vertieft in diesen Stil fotografierte ich monatelang exakt auf diese Weise auf Karlsruhes Straßen.
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Plötzlich sah ich Dinge
Es fühlte sich sofort befreiend an, mich von diesen Vorstellungen zu lösen. Jedoch war das keine Von-heute-auf-morgen-Entscheidung, sondern ein langsamer Prozess, in dem Tag für Tag Druck von mir abfiel, einem bestimmten Motiv nachzujagen.
Und weißt du was? Plötzlich sah ich Dinge, die ich vorher nie wahrgenommen hätte, nämlich die Spiegelungen von Menschen in Pfützen, Blumen hinter Tüten, oder Szenen ganz ohne Menschen.
Aber nicht nur auf der Straße. Bei Auftragsporträts, fotojournalistischen Projekten für Magazine: Immer versuchte ich, offenzubleiben für das Unbekannte, für den Moment, der mich plötzlich anspringt und sagt: „Hey, hier bin ich! Fotografiere mich, du Verrückter!“
Der offene Blick ist kein Hack
Ganz ehrlich: 100 Prozent frei wurde ich nie von den Fotobüchern und Internetbildern – und ich möchte hier nicht so tun, als ob man einfach loslassen muss und schwuppsdiwupps GENIALE FOTOS macht.
So ein Märchen brauche ich dir nicht erzählen, diesen Hack gibt es nämlich nicht. Gleichzeitig glaube ich daran, dass wir davon profitieren können, unsere eigenen Sehgewohnheiten zu reflektieren und bewusst zu versuchen, offen für das zu bleiben, was wir normalerweise ausblenden.
Welche Fotograf:innen haben dich beeinflusst? Kannst du dich von ihrem Stil lösen?