„Jean Seberg“: Interview mit Regisseur Benedict Andrews

Der Film „Jean Seberg – Against all Enemies“ ist seit 17.9. im Kino zu sehen. Wir baten Regisseur Benedict Andrews zum ausführlichen Interview.
von Paul Kunz
Film plus Kritik: Hallo, Benedict! Ich möchte gerne mit der Frage starten, was dich an der Geschichte von Jean Seberg fasziniert hat? Warum wolltest du diesen Film drehen?
Benedict Andrews: Es war die Entdeckung, was Jean während der späten 60er Jahre widerfahren ist, als ich das Drehbuch von Anna Waterhouse und Joe Shrapnel las. Wie so viele Filmliebende hatte ich insbesondere wegen „Außer Atem“ bereits vorher ein Bild von Jean Seberg und eine ungefähre Idee davon, wie ihr Leben verlaufen ist. Aber ich habe nicht verstanden, auf was für eine boshafte Weise sie wegen ihrer politischen Einstellungen vom FBI ins Visier genommen wurde. Die Schnittstelle zwischen Kino, Politik und der Frage nach Freiheit und Begierde im Privaten hat mich sofort fasziniert. Jean war der Knotenpunkt zwischen diesen sehr verschiedenen Welten. Das Leben einer Schauspielerin findet in der Öffentlichkeit statt, sei es vor der Kamera oder auf der Bühne. Es ist eine besondere Art von Arbeit, den eigenen Privatraum für ein Publikum zu erkunden, auszugraben und preiszugeben. Und dann wendet sich die gleiche Maschinerie – Kameras, Mikrophone und so weiter – in Form von Überwachung gegen sie um den Privatraum, dieses wertvolle Material von Schauspielern, anzugreifen und ihn als Waffe zu benutzen.
Film plus Kritik: Überwachung ist ja auch ein aktuelles Thema.
Benedict Andrews: Der Film ist eine Studie der Turbulenz und Veränderung in der amerikanischen Politik gegen Ende der 60er Jahre. Aber es ist auch eine Geschichte, die die Grundlagen vieler Aspekte unserer gegenwärtigen Kultur sichtbarmacht. In der analogen Überwachung sehen wir gewissermaßen die DNS dessen, was die Kultur der Massenüberwachung werden wird, in der wie nun leben. In ihr sehen wir auch diese Umwandlung der Wahrheit zur Waffe und wie sie Teil eines politischen und kulturellen Krieges werden kann.
Film plus Kritik: Wie ist die Suche nach der richtigen Schauspielerin für Jean Seberg abgelaufen?
Benedict Andrews: Es ist eine sehr schwierige Ausgangslage, wenn man einen Film besetzen will, in dem jemand eine sehr bekannte Person spielt. Insbesondere wenn es eine Schauspielerin ist, die eine andere Schauspielerin verkörpern soll! Man möchte mehr als eine bloße Imitation; man möchte jemanden, der eine andere Person wird, aber diese Person auch transzendiert. Also haben wir jemanden gesucht, der die gleiche Rohheit, diese raue Intensität und Leuchtkraft hat, die Jean auch hatte. Und als Kristen ins Spiel kam, wurde klar, dass es keinen Sinn machen würde, den Film ohne sie zu drehen. So viele Aspekte der Leben der beiden stimmten miteinander überein. Beide wurden bereits relativ jung dem Scheinwerferlicht ausgesetzt. Jean gewann einen Wettbewerb um Jeanne d’Arc zu spielen; Kristen spielte als Zehnjährige in „Panic Room“ und später in den „Twilight“-Filmen. Interessanterweise existieren beide zwischen dem Hollywood Mainstream Kino und dem Independent Kino – jedenfalls in dem Ausmaß, in dem es das in den späten 60ern gegeben hat. Und natürlich war sie der Star der Nouvelle Vague. Kristen ist zurzeit die einzige Schauspielerin, die die durch ihre Filme mit Olivier Assayas die Welt des französischen Kinos ebenso kennt, wie das amerikanische Kino. Kristen hatte also diese Verbindung mit Jean und sie wollte ihrer Geschichte gerecht werden.
Film plus Kritik: „Jean Seberg – Against all Enemies“ ist deine zweite Regiearbeit bei einem Spielfilm. Davor hast du Theater und Oper gemacht. Was sind die wesentlichen Unterschiede zwischen diesen Medien?
Benedict Andrews: Als jemand, der seit 20 Jahren Theater und Oper gemacht und mit Schauspielern im Probenraum gearbeitet hat, kann ich sagen, dass man in Theater und Film an der gleichen Stelle gräbt. In beiden Medien arbeitet man als Team zusammen, um Fragen darüber zu stellen, was es bedeutet, am Leben zu sein. Aber obwohl sie vom selben Ort kommen, bieten sie in der Betrachtung sehr unterschiedliche Möglichkeiten. Das Theater ist ein privilegierter Raum, weil man als Regisseur für ein paar Monate allein mit den Schauspielern ist – und dann wird an das Publikum übergeben. Beim Filmschaffen dagegen läuft der Prozess in drei Phasen ab, denn es gibt die Entwicklung des Stoffs, den Dreh und den Schnittraum. Jede Phase erinnert mich an den Probenraum im Theater: man sucht, man erschafft neu und man entdeckt Dinge. Eine andere Sache ist die Kamera. Durch die Intimität der Kamera kann das Kino ein „Bewusstsein des Träumers“ herstellen. Damit meine ich dieses engelhafte Bewusstsein, das es uns erlaubt, viel näher an Menschen und ihre Welt heranzutreten, als wir es ohne Kamera könnten. Das gibt es im Theater nicht. Während im Theater die gesprochene Sprache die Welt erschafft, wird sie im Kino von der Kamera überschrieben. Neben dem Bild ist sie sekundär.
Film plus Kritik: Da wir gerade von der Kamera sprechen – für diesen Film hast du mit der oscar-nominierten Kamerafrau Rachel Morrison zusammengearbeitet. Kannst du etwas über diese Zusammenarbeit und die Filmsprache von „Jean Seberg – Against all Enemies“ erzählen?
Die Zusammenarbeit mit Rachel war sehr dynamisch. Der Film sieht unglaublich elegant aus; sie hat einen sehr speziellen Look für die späten 60er gefunden. Generell haben wir in allen Abteilungen versucht, nicht dieses Klischee der 60er zu erfüllen. Jean hat dem nicht angehört. Der Dreh war schwierig und schnell und es gab viel zu tun, aber Rachel hat ein außergewöhnliches Talent für diese Arbeitsweise. Die erste wichtige Entscheidung war, auf Film zu drehen, damit man den Zeitraum durch das Filmkorn riechen kann. Diese Schönheit und Wahrheit des Films ist wichtig in einer Geschichte, die sich auch mit Kino befasst. Wir haben außerdem viele Verschwörungs-Thriller der 70er Jahre angesehen – „Der Dialog“ war eine wichtige Inspiration, der wir im Film auch ein paar Mal Ehre erweisen.
Etwas, das Film als Medium sehr schön bewerkstelligt ist, wie er Personen innerhalb der Mechanismen ihrer Gesellschaft verorten kann. Es gibt Werkzeuge, wie man das Gefühl der Wände vermittelt, die Jean mehr und mehr einengen. Rachel und ich haben viel darüber gesprochen, wie man das Publikum in Jeans Paranoia und Zusammenbruch hineinziehen kann. In dieser Hinsicht besteht der Film gewissermaßen aus zwei Teilen. Zunächst sind wir in der Welt der Benefizveranstaltungen für die Black-Panther-Bewegung; ein Rahmen, in dem Jean als „Touristin“ bezeichnet wird. Doch in der zweiten Hälfte des Films beginnen sich die Hände um Jeans Hals zu schließen, auch wenn Jean es nicht realisiert. Und wir sehen ihr dabei zu, wie sie in die Fallen tappt, die für sie aufgestellt werden. Die Kamera sollte das auf organische und subtile Weise widerspiegeln. Deshalb ist sie in der ersten Hälfte weicher und eleganter und im Laufe der zweiten Hälfte gehen wir zur Handkamera über. Der Übergang funktioniert deshalb so gut und unauffällig, weil Rachel eine der phänomenalsten Kameraleute im Umgang mit der Handkamera ist. Aber bei der handgehaltenen Kamera spürt man diesen Tanz zwischen Rachel, Kristen und den anderen Schauspielern.

Film plus Kritik: Du hast die Szene angesprochen, in der Jean als „Touristin“ in den Leben schwarzer US-Amerikaner bezeichnet wird. Jetzt ist der Film einerseits das Portrait einer Frau, deren Psyche in der Öffentlichkeit attackiert wird, er thematisiert aber auch Probleme zu race und kontrastiert Jeans Weißsein und ihren Wohlstand mit der Unterdrückung, die schwarze Personen in den USA tagtäglich erfahren. War es schwierig, diese Gratwanderung richtig hinzukriegen?
Benedict Andrews: Es ist ein stark emotionsgeladenes Thema. Wir wollten Jean nicht als Heilige oder die perfekte Märtyrerin darstellen. Ich habe mich für ihre Komplexität und ihre Fehler interessiert und einige dieser Aspekte direkt problematisiert. Deswegen halte ich diese Szene für so wichtig. Es reißt dieses Problem nicht nur für das Publikum auf, sondern auch für Jean selbst. Ich liebe diesen Moment, in dem ihre ganze Idee von sich selbst und ihrer Beteiligung an der Sache in Frage gestellt wird.
Einerseits ist sie eine Frau, die als Jugendliche begonnen hat, die NAACP zu unterstützen, was in den 1950ern absolut revolutionär war und die, denke ich, einen ehrlichen Kampf gegen Ungerechtigkeit geführt hat, auch wenn dieser oft mit ihrem Sexualleben vermengt wird. Auf der anderen Seite zeigt der Film sie in diesem „Glaskäfig“, also – so denke ich darüber. Ich meine damit diesen sehr privilegierten Ort, ihr Haus hoch oben in den Hollywood Hills, von dem aus sie hinunter zur Wohnung des Aktivisten Hakim Jamal fährt und dabei quasi die Grenze zwischen zwei Welten überschreitet. Jean als Grenzüberschreiterin fand ich interessant und das wollten wir problematisieren.
Um zu deiner Frage zurückzukehren: das richtig hinzukriegen war ein Drahtseilakt. Man konnte leicht in die eine oder andere Richtung kippen. Das Publikum sollte sich mit Jeans Aktivismus identifizieren können und erkennen, dass es wichtig ist, aus der eigenen Blase hinauszutreten und gegen Dinge anzukämpfen, die man für falsch hält. Jean hat sehr simple Dinge getan: sie hat Geld gespendet und Spendenveranstaltungen ausgerichtet und wurde dafür von einer amerikanischen Regierung attackiert und zerstört, die einen Krieg gegen das schwarze Amerika führte. Wenn wir die Leben von schwarzen Aktivisten wie Hakim und Dorothy berühren, wollten wir aber nie den Anschein erwecken, als würden wir deren Geschichte zu 100% erzählen. Das wäre ein eigener Film. Ihre Leben werden nur durch die Linse von Jeans Beteiligung betrachtet. Lehnt man sich also zu weit in die eine Richtung und betont Jeans Privilegien zu sehr, läuft man Gefahr, zynisch bezüglich ihres Engagements zu werden und den Kontakt zum Publikum zu verlieren. Lehnt man sich aber zu weit in die andere Richtung, wird Jean die große Heldin der Bewegung, obwohl ihr Leben sehr anders war als jenes von Hakim und Dorothy. Darum zeigen wir auch, wie sich ihre Eigenwahrnehmung im Laufe des Films entwickelt.
Film plus Kritik: Was steht nach „Jean Seberg – Against all Enemies“ als nächstes an? Hast du bereits weitere Projekte geplant?
Benedict Andrews: Ich habe ein Drehbuch, das gerade am Entstehen ist. Es ist die Adaption eines Romans für die Amazon Studios. Wir haben noch nicht bekanntgegeben, was es ist, also kann ich jetzt noch nichts Näheres dazu ausplaudern. Aber es ist ein Projekt, an dem ich arbeite, seit ich „Jean Seberg“ abgeschlossen habe und ich freue mich schon sehr darauf. Ich weiß aber noch nicht, wann das alles richtig an Fahrt aufnehmen wird. Ich habe zuletzt viel Zeit damit verbracht, mit „Jean Seberg“ herumzureisen und genieße jetzt meine Zeit zum… „Ausbrüten“ daheim in Reykjavik. Für das Theater habe ich im Moment nämlich nichts geplant, aber ich habe nach dem letzten Film wieder ein großes Bedürfnis gehabt, auch wieder dahin zurückzukehren. Also nutze ich die Zeit daheim, um darüber nachzudenken, was für Theater-Projekte ich gerne als nächstes machen würde und auch was an weiteren Filmen anstehen könnte. Ich brüte aus!
Film plus Kritik: Vielen Dank für das Gespräch!
Bilder: (c) 2020 Prokino