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»Die Wahlbekanntschaften«

Was ist die Verkleinerungsform von Triggerwarnung? Im Grunde ist gar nicht viel passiert. Man macht das unter schwulen Männern so oft, Beischlaf mit einem Unbekannten, so routiniert, so beiläufig, dass man das diffuse Geschmäckle von Bedrohung gar nicht mehr auf der Palette hat. Das ist das eigentliche Privileg, das Männer haben, auch unsereins: keine Angst. Auch weil unter uns das «Danke, nein!» so routiniert geworden ist. Wegschicken und weggeschickt werden, sobald einer von zweien merkt: «Hier geht doch nichts». Im besten Falle beide. Gehört dazu. Passiert.

Es ist über zwanzig Jahre her. Vielleicht ist das wichtig, vielleicht nicht. Er kam in die Wohnung, meine dritte damals, und ich wusste gleich: Das passt nicht. Ich hab’s ihm nicht im Flur gesagt, nicht stehend in der Küche. Man will kein Arschloch sein. Glas Wasser und ein bisschen quatschen. Gucken, ob er es selber merkt und etwas sagt. Gucken, wie eilig er es hat, hier wieder wegzukommen. Ob er schon im Kopf dabei ist, eine Nachricht an den nächstbesten aufzusetzen. Soll er doch. Drei Minuten plaudern, dann hab’ ich mir gedacht: «Jetzt geht’s. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt.» Also habe ich mich getraut und ihm gesagt: «Du, ich glaube, das passt nicht.» – «Egal», hat er gesagt. Er gehe jetzt nicht.

Ich habe es wiederholt. Keine Angst gehabt. Keine Sorge. Nur sicher gehen wollte ich, dass er mich verstanden hat. «Passt leider nicht.» – «Egal», hat er gesagt. Er sei jetzt hier, er gehe jetzt nicht mehr. Noch immer keine Angst. Da hat er längst bequem und breit auf meiner Couch gesessen. Breit war er nicht. Groß genauso wenig. Einen ganzen Kopf kleiner ist er gewesen. Vielleicht ist das wichtig, vielleicht nicht. Ich habe ihn noch angelacht, weil ich dachte: Vielleicht hat er einen komischen Humor oder er denkt, ich hätte einen. Aber ich weiß noch, wie mir im nächsten Satz die Miene streng geworden ist. Wie ich es selbst gespürt habe, was man sonst nicht mitbekommt. Was der Körper von alleine kann. Wie wenn man hin und wieder feststellt, dass man atmet.

«Nee, jetzt im Ernst, ich find’ das passt nicht so mit uns.» – «Ja, Pech», hat er gesagt. Aber er gehe nicht, bis er nicht gefickt würde. Auch das ist ein Privileg. Dass ich natürlich wusste: Der kann mir gar nichts. Fickt man oder lässt man ficken. Das sind die Feinheiten, die unsereins schon vorher klärt. Ob das gegenüber aktiv oder passiv ist. Macht wenig Sinn, wenn zwei Bottoms oder Tops sich treffen. So heißt das. Noch immer keine Angst gehabt. Weil mir die ganze Zeit bewusst war: Was in mich hineinstecken, das wird er nicht versuchen. Schon gar nicht gegen meinen Willen. Wie gesagt: Im Grunde ist gar nicht viel passiert.

Nur ist er eben nicht gegangen. Das ist passiert. Ich weiß nicht, ob Mann überhaupt verstehen kann, was danach kam. Ich versteh’ es nicht. Dieses Kammerspiel. Wie ein Stück von Yasmina Reza. Gott des Gemetzels. Wo Menschen das hohe Ross ihrer eigenen Sozialisation, ihrer Zivilisation, ihrer Evolution, wie toll sie sind, wie weit gekommen, komplett im Wege steht. Ich hätte ihn am Kragen packen und hochkant aus der Wohnung werfen sollen. Mann sein. Primat sein. Hab ich aber nicht. Bin ich nicht. Ich habe noch nie jemanden gepackt und noch nie jemanden geworfen. Und ich bin so gewaltfrei aufgewachsen, dass ich mich nicht einmal daran erinnern kann, wie jemand in meiner Gegenwart gepackt oder geworfen worden wäre.

Ich kriege die Reihenfolge nicht mehr auf die Kette, aber so oder so ähnlich hat sich alles zugetragen: Erst habe ich lange, ewig lange, auf ihn eingeredet. Höflich, mit Nachdruck und Strenge angesagt, dass nichts passiert. Ich habe auf Vernunft gehofft, gebaut und ihn gedrängt, dass er jetzt gehen soll. Aber er hat ungerührt die Couch belagert.

Er war kein Muttersprachler. Vielleicht ist das wichtig, vielleicht nicht. Wie viel von einem «nein» kann in der Übersetzung schon verloren gehen? Er hat geschaut wie einer, der vor dem Spiel schon weiß, dass er gewinnt. Schlimmer noch: Wie einer, der vor dem Spiel schon weiß, dass er gar nichts zu verlieren hat. Dann hat die Frustration mich in die Luft gewuchtet. Frust, kein Zorn. Zorn kann ich nicht. Zorn habe ich nie gelernt. Ich bin aufgestanden, rumgelaufen, auf ihn zu und weg von ihm, getigert in meinem Zimmer, wie in einem Käfig. Getigert wie ein Panther bei Rilke. Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, der sich im allerkleinsten Kreise dreht. Wild nur mit Mimik oder Gesten. Ich habe nicht gebrüllt, wegen der Nachbarn. Weil der Nazi-Dirk von oben drüber, mich eh schon auf dem Kieker hatte.

Ich habe ihm gesagt, dass er jetzt gehen soll. «Sonst rufe ich die Polizei». Aber wie er mich angeschaut hat, spöttisch oder siegessicher, hab’ ich mich in seinem Blick gesehen und gewusst: Das mach’ ich eh nicht. Das mach’ ich nie im Leben. Die Polente rufen. Noch nie in meinem Leben habe ich wegen irgendwas die Polizei gerufen. Ich hab’ in seinem Spiegelblick das Was-wäre-wenn gesehen. Wie die Beamten noch im Hausflur stehend Witze machen; wie sie sich im Streifenwagen mit den nasalen Impressionen überbieten; wie auf der Wache noch gewitzelt wird und am nächsten Tag getuschelt, während eine Frau meine Aussage notiert und nicht mal sie hat Mitleid; wie die Sache dann zur Staatsanwaltschaft geht; wie irgendjemand das vermerkt, in irgendeiner Akte, nur für den Fall, dass man die Info in drei bis vier Legislaturen nochmal brauchen kann; wie einer aus dem Amtsgericht sich einen Spaß daraus macht das Ganze in Kopie an alle Adressen zu verschicken, wo ich je gemeldet gewesen bin; wie Mutter anruft und mich fragt, was war. Sie hätte diesen Brief bekommen, von der Polizei und was das sei, ein Bottom und ein Top. Ich war noch ungeoutet. Ein Spätzünder. Vielleicht ist das wichtig, vielleicht nicht.

Ich kann es nicht begreifen: Dass ich mich wütend in die Küche gesetzt habe und gewartet. Dass ich ernsthaft dachte «den Typen kann ich aussitzen». Nach einer Viertelstunde ist es mir zu doof geworden. Ich habe Schuhe angezogen, Jacke und bin raus ins Treppenhaus. Habe ihn eingesperrt. Habe wieder an die Polizei gedacht, an meine Sachen, an mein Eigentum, und mir klargemacht, jetzt kann er gar nicht gehen, selbst wenn er wollte. Ich bin zurück hinein. Schuhe ausgezogen. Mich geärgert, dass er seine anbehalten hat. Sonst hätte ich die Schuhe am Nacken gepackt und aus der Wohnung geworfen. Wenigstens die Schuhe. Schuhe packen, Schuhe werfen, das kann ich. Ich bin wieder getigert. Hin, zurück und wieder hin und hinter 1000 Stäben keine Welt. Ich habe ihn gedrängt, zu gehen. Ich habe ihn angefleht. Gequengelt, wie ein Kind, fast getränt vor Zorn. Er gehe nicht, hat er gesagt. Und dann. Dann ist der Zorn gekippt. In Phlegma. In egal. Ich habe losgelassen und ihn machen lassen.

Mit dem, was kommt, hatte ich nichts zu tun. Ich nicht. Nur er. Er hat aufgeknöpft und angepackt, hantiert, geknetet, solange bis es ging. Warum sollte es nicht gehen? Der Mensch ist ein Apparat. Es gibt kein «Nein» in Stimulanz. Er hat mir etwas übergezogen. Gott sei Dank. Nur mit dem Mund. Ein Pornomove. Hat Eindruck hinterlassen. Er hat mich hingerückt und hingesetzt, sich draufgehockt und mich be-sessen und über allem nicht mal meinen Blick gesucht. Lange hat es nicht gedauert. Vielleicht ist das wichtig, vielleicht nicht. Selber kommen, war ihm auch egal. Er hat sich triumphierend das Kondom beschaut. Wortlos vergewissert. Sich angezogen, auch die Schuhe, jeden einzelnen gebunden und verpisst. Hasenohr, Hasenohr, einmal rein, dann raus durchs Tor.

Ich weiß nicht, ob Mann das verstehen kann. Frau kann es gewiss. Im Grunde ist nicht viel passiert. Gar nichts im Vergleich. Im Gesamtvergleich zu dem, was sonst passiert. Ich reihe mich nicht ein. Ich möchte mich nicht einreihen. Ich möchte nichts verwässern. Ich will damit nur sagen: Ich habe das Geschmäckle von Bedrohung auf Palette. Es ist fast zwanzig Jahre her. Er wohnt irgendwo im Kiez. Ich weiß noch, wie er heißt. Manchmal sehe ich ihn auch. Mitten auf der Strasse, unten an der Bahn, bei Rossmann und bei Rewe. Überall, wo ich bin, kann er sein. Und unter uns: fast wurmt es mich, dass er sich nicht an mich erinnern kann. Männer denken einmal in der Woche an das Römische Reich. Ich nicht.

Herzlich willkommen zur sechsten Ausgabe von »Feine Auslese«.

#1 / Ich glaube ja noch immer, …

… , dass die größte Hürde eines jeden Laberpodcasts darin besteht, dass die zu liefernde Menge, ja Masse, an Content es allen Protagonisten unweigerlich unmöglich macht, die wahre Natur ihres Charakters zu verschleiern. Eine flammende Podcast-Obsession verläuft wie eine flüchtige Romanze: Finden, suchten, einverleiben. Dann die kleinen Macken: feiern, dulden, hassen lernen. Alles bisschen schleifen lassen, erst passiv, dann aktiv. Nur an Hochfesten der Einsamkeit mal hören, was es Neues gibt. Ostern, Pfingsten, Tage bei den Eltern. Anderweitig fündig werden, leider-keine-Zeit-mehr-haben und beim nächsten Spätibier mit den Kollegen leugnen. Dein Lieblingspodcast und dein Hass sind zwei Parallele, die sich irgendwo in der Unendlichkeit berühren.

#2 / Toujours la tristesse

Die junge Frau in der U-Bahn hat gerade in ihr Telefon gesagt: «Ich glaube, sein Leben ist genauso jämmerlich wie meins. Aber näher zueinander bringt uns das jetzt auch nicht.» Und ich habe selten einen Satz so sehr gefühlt wie diesen.

#3 / Eine unangenehme Wahrheit

[Die unangenehme Wahrheit verlässt auf eigenen Wunsch den Newsletter. Sie wird aber bei Instagram zurückkehren. Mit etwas Glück noch dieses Jahr.]

#4 / Feine Ablese

Angelesen: Menschenkind (Opens in a new window) von Toni Morrison

Autorin. Schwarz. Nobelpreisträgerin. Hat in Deutschland ein Drittel von dem verkauft, was ein unbekannter weißer Pimmel wie ich verkauft habe. Finde den Fehler. «Song of Solomon», der Vorgänger, eines der besten Bücher ever. Dieses hier hat Helga Pfetsch übersetzt. Man munkelt, dass «Beloved» zu «Menschenkind» wurde, dafür kann sie nichts.

Ausgelesen: Herrndorf (Opens in a new window) von Tobias Rüther

Zum Ende hin genau der Schlag in die Magengrube, den man über 300 Seiten lang erwartet hat. Auch alles davor ist große Biografenkunst: Gründlich, vielschichtig, respektvoll, aber nicht unkritisch. Herrndorf als Sonderling, als treuer Freund, als großer Autor, als selektierender (Un-)Sympath und bitterer menschlicher Verlust. Und mittendrin: Sein Werk.

Abgelesen: Slam (Opens in a new window) von Nick Hornby

Ich will’s ja wirklich mögen. Drittes Buch von ihm. Und wieder nur «About a boy» in Grün. Und wieder nur er selbst in anders. Und was mich langsam, aber sicher nervt: wie eindimensional der Hornby Frauenfiguren baut. Irgendwo im Multiversum gibt es einen Hetero-Paule, der daran seine helle Freude hat. Soll der es lesen!

#5 / Wenn der Berg nicht zum Paul kommt

[Winterpaus', ick hör' dir trapsen...]

25.10. / BERLIN (Opens in a new window) / Lesebühne
04.11. / HANNOVER (Opens in a new window) / Humorlesung

Alle Termine, alle Infos unter: paulbokowski.de (Opens in a new window)

#6 / Das letzte von der Rolle

Unser Mietwagen in England,
roch leicht sauer nach Verwese.
Grund fand sich im Handschuhfach:
Milch für Tee ward jetzt ein Käse.

#7 / Feiaahmnt.

Wer hätte gedacht, dass Newsletterschreiben so viel Laune macht. Alle bisherigen Newsletter findet ihr hier (Opens in a new window). Wenn ihr die Arbeit an diesem Newsletter supporten wollt, sehr gerne! Und jetzt: Prosit. 

#8 / Nachklang

🔊 🔊 🔊 ODESZA mit »A Moment Apart« 🔊 🔊 🔊

https://spotify.link/m129soPyRDb (Opens in a new window)

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