»Jeder sitzt für sich allein«
ICE ins Rheinland. 24 Stunden vor dem nächsten Streik. Alle Menschen, die morgen nach Düsseldorf oder Köln müssen, sitzen heute schon in diesem Zug. Im ganzen Wagen kein freier Sitzplatz mehr. Nicht im Nächsten. Nicht im Übernächsten. Nicht einmal im Bordbistro. Selbst in der 1. Klasse sitzen Menschen auf dem Gang. Ich war so weitsichtig, schon am Ostbahnhof einzusteigen. Nach mir die Sintflut. Es gibt einen letzten Hoffnungsschimmer, vor allem für BerufspendlerInnen: Neun Sitzplätze in unserem Abteil, die den sogenannten BahnComfort-KundInnen vorbehalten sind. Das sind Sitzplätze für VielfahrerInnen, die nicht reserviert werden können. Wer zuerst kommt, sitzt zuerst. Man erkennt sie an der digitalen Anzeige oder an einem schrecklich analogen Aufkleber. Wer der Deutschen Bahn einen Jahresumsatz von 2.500 Euro generiert oder sein Erstgeborenes verspricht, rutscht in die Königsklasse und darf sein güldenes Gesäß hier ablegen. Elitäre Kackscheiße. Aber unter uns: Ich sitze da auf jeder zweiten Bahnfahrt.
Ihr müsst wissen: Natürlich kann hier jeder sitzen, auch ohne diesen antiquierten BahnComfort-Status. Immer eigentlich. Vor allem dann, wenn die Auslastung gering ist. Keine Schaffnerin wird das jemals hinterfragen. Kein Zugbegleiter aus sich selbst heraus jemanden verscheuchen. Aber sobald ein Mitreisender zusteigt, einer aus der edlen Sippe, der genug Chuzpe hat, den BahnComfort-Status der bereits sitzenden Person zu hinterfragen, muss man im Zweifelsfall bereit sein, den Sitzplatz zu räumen. Oder eben den Arsch in der Hose haben, die investigative Frage einfach unehrlich zu beantworten. Aber Achtung: Denn wenn es hart auf hart kommt, also wirklich hart auf hart, muss man in der Lage sein, per App oder per BahnCard nachzuweisen, dass man besagten Status wirklich innehat. Es ist ein System, das von drei Säulen getragen wird: Gleichgültigkeit gegenüber dem System an sich, blindes Vertrauen auf die Ehrlichkeit des Sitzenden, und vor allem Scham davor eines dieser seltenen Arschlöcher zu sein, das sich wirklich vor versammeltem Abteil der Blöße hinzugeben bereit ist, hier und jetzt das Recht des ersten Sitzens einzufordern.
In meinen fünfzehn Jahren als Vielfahrer habe ich das zwei Mal erlebt. Zwei Mal. Eine Frau kurz hinter Nürnberg vor vielen vielen Jahren und jetzt dieser Agenturfuzzi in unserem Abteil. Mein Jahrgang, vielleicht jünger. Was ihn aus der Masse schält, sind seine kokainweißen Sneaker, sein Kaschmirpullover, der chirurgisch zementierte Haaransatz und zu viel Selbstgewissheit in Gestik, Mimik, Gang. Zielsicher schält er sich durch die Stehenden auf uns zu, zieht aber fürs Erste an mir vorbei. Vielleicht will er es nur im Bordbistro versuchen, denke ich. Aber schon flammt hinter mir seine basslastige Stimme auf. «Sind Sie Bahn Comfort?», fragt er. Bei allen im Abteil, denen diese Frage etwas sagt, zieht sich aus Fremdscham ein Stück Haut zusammen. Rafft sich. Wie das Skrotum eines Mannes, das sich vor Peinlichkeit verriffelt und verkürzt. Es gibt im Englischen ein Wort dafür. Wunderbar lautmalerisch. Wenn sich irgendwo in einem etwas aus Peinlichkeit zusammenzieht: Cringe.
«Sind Sie BahnComfort?», wiederholt er.
«Äh, ja», sagt eine zweite Stimme. Sie klingt jung und weiblich. Vielleicht ertappt, vielleicht verwundert. Aber egal. Jetzt ist der Sachverhalt geklärt, jetzt wird er weiterziehen und den Nächsten fragen. Aber dann zerbrechen Zeit und Raum und stürzen ineinander: «Kann ich das mal sehen?», fragt der Mann.
«Was?», fragt die junge Frau.
«Kann ich mal sehen?», wiederholt er.
Alle um uns halten inne. Er will es echt bewiesen haben. Es ist so still, dass man sie kramen hören kann. Was hier geschieht, geschieht nicht zwischen ihm und ihr, es geschieht um uns herum und unter uns. Was hier geschieht, wird kollektiv. Jeder, der es miterlebt, der wird es weitertragen und erzählen. In fünf oder zehn oder zwanzig Jahren noch. Diese kleine Anekdote. In E-Mails, Sprachnachrichten oder einem Newsletter. Es ist so still, man hört, wie es in ihrer Tasche raschelt, ein kleiner Reißverschluss, ein Portemonnaie vielleicht, dann eine Plastikkarte, die sie so selten zücken muss, dass sie am Leder klebt.
«Ok», sagt der Mann. Nicht ‘Danke’ oder ‘Tut mir leid’ oder ‘Verzeihen Sie die Störung, gute Reise’.
Jetzt fragt er mich: «Sind Sie BahnComfort?»
«Ja.», sage ich. Ich warte auf die zweite Frage. Giere danach und wühle nach Krawall und einer guten Antwort. Mich aber fragt er nicht. Ich muss es nicht beweisen. Noch eine Reihe weiter traut er sich, dann dämmert ihm, dass alle ihn begaffen.
«Sie auch?», fragt er den jungen Mann im Sitz vor mir. «Sind Sie auch BahnComfort?»
«Mhm.», entgegnet der. Mehr gibt es nicht von ihm. Keine echte Antwort. Nur ein bestätigendes Geräusch. Mhm. Dann zieht der Fuzzi weiter, lässt es sein und bleibt bis Düsseldorf verschwunden. Kurz überlege ich mich umzudrehen, nach der Frau. Mich mit einem Lächeln oder Blick zu solidarisieren. Dann lasse ich es sein. Ich weiß nicht ganz warum.
Es geht viel Zeit ins Land. Es geht viel Land ins Land. Wolfsburg und Hannover, Bielefeld und Hamm. Kurz vor Dortmund steht sie auf, die junge Frau. Hier steigt sie aus und jetzt erst sehe ich, was ich nicht hätte hören können. Der weiße Mann mit Geld und Status, hat von uns allen, die wir hier auf diesen Plätzen sitzen, der einzigen Person einen Nachweis abverlangt, die nicht weiß ist. Er hat das Kollektiv gemustert, alle Neun, das habe ich an seinem Blick gesehen. Dann hat er selbst entschieden, nach eigenem Ermessen, nach seinem Reglement, wer nicht dazugehört. Auch andere von uns sind jung. Auch andere von uns sind weiblich. Aber weiblich, jung und nicht-weiß ist nur sie. Du nicht, hat er sich gesagt. Du nicht, hat er entschieden. Hat ein Regelwerk gebaut, wo niemand eines braucht und selbst danach gerichtet. Hat sich Macht gemacht und Urteil. Was hier geschehen ist, geschah nicht zwischen ihm und ihr. Es war kein Dialog und keine Wechselwirkung. Was hier geschehen ist, ist nur ihr passiert. Darum geht es. Es geschah um uns herum, aber nicht uns. Es geschah nur ihr. Nur sie hat es erlebt. Nur sie muss es weitertragen. Sich daran erinnern. In fünf oder zehn oder zwanzig Jahren noch. Diese verfluchte Anekdote. Ich wünsche ihr, dass nicht. Dass es ihr so egal war, ist und immer sein wird, wie es dem Mann egal war, ist und immer sein wird. Dem die Wahrheit nicht genug war. Der es bewiesen haben wollte. Nicht von mir. Nicht von dem jungen Mann vor mir. Nur von ihr. Hätte ich mich doch solidarisiert mit ihr. Sei es nur mit einem Blick und einem Lächeln.
Herzlich willkommen zur siebten Ausgabe von »Feine Auslese«.
#1 / Ich glaube ja noch immer, …
… , dass die kleine Geste vom letzten Mittwoch mir das Herz um einiges wärmer gemacht hat, als so manches Weihnachtsgeschenk der letzten Jahre: Bei der Anmoderation meiner Lesebühne habe ich beiläufig erwähnt, dass ich nach der Show unbedingt noch Milch kaufen muss, für meinen Tee am Morgen. Und was liegt auf meinem Platz, als wir nach der Pause zurück auf die Bühne kommen? Ein Liter Milch. Hat mir ein Weihnachtswichtel aus dem Publikum einfach in der Pause klargemacht. So kriegt man mich. Mit kleinen, liebevollen Gesten. Und vielleicht möchte ich nur das: Ein Leben voller kleiner Gesten.
#2 / Toujours la tristesse
Habe mich nach 40 Jahren Abwägen und Zögern in einem Sportstudio angemeldet.
«Na dann willkommen!», sagt der Mitarbeiter.
«Danke!», sage ich.
«Kannst du mir noch sagen, warum du hier bist?»
«Sport.»
«Genauer?»
«Sport und Selbsthass.»
«Gibts nicht.»
«Wie gibt’s nicht?»
«Selbsthass. Zum Anklicken.»
«War ein Witz. Geht Schmerzen?»
«Ist das auch ein Witz?»
«Nein.»
«Ich klick’ jetzt einfach Muskelaufbau. Ok?»
«Ok.»
«Hier noch ein Gutschein für die Sauna.»
«Gutschein?»
«Ja, Gutschein.»
«Warum?»
«Wegen deinem Humor.»
#3 / Feine Ablese
Angelesen: Töchter (Opens in a new window) von Lucy Fricke
Seit dem Schneckenbuch von Ronja von Rönne eigentlich geschworen, keine Roadnovel mehr anzufangen. Aber 40 Seiten in, muss ich gestehen: Lustig ist es allemal. Nicht nur so Hüstel-Hüstel-Feuilleton-Humor, sondern menschlich-komisch, wie Meyerhoff oder Sedaris. Und was mich ganz privat abholt: Wie treffsicher hier Salz in meine Midlife-Crisis-Wundmale gestreut wird. Schmerz salz’ nach!
Ausgelesen: Gittersee (Opens in a new window) von Charlotte Gneuß
Was bisher geschah: Verlag bittet Autor um Rückmeldung zum Manuskript einer Autorin. Autor meldet Lob & Anmerkungen zurück. Eine sogenannte ‘Mängelliste’. Autorin übernimmt einen Teil der Anmerkungen. Unbekannte Person spielt ‘Mängelliste’ der Jury des Deutschen Buchpreises zu, was der Autorin mindestens den Einzug auf die Shortlist kostet, vielleicht mehr. Ich an ihrer Stelle wäre berserkernd durch die Stadt gezogen. Gutes Buch. Sehr gutes Buch. Wirklich verdammt gutes Buch.
Abgelesen: Sowas von da (Opens in a new window) von Tino Hanekamp
Hätte ich gewusst, wie es „ausgeht“, ich hätte es wieder weggelegt. Wenn jemand fast 300 Seiten lang einen Knaller heraufbeschwört und dann nicht liefert, nicht mal das ironische Gegenteil von einem Knaller, sondern mich mit Putzlicht und Wegebier aus dem Club kehrt, dann war’s das leider. Außerdem: Lasst uns die Gattung Kiezroman mal für die nächsten 30 oder 40 Jahre in den Giftschrank packen.
#4/ Wenn der Berg nicht zum Paul kommt
Ich werd’ den Teufel tun, bei Schneeregen zu touren. Größte anzunehmende Distanz im Januar: vom Schreibtisch zum Sofa und zurück.
Alle Termine, alle Infos gibt es nach der Winterpause unter: paulbokowski.de (Opens in a new window)
#5 / Das letzte von der Rolle
Hier hab ich altes Holz gerahmt, zum Leimen und zum Basteln.
Hier setz’ ich mich zum Schreiben hin, zum Feilen und zum Raspeln.
Hier hört man manchmal ein Klavier. Die Nachbarn lieben leise.
Hier schlage ich den Schweinehund auf wundersame Weise.
#6 / Feiaahmnt.
Wer hätte gedacht, dass Newsletterschreiben so viel Laune macht. Alle bisherigen Newsletter findet ihr hier (Opens in a new window). Wenn ihr die Arbeit an diesem Newsletter supporten wollt, sehr gerne! Und jetzt: Prosit.
#7 / Nachklang
🔊 🔊 🔊 David Byrne mit «Glass, Concrete & Stone» 🔊 🔊 🔊
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