“Schönheit” und “Hässlichkeit”
“Warum haben wir Angst vor Hässlichkeit? Was können wir aus Hässlichkeit lernen? … Ich will den Umgang mit unserem Sehen verkomplizieren … ”
Moshtari Hilal, Hamburgs Literaturpreisträgerin bei der Lesung im Nachtasyl am 22.2.2024
Ich sitze im Haus meiner Großmutter in Kasachstan. Es sind Ferien, ich bin sieben oder acht und langweile mich. Zeichnen war schon immer meine Lieblingsbeschäftigung. Und so nehme ich Papier, meine Buntstifte und möchte ein wunderschönes Bild zeichnen. Ich stelle mir eine Frau ungesehener Schönheit vor. Das Bild, das am Ende rauskommt habe ich nicht mehr. Ich kann mich nur daran erinnern, wie enttäuscht ich von der Zeichnung bin, die so wunderbar in meinem Kopf aussah, aber nicht in der Realität. Das passiert mir im Laufe meines Lebens immer wieder. Bis ich merke, diese Schönheit aus meinem Kopf existiert nicht. Es sind Vorstellungen und Normen anderer, die mir vorspielen, das Geheimnis universeller Schönheit zu kennen. Was finde ich denn selbst schön? Diese Frage beschäftig mich bis heute. Denn erst wenn ich weiß, was ich persönlich schön finde, kann ich das auf meine Arbeit übertragen, oder eben nicht …
So geht auch die Literaturpreisträgerin aus Hamburg, Moshtari Hilal, an das Thema ran. In ihrem Buch “Hässlichkeit” untersucht sie historisch, rhetorisch und autobiografisch den Begriff der Hässlichkeit als Gegensatz zur Schönheit.
Moshtari Hilal (geboren 1993) ist zwei, als sie mit Ihrer Familie aus Afganistan nach Hamburg flieht. Sie ist Künstlerin, wie ich. Spannend finde ich ihren Ansatz, sich mit der vermeintlichen Hässlichkeit ihres Körpers zu versönen, indem sie sie nachzeichnet. Um am Ende festzustellen, dass sie sich lieber an die Seite der Hässlichkeit stellen würde, als das, was allgemein für schön gilt, bedingungslos zu akzeptieren. Dass Schönheit eine individuelle Sinneserfahrung ist und nicht von Urteilen der anderen abhängig gemacht werden darf und kann.
“Dieses Buch handelt von Bildern. Von Bildern in unseren Köpfen, auf unseren Gesichtern, hinter unseren Augen, auf unseren Zungen. Es handelt auch von Blicken. Von unseren Blicken und wie diese sich andere einverleiben und wie Blicke Teil unserer Körper werden. Dieses Buch handelt vom Hass in der Hässlichkeit und vom Abseits und Gegensatz des Schönen. Es beginnt bei mir und endet in uns allen.”
Moshtari Hilals Vorwort zu ihrem Buch “Hässlichkeit”, Hanser Verlag, 2023.
Im “Der Trost der Schönheit” schaut Gabriele von Arnim – 1946 in Hamburg geboren – auf ihr priviligiertes, erfülltes, aber auch schmerzvolles Leben. Sie blickt nach Vorn und fragt sich, was passiert mit der Schönheit in der Welt? Sie findet Trost in der Schönheit der Natur, Kunst, Literatur und Musik. Sie sagt “Schönheit ist lebensnotwendig” S. 209
Sie sagt aber auch:
“Schönheit braucht Störungen, einen Riss, a crack. (…) Es ist der Riss, durch den das Licht fällt, der uns Schönheit sehen und erleben lässt.” Der scheinbare Antagonismus ist der eigentliche Reiz. Weil hier der Geist, das Leben, die Sehnsucht, Kraft oder auch Verzagheit sichtbar werden. Kintsugi ist eine japanische Art der Keramikreparatur, ist die Kunst, zerbrochenes Porzellan mit Gold zu kitten. Eine Tradizion, die lehrt, dass Schönheit nicht in der Perfektion zu finden ist, sondern im guten, ja im kostbaren Umgang mit den Brüchen und Versehrtheiten.”
Gabriele von Arnim, “Der Trost der Schönheit. Eine Suche”, Rowolt Verlag 2023, Seiten 208-209
Die Bücher sind farblich ähnlich gestaltet, haben das gleiche Format und ergänzen sich wie Schwestern. Sie nacheinander zu lesen, ist eine tolle Erfahrung, die ich Dir gern weiter empfehlen möchte.
Ich fand es auch spannend, dass beide Frauen in einer Talkrunde beim NDR aufeinander getroffen sind, um über ihre Bücher zu sprechen. Hier ist der Link zur Audioaufnahme der Sendung:
https://www.ndr.de/kultur/sendungen/sonntagsstudio/Der-Norden-liest-Von-Schoenheit-und-Haesslickeit-,sendung1413882.html (Opens in a new window)Selbstpotrait
Heute habe ich einen Termin beim Einwohnermeldeamt – mein Personalausweis ist abgelaufen. Noch nie hatte ich so viele Schwierigkeiten mit meinem Passfoto. Was ist da los?
Obwohl ich gerade diese wunderbaren Bücher gelesen habe, fällt es mir schwer, mich selbst zu akzeptieren, mein alterndes Aussehen als normal zu betrachten und anzunehmen. Das bin nicht ich auf diesem Foto. Mein Selbstbild sieht ganz anders aus.
Von wem ist dann das Bild und wie habe ich mich aus dem Blick verloren? Wessen Hässlichkeit schaut mich da an und wer verurteilt mich in meinem Kopf?
Im meinen Träumen sehe ich anders aus. Da mag ich mich. Wenn ich aufwache und in den Spiegel schaue, bin ich enttäuscht, wie damals in Kasachstan, als ich ein schönes Bild zeichnen wollte.
Und trotzdem veröffentliche ich dieses Abbild von … Wem-auch-immer MIR.
Mit meinen Reportage-Zeichnungen geht es mir ähnlich. Irgendetwas in mir findet sie manchmal hässlich. Wenn ich einen Kommentar bekomme “Das könnte ich auch” oder “Ich sehe mich in deiner Zeichnung nicht”, schmerzt es und ich empfinde Scham. Ich fühle mich ertappt, möchte mich rechtfertigen. Jedes Mal, wenn ich eine korrekte, extrem realistische Zeichnung von jemand anders sehe, ist ein Teil von mir neidisch. Da kann jemand mal richtig gut zeichnen (anders als ich).
Und trotzdem veröffentliche ich meine Zeichnungen immer und immer wieder. Als Zeitzeugen. Als Erinnerung daran, dass die Welt auf so viele unterschiedliche Arten gesehen und geliebt werden kann. Als Rebellion gegen die Idee der universellen Schönheit. Sie sind inspirierend. Sie leben und regen zum Nachdenken an.
Vor zwei Tagen habe ich eine große Zeichnug für eine Ausschreibung bei der Galerie xpon-art in Hamburg eingereicht. Das Thema ist “aufBRECHEN” und ich finde meine Zeichnung wirklich schön.
Das ist auch ein Selbstbild, ein Wunschbild, das meiner Kindheitsvorstellung von damals viel mehr entspricht. Die Rahmen in den verschiedenen Stilen symbolisieren die Einflüsse aus unterschiedlichen Kulturen. Sie wurden von meinem Ich beim Wachsen aufgebrochen. Aber sie bieten auch Halt.
”Bohemian Rhapsody” Zeichnung mit Kohle und Ölstift auf gebrauchtem Karton, 60×80 cm, zeichenkind, 2020-2023
Das ist meine Art der Versönung mit dem Leben, der Kunst und den Herausforderungen: Das “Hässliche” und das “Schöne” sind in mir vereint, das eine kann ohne das andere nicht existieren und es gibt so viel dazwischen.
Tschüss
Julia Zeichenkind