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Olivgrüne Zuversicht

Im Wahlkampf liegen schnell mal die Nerven blank, schließlich geht es ja auch um besonders viel bei dieser Richtungswahl, wenn nicht gar um alles. Zuallermindest aber die Zukunft unseres Landes.

Nur; entspricht das den Tatsachen? Ein Blick in aktuelle Wahlumfragen zeichnet da eher düstere, bisweilen braunstichige Wolken am Horizont des Wahlabends. Es gibt – Stand jetzt – zwei realistische Ausgangsszenarien: Die fast klassische GroKo oder eine völlig zeitgeistige Dubai-GroKo, GrüKo, oder wie auch immer man den Zusammenschluss von Schwarz-Grün nennen möchte. (Von einer schwarz-gelben Minderheitsregierung als feuchter Allmachtsphantasie mancher Parteisoldaten sehen wir erst einmal ab)

Wahlumfrage Bundestagswahl Ende Januar 2025:
SPD bei 15%,
Union bei 30%,
Grüne bei 15%,
FDP bei 4%,
AfD bei 20%,
Linke bei 5%,
BSW bei 4%,
Sonstige bei 7%

Die Unterschiede darin wirken marginal. Die SPD hat zur Genüge bewiesen, dass unpopuläre Entscheidungen zuungunsten verbliebener Restwerte ein einzigartiges Lebensgefühl sein können, das sich am besten mit den Worten Bauchschmerzen und Koalitionsfrieden ausdrücken lässt. Die Grünen haben ihrerseits in drei Jahren Ampel gezeigt, dass sie der SPD da in nichts nachstehen. Und Fritze Merz weiß das, passenderweise hat er er es wenig überraschend und denkbar abstoßend bei einem Wahlkampfauftritt zur Schau gestellt. Hier der Dienstwagenschlüssel als Druckmittel, das sämtliche Ideale überfährt — dort das besorgen von Mehrheiten durch die AfD.

Ja, latürnich ist Merz ein impulsiver, machtfixierter, rassistischer, rachsüchtiger und von allerlei anderweitigen Feindseligkeiten durchsetzter Mensch. Söder ein prinzipienloser Populist im Gewand eines Kasperles mit Profilneurose und Grünenschlag. Spahn und Linnemann das Paradebeispiel rückgratloser Protofaschisten. Lindner ein nach Enttarnung freidrehender Hochstapler, Scholz ein farbloser Bürokrat mit Blut bzw. Brechmittel an den Händen und mutmaßlich kriminellen Verstrickungen. Wagenknecht eine Nationalbolschewistin, Weidel primär justiziabel zu benennen.

Latürnich ist die CDU mittlerweile eine rechtspopulistische bis rechtsextreme Partei, ebenso die FDP, die SPD eine rechtskonservative Partei, das BSW und die AFD verfassungsfeindliche Organe mit russischen Verstrickungen, die Linke irgendwo zwischen im besten Sinne sozialdemokratisch und trotz Umbau immer noch nicht ganz ihre verhagelten Geister los. 

Das ist alles wichtig, das muss alles besprochen werden. Nur: Die Grünen sind wahrlich keine linke Partei (mehr). Und sie stehen auch nicht für einen radikalen Wandel, leider, auch wenn Söder und Springer derartig schillernde Schreckensszenarien heraufbeschwören. Wer etwas anderes behauptet, hat entweder die letzten Jahre nicht sonderlich viel Zeit mit (Bundes)Politik verbracht, oder ist evtl ideologisch beeinflusst.

Ein Wahlplakat mit Robert Habeck, über den Wahlspruch "Zuversicht. Ein Mensch, ein Wort." wurde der Zusatz "Von wegen" gesprüht.
Zuversicht? Welche Zuversicht eigentlich?

Die Grünen haben Bezahlkarten für Geflüchtete mitbeschlossen (Opens in a new window). Grenzkontrollen (Opens in a new window). Vermehrte Abschiebungen mitgetragen (Opens in a new window), auch nach Afghanistan (Opens in a new window), teils selbst Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien gefordert (Opens in a new window). Die Reform von GEAS (Opens in a new window). Asylverfahrenshaft mit abgenickt (Opens in a new window). Das aktuelle Wahlprogramm will Verträge mit sicheren Herkunftsländern aushandeln, die guten, nützlichen Migras ins Kröpfchen der deutschen Wirtschaft, die unnützen, kriminellen ins Kröpfchen der Herkunfts- und Drittstaaten¹. Das ist in seiner Bewertung von Leben nach Nutzen nicht nur ekelhaft, sondern auch arg neokolonial gegenbüber jenen Ländern, handelt man doch nichts anderes als brain drain mit ihnen aus.

Habeck hat in dem Moment, in dem von verschiedenen rechten Färbungen Rufe nach Ausfuhr von Syrer*innen kamen, nicht etwa ~jetzt ist nicht die Zeit dafür, erst wenn es sicher ist, kann man darüber diskutieren~ geäußert, sondern ~Geflüchtete ohne Arbeit müssen zurück, wenn es sicher ist~ (Opens in a new window). Ja, klar, das ist der gesetzliche Rahmen, Habeck ist aber als Philosoph und Kinderbuchautor Mensch, der sich Sprache und der Wirkung von Semantik allzu bewusst ist. Und damit fällt eine solche Äußerung unter plausible deniability; während also mit gerunzelter Stirn am rechten Rand das Profil erweitert wird, zieht sich die Verteidigungslinie grüner Werte auf den Nebensatz und die Gesetzeslage zurück.

Habeck fand nach der Messerattacke in Aschaffenburg den besonneren Ton und stutzte Merz faschistoide Forderungen zusammen (Opens in a new window), ja. Gleichzeitig sprang auch er auf den Zug von vermehrten Abschiebeforderungen auf und erklärte gegenüber der BILD², Migration zur Chefsache machen zu wollen. Und Cem Özdemir legte im Spiegel nach (Opens in a new window): Es brauche Begrenzung der Migration und, Achtung Hufeisen: Die Grünen seien die Partei, die “den Rechtsradikalismus genauso wie den Islamismus genauso wie den Linksradikalismus bekämpfen”.

Statistik zu Asylanträgen in Deutschland von 2014 bis 2024, 2016 stellt mit 745.545 den Peak dar, danach weitaus geringer. Stand 2024 ist 250.945, 100.000 weniger als im Vorjahr
Diese Zahlen stellen für die Union einen Notstand dar und sind für SPD und Grüne Anlass, mit ins Migrationshorn zu blasen

Es kann so weitergehen: Lützerath (Opens in a new window). Die ~wertegeleitete/feministische~ Außenpolitik ließ ziemlich viele Werte (Opens in a new window) und Frauen (Opens in a new window) auf der Strecke (Opens in a new window). Die Verschärfungen beim Bürgergeld (Opens in a new window) sind Realität, das Scheitern der Kindergrundsicherung (Opens in a new window)– klar, die FDP; das Scheitern des Klimagelds, die Aufweichung der Sektorziele beim Klimaschutz (Opens in a new window), Habecks Einsatz bei der EU gegen Verschärfung der C02-Grenzwerte bei Autoherstellern (Opens in a new window), die Verteuerung des Deutschlandtickets (Opens in a new window) und auch die teilweise Aufweichung des (in sich ehrenwerten) Selbstbestimmungsgesetzes (Opens in a new window) gehen vermutlich auf  Kosten des Koalitionsfriedens. Fraglich ist, wo nach wie vor stattfindende Gasgeschäfte mit Russland (LNG ist nicht sanktioniert) (Opens in a new window), Habecks Pläne zur Beschränkung des Windkraft-Ausbaus nach entsprechenden Forderungen von Merz (Opens in a new window) und die Planung eines weiteren Abschiebeflugs nach Afghanistan noch vor der Wahl (Opens in a new window) einzuordnen sind.

Habecks Entscheidung, zu Twitter – nach seiner vielerklärten Abkehr dieser noch vor Musks Übernahme allzu toxischen Plattform – just in dem Moment zurückzukehren, in dem dem der auf Bluesky zirkulierende Kosename hitlerfreaks dot com nüchtern betrachtet allzu real ist (Opens in a new window): Aus Wahlkampfgründen nachvollziehbar, aber wahrlich nicht der Gigabrainmove im Kampf gegen Verrohung und Desinformation im Netz, als der es dargestellt wurde. Man geht schließlich auch nicht für politischen Diskurs auf ein Rechtsrockkonzert.

Stichwort Antifaschismus: Renate Künast torpediert mit einer Gruppe Grünen-MdBs aktiv den Verbotsantrag gegen die AfD – statt zuzustimmen wollen sie einen eigenen, langwierigeren, komplizierteren Antrag einbringen, der sich anmaßt, dem Bundesverfassungsgericht die Beurteilung über die AfD vorwegzunehmen (Opens in a new window). Verhandlungsbereitschaft? Kernschmelze!

Zitatkachel mit dem Foto Reanate Künasts, dazu wird ein Skeet von ihr zitiert:
"Das reicht juristisch nicht. Sorry."
100 mal mehr Rückgrat zu veräußern

Zuletzt werden mahnende Zeigefinger in Richtung einer mit Rechtsextremisten zusammenarbeitenden Union stets von der ach so besonnenen Grundvernunft eines Koalitionsangebots begleitet. Konsequente Haltung wurde allmählich ersetzt durch den Verweis auf Demokratische Zwänge.

Gute Arbeit als Klima- und Wirtschaftsminister (Opens in a new window), Steigerung der Erneuerbaren (Opens in a new window), eine schnelle und geistesgegenwärtige Abwendung der Gaskrise (Opens in a new window), Solidarität mit der Ukraine (Opens in a new window), Legalisierung von Versagerkraut (Opens in a new window), Reform des Staatsbürgerschaftsrechts (Opens in a new window), eine (zu geringe) Steigerung des Mindestlohns (Opens in a new window): Allesamt gute Errungenschaften, aber sie weder machen sie als Kompromiss vorangestellte Kritikpunkte wett noch sind sie Ausweis einer dezidiert linken Politik.

Daran muss sich die Partei, muss sich der Spitzenkandidat messen lassen. Ich halte Habeck für einen integren Menschen und aktuell wahrscheinlich den besten möglichen Kanzler. Aber auch für von Bauchschmerzen korrumpiert. Oder Realpolitik, meinetwegen. Das Bild der Grünen (Bundes)Partei hat nach ihrer Regierungszeit massiv Schaden genommen. 

Gruppenfoto des ehemaligen Vorstands der grünen Jugend auf einer ausgetrockneten, brauen Wiese (Opens in a new window)
Geschlossene Flucht in linke Sphären: der ehemalige Vorstand der grünen Jugend

Von Glaubenssätzen und Phrasen des 2021er Wahlprogramms ist – realpolitisch – nicht mehr viel übrig. Von den vielbeschworenen grünen Werten, allen voran der Humanismus, bleibt im Spiegel der Ampel nicht mehr viel übrig. Alteingesessenen wie neu beigetretenen Parteilinken und ihrem Idealismus blicke ich mit einer Mischung aus Bewunderung und Mitleid gegenüber, wirkt ihre Mission doch sehr wie der Kampf gegen Windmühlen. Dennoch wünsche ich ihnen jeden Erfolg.

Und klar, es ist Wahlkampf, Wahlkampf ist stets emotional, meine persönliche Enttäuschung von den Grünen ist es ebenso. Nur die Belehrungen, einzig eine Wahl der Grünen würde die Demokratie retten, würde Merz verhindern, würde anders als bei Kleinpartei XY oder der ja ohnehin nicht in den Bundestag einziehenden Linken nicht die AfD stärken, Kritik an den Grünen zieme sich nicht weil es von Rechten derlei schon zu viel gäbe; all das sind evtl Beißreflexe von Menschen, die sich mit ihrer Position nicht recht anfreunden wollen. Angekommen im großen Parteienspektrum, aber halt auch: angekommen im Spektrum der mittigen Beliebigkeit (verschobenes Overtonfenster eingerechnet). Angekommen im Spektrum des geringeren Übels.

Ich hoffe dennoch, Robert Habeck wird Kanzler. Ich werde ihn nur nicht wählen. Warum? Weil ich im Zweifel lieber eine linke Partei wähle.

¹ BTW2025-Wahlprogramm der Grünen, Seite 56: “Wir wollen Migration besser ordnen bzw. steuern und hierfür weitere menschenrechtsbasierte Migrationsabkommen abschließen und bestehende zügig umsetzen. Das heißt: Wir schaffen durch Visaabkommen und Ausbildungspartnerschaften für Studierende, Auszubildende und Fachkräfte geregelte Migrationswege. Dafür nehmen die Partnerländer Staatsangehörige zurück, die bei uns kein Aufenthaltsrecht haben. Hierfür arbeiten wir stärker mit Herkunftsländern und Transitstaaten zusammen. Migrationsabkommen sollen auch bessere Lebensbedingungen vor Ort schaffen.”
²Axel Springer gebühren keine zusätzlichen Klicks, daher hier das Zitat: „Alle Asylverfahren werden drastisch beschleunigt. Keine Dublin-Entscheidung darf länger als einen Monat dauern“, sagt Robert Habeck. „Damit das passiert, klemme ich mich persönlich dahinter, so wie ich es erfolgreich bei Energie gemacht habe. Ich stärke die Sicherheitsbehörden, damit Gefährder lückenlos überwacht und ausländische Gefährder abgeschoben werden. Ich werde Migrationsabkommen zur Chefsache machen, damit andere Länder Menschen ohne Schutzanspruch zurücknehmen.“ Er habe bewiesen, „dass ich nicht locker lasse, bis Probleme gelöst sind“.

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