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Vom Kap zum Cape

Warum Thair Abud durch die Welt wandert

Irgendwann wird Thair Abud ankommen am Cape in Südafrika. Es wird ein wunderbarer Tag sein, weil er es geschafft hat. Und ein wehmütiger, weil seine Wanderung vom Nordkap nach Cape Town dann zu Ende ist.

Ein wenig scheut Thair Abud diesen Tag, denn er wird sich überlegen müssen, wo er als Nächstes hinläuft. Vielleicht zurück nach Hause, nach Graz? Oder zu seiner Freundin nach Berlin? Nach Tansania, um die Klinikclowns zu besuchen, die er finanziell unterstützt? Der 56-Jährige lässt es auf sich zukommen; das Ziel wird sich schon finden.

Seit dem 25. April 2018 ist Thair Abud unterwegs. Ursprünglich wollte er in drei Jahren am Ziel sein, jetzt rechnet er mit sechs. Oder mehr. Vom nördlichsten Punkt Europas, am Nordkap in Norwegen, ist der Österreicher mit deutsch-irakischen Wurzeln losgelaufen, quer durch Skandinavien. In Deutschland ist er bei Frankfurt Richtung Belgien abgebogen, hat Paris gekreuzt, dann Bilbao, ist zum westlichsten Punkt Europas in Cabo da Roca und zum südlichsten des europäischen Festlands in Tarifa gelaufen. Von dort ging es nach Algerien. In Marokko überholte ihn die Corona-Pandemie. Wegen Corona musste er ungeplant nach Hause laufen, nur dorthin durfte er noch gehen, Auflage der Behörden. Keine Wahl: Steiermark statt Südafrika.

Es sei merkwürdig gewesen, nach Hause zu kommen, erinnert er sich. Doch der Umweg erweist sich als glückliche Fügung. Im August 2020 setzt Thair Abud, den alle Ali nennen, aufs Neue an. Es geht quer durch die Alpenrepublik und den italienischen Stiefel südwärts. In Bella Italia muss sich Thair Abud als „Handlungsreisender“ deklarieren, um in Hotels übernachten zu dürfen. In vielen Kirchen und Sehenswürdigkeiten ist er der einzige Besucher. Eine eigentümliche Erfahrung selbst für einen, der die Einsamkeit des Wanderns gewohnt ist. Ein ganzes, so nicht geplantes Jahr verbringt er in Italien, fast 6000 Kilometer läuft er durch das Land, dessen Sprache er unterwegs lernt, und an dessen Schönheit er sein Herz verliert. Dieser Tage ist der 56-Jährige in Apulien unterwegs. Von dort aus soll ihn sein Weg über Griechenland und die Türkei im Osten Afrikas bis nach Cape Town führen.

Mehr als 23.000 Kilometer hat Thair Abud seit seinem Start zurückgelegt, 17 Kilogramm wiegt sein Rucksack. Er hat unzählige Schuhe durchgelaufen, Zehntausende Fotos gemacht. Zig Mal hat er im Zelt und noch öfter bei gastfreundlichen Menschen oder in günstigen Hotels geschlafen. Es hat geregnet, gestürmt, geschneit, es war brütend heiß und bitterkalt, die Straßen waren gepflastert, geteert, gerade, voller Biegungen. Er hat Pausen gemacht, tagelange, ganz kurze, sogar Urlaub von der Weltwanderung. Er war topfit, todkrank. Wo auch immer er hinkommt, kommt er ins Gespräch. Längst ist der Weg das Ziel geworden. „Ich mag gar nicht ankommen“, sagt Thair Abud.

Wie ist es so weit gekommen?

Die Erklärung beginnt mit Thair Abuds Schwester. Es ist irgendwann in 2013, da ruft sie ihren kleinen Bruder an, „wir sind aufgewachsen wie Zwillinge, wir sind nur elf Monate auseinander“. Sie plaudern über Belangloses, da sagt die Schwester kurz vor dem Auflegen: „Ich habe Brustkrebs.“ Thair Abud ist wie vom Donner gerührt. Er ist damals 48 Jahre alt, Vater zweier Söhne und von Graz aus erfolgreich als General Manager für ein österreichisches Unternehmen im arabischen Raum tätig. 

Seine Schwester, Krebs? Sterbenskrank? Er sieht ihr Licht verlöschen und weiß, er muss, er will es brennen lassen. Aber wie? Da fällt ihm der Jakobsweg ein. Er hatte sich ohnehin angewöhnt zu Hause um den Block zu gehen, als Kontrapunkt zur Zigarette. Der Entschluss ist schnell gefasst. Er wird diesen Jakobsweg ablaufen und seiner Schwester Geschichten von unterwegs erzählen, wie Scheherazade aus Tausendundeiner Nacht.

Thair Abud packt also seinen Rucksack, sein Laptop, das Handy und steht vom Küchentisch in Graz auf, um nach Santiago de Compostela zu laufen. Als Pilger? Lieber Himmel, nein. Thair Abud hat einen Job zu erledigen. Er schließt drei Deals. Einen mit seiner Schwester. Er läuft, sie lebt. Einen mit Gott, an den er nicht glaubt, „aber es war sonst niemand da auf dem Weg, mit dem ich hätte reden können“. Der Deal ist simpel. Und folgenschwer. „Wenn Du meine Schwester gesund machst und ich gesund ans Ziel komme, gehe ich nach Mekka.“ Und den dritten  für seine Firma. Tagsüber wandert Thair Abud, abends arbeitet er, „ich habe in der Zeit mein größtes Geschäft abgeschlossen“. Mobile Work auf dem Jakobsweg. Der Weg nervt ihn, oft würde er am liebsten hinschmeißen. Geht aber nicht, die Big Deals.

102 Tage braucht Thair Abud durch Italien, Frankreich und Spanien bis Santiago, 3250 Kilometer ist er am Ende gelaufen. Er fliegt zurück in sein altes Leben, arbeitet wieder. Doch der Jakobsweg hat ihn verändert. „Die Welt erschien mir auf einmal so künstlich.“

Die Schwester überlebt. Jetzt steht Thair Abud in Gottes Wort. Also auf nach Mekka.

Zehn Monate nach seiner Rückkehr von Santiago bricht er wieder auf. Seinen Job kündigt er, der Chef will das gar nicht, er würde ihn freistellen, doch Thair Abud winkt ab. Das alte Leben, es passt nicht mehr. Dieses Mal ist die Sache nicht so einfach. Nach Saudi-Arabien weisen keine Muschelzeichen den Weg, es gibt nicht alle paar Kilometer Gasthäuser, die auf Pilger spezialisiert sind. 

Der Wanderer muss seine Route selbst planen, durch die Türkei und den Iran. 286 Tage braucht er für 8600 Kilometer. Dem Sohn einer Deutschen und eines Irakers, der fließend arabisch spricht und bis zum 14. Lebensjahr im Irak lebte, öffnen sich unterwegs viele Türen; Gastfreundschaft gilt etwas im arabischen Raum, erst recht für einen Wanderer nach Mekka. „Danach hatte sich die Welt wieder komplett gedreht.“

Wieder zu Hause, studiert Thair Abud noch einmal an der Universität, arbeitet als Dolmetscher in der Flüchtlingshilfe an der ungarischen Grenze. „Doch ich war nicht glücklich. Ich merkte, dass ich auf das Wochenende warte statt mich auf den Montag zu freuen, wenn ich wieder arbeiten kann.“ Er spürt, dass ihn nur das Gehen glücklich macht, und dass er wieder aufbrechen muss. Nur wohin? Thair Abud sucht sich die längst mögliche Route aus, vom Nordkap aus nach Cape Town, eine Weltreise zu Fuß. Nur Verrückte planen so etwas, er kennt niemanden, der es schon geschafft oder auch nur versucht hätte. Er macht sich keinen Stress. „Ich habe mein Haus verlassen und spaziere durch meinen Garten, in dem viele andere Menschen wohnen.“

Der Ex-Manager lebt von Ersparnissen, der Gastfreundschaft der Menschen unterwegs, Materialspenden für seine Ausrüstung, Spendengeldern und dem Verkauf von Kalendern. Von Österreich und Deutschland aus wird er von Freunden logistisch unterstützt. Ein Fünftel des erwanderten Spendengelds schickt Thair Abud nach Tansania, wo die Clowns krebskranken Kindern den Tag aufhellen; mittlerweile finanziert er eine Vollzeitstelle für einen der Spaßmacher im Krankenhaus. Wer ihm eine Tagesetappe sponsert, bekommt eine Postkarte geschickt. Nummer 497 ging soeben von Alberobello nach Slowenien. Auf Facebook dokumentiert Thair Abud für seine Follower, wohin er die Karten sendet, meist in den deutschsprachigen Raum.

Etwa 13.000 Euro brauche er im Jahr, rechnet Thair Abud. „Geld ist nicht wichtig“, das sagt sich natürlich leichter, wenn noch etwas auf dem Konto ist und immer ein wenig in die Kasse kommt. Doch Thair Abud hat entschieden: So lässt es sich leben. Er hat sich von allen Verpflichtungen gelöst, Job, Wohnung, und ja, auch Familie. Seine Frau hat ihn schon nach der Rückkehr aus Mekka verlassen, die Söhne leben längst in Portugal und Israel. Sein neues Lebensglück liegt im Wandern, Spazierengehen nennt er es, seine „Arbeit“. Spazierengehen ist nicht immer ein Spaziergang.

Es nimmt nicht wunder, dass der Weg immer länger wird. Thair Abud dokumentiert jeden Abend sauber jede Etappe, Kilometer, Höhenmeter und Datum in klassischen Notizbüchern. 23.000 erlaufene Kilometer „klingen auch für mich viel und scheinen unerreichbar zu sein. Aber seit meinem Start am Nordkap sind etwa 1700 Tage vergangen und wenn ich 23.000 durch die Anzahl der Tage dividiere, so bin ich pro Tag nur 13,53 Kilometer gegangen und das ist wirklich nicht viel“.

Das Gehen hat System, die Tage folgen einem ähnlichen Rhythmus, der Rucksack wird immer auf dieselbe Art und Weise gepackt. Kleine Etappen bis zu 25 Kilometer, und abends wird geschrieben – auch in den Sozialen Medien, in denen Thair Abud mit Fotografien und Anekdoten von seinem Tag berichtet.

Auf dem Weg nach Santiago begleitete ihn die Schwester. Heute ist Thair Abud Scheherazade für tausende Daheimgebliebene. Die „Bodenständigen“ nennt er sie. Er selbst hat neuen Boden gewonnen, die Krebserkrankung seiner Schwester hat ihn auf ungeahnte Weise herauskatapultiert aus einem klassischen Leben. Dass er mit seinem Spaziergang die Festanstellung für einen Clown in Tansania bezahlen kann, macht ihn zufrieden. Sein Leben macht ihn glücklich.

Thair Abud: www.fromkapptocape.com

Instagram und Facebook: thairabud