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Also dann ist alles Lüge

Ich höre gerade die neue Staffel des Podcasts „Seelenfänger“ von BR2 (Opens in a new window). In dieser Staffel geht es um die Germanische Neue Medizin. Zu dieser werde ich mich hier nicht äußern, verweise lediglich auf diesen Podcast. Auch die Quarks Science Cops (Opens in a new window) haben eine hörenswerte Folge dazu gemacht.

Mir geht es um Sätze, die in der ersten Folge der neuen Staffel von “Seelenfänger” fallen:

„Weil wenn ein Staatsorgan bereit ist Leuten Gift zu spritzen, also Chemo, weil das ist ja deren Idee ja, dann sind die ja bereit ganz viele andere Sachen auch zu machen. Dann ist ja, wenn du denkst, dass Medizin falsch ist, dann ist alles andere auch falsch, weil dann ist alles, also dann ist alles Lüge.“

Im Podcast beziehen sich diese Sätze auf die Holocaustleugnung der GNM-Anhänger*innen. Aber der Kern dieser Aussagen war mir grausam vertraut.

Ich möchte an dieser Stelle klar formulieren, dass in meinem anthroposophischen Umfeld meines Wissens nach keinerlei Holocaustleugnung stattfand. Aber der Mechanismus, der oben beschrieben wird, der war definitiv da.

Die Erzählung von der bösen „Schulmedizin“ war allgegenwärtig. Medikamente waren gefährlich, Impfungen eine reine Profitgier der bösen Pharmalobby etc. Als Kind wuchs ich also damit auf, dass es gute und böse Ärzt*innen gibt. Die guten Ärzt*innen betrachten dich ganzheitlich, schauen auch auf deine seelischen Konflikte, geben dir homöopathische oder anthroposophische „Medikamente“, Impfen so gut wie nichts und würden auch niemals eine Chemotherapie empfehlen, sondern bei Krebserkrankungen auf Misteln zurückgreifen. Die bösen Ärzt*innen aber glauben, sie wären Halbgötter, bekämpfen nur einzelne Symptome und interessieren sich gar nicht für den Menschen, sind Handlanger der böse Pharmalobby und somit eine Gefahr.

Was macht eine solche Erzählung mit Kindern?

Ich kann beschreiben, was es mit mir gemacht hat.

Ich wusste also, dass es da draußen diese Welt gibt, in der Medizin böse und gefährlich ist. Und ich hatte dieses große Glück zu einer privilegierten Gruppe zu gehören, die es besser wusste. Wir gingen zu einem anthroposophischen Arzt. Gegen Polio, Diphterie und Tetanus war ich zwar geimpft (aus heutiger Sicht kann ich sagen: Wenigstens etwas!), aber Windpocken, Keuchhusten und Masern stand ich, ganz im Steiner’schen Sinne durch. Mumps habe ich nie bekommen, obwohl ich hartnäckig zu mumpskranken Kindern geschickt wurde, um mich ENDLICH anzustecken.

Ansonsten blieb mir aber der Zugang zu echten Medikamenten verwehrt. Oder in meinem damaligen Verständnis: ich wurde davor beschützt. Ich wurde von dieser anthroposophischen Parallelgesellschaft, der ich angehörte, vor der bösen Welt dort draußen beschützt. Eine Welt, in der Mediziner*innen gefährlich sind. Eine Welt, der ich nicht trauen darf, denn die behauptet mir helfen und mich heilen zu wollen, obwohl sie mich in Wirklichkeit krank machen möchte. Und das unter dem Schutz des Staates.

Und hier komme ich nochmal auf die Sätze aus dem Podcast zurück: „Weil wenn ein Staatsorgan bereit ist Leuten Gift zu spritzen, also Chemo, weil das ist ja deren Idee ja, dann sind die ja bereit ganz viele andere Sachen auch zu machen. Dann ist ja, wenn du denkst, dass Medizin falsch ist, dann ist alles andere auch falsch, weil dann ist alles, also dann ist alles Lüge.“

Auf mich bezogen bedeutete das eben: Wenn also alles da draußen Lüge ist, dann muss die Anthroposophie die Wahrheit sein. Dann bin ich nur innerhalb dieser Parallelgesellschaft sicher und beschützt.

Als ich ca. 9 Jahre alt war, da war ich am Wochenende bei meinem Vater, der mit der Anthroposophie nichts zu tun hatte. An diesem Wochenende hatte ich starke Bauchschmerzen, die sich über Stunden hinzogen. Ich machte kreisende Handbewegungen auf meinem Bauch und versuchte viel zu trinken. Ich kümmerte mich also um mich selbst, denn bei meinem Vater war ich nicht in der schützenden Anthro-Welt. Bei ihm war ich in dieser gefährlichen Welt da draußen. Ich musste also auf mich selbst aufpassen. Irgendwann meinte mein Vater, wenn die Bauchschmerzen nicht besser werden würden, würde er mir Schmerzmittel geben. Meine direkte Nachfrage war, ob diese homöopathisch waren. Auf seine Verneinung hin, lehnt ich die Einnahme entschieden ab. Ich war meinem Vater überhaupt nicht böse, er war schließlich kein Anthroposoph und war damit einer dieser armen Menschen, die es einfach nicht besser wussten. Aber aus genau diesem Grund durfte ich ihm eben nicht vertrauen.

Und bei dieser Anekdote zeigt sich eben auch, wie tief dieses Misstrauen ist. Mein Vater wurde in meiner Vorstellung zum unwissenden Helfeshelfer der bösen Pharmalobby und war dadurch Teil einer feindlichen und gefährlichen Welt.

Und jetzt erinnern wir uns bitte an den Beginn der Corona-Pandemie. Wenn ihr in diesem Weltbild verankert oder sogar darin aufgewachsen seid, dann sind die Reaktionen vieler Anthroposoph*innen auf die staatlichen Maßnahmen verständlich. Wenn ein Staat es zulässt, dass eine vermeintlich schädliche Medizin an den eigenen Bürger*innen des Landes verübt wird, zu was ist er dann noch in der Lage? Ich bin mir wegen meiner eigenen Erfahrungen sicher, dass die Angst und das Misstrauen der Coronaleugner*innen aus der anthroposophischen und anderer esoterischen und verschwörungsgläubigen Richtungen echt war und ist.

Aber genau aus diesem Grund halte ich es für enorm wichtig, dass Kindern der Zugang zu anderen Informationen und zur Medizin gesichert wird. Anthroposophische Ärzt*innen, anthroposophische Kliniken, Heilpraktiker*innen, Waldorfschulen etc. sind wirksame Instrumente, um Kinder davon fern zu halten.

Topic Persönliche Erlebnisse