Fehldiagnose Polarisierung
Unsere Gesellschaft ist gar nicht so gespalten, wie viele denken. Ein paar wenige Triggerthemen führen zu hysterischer Aufgeregtheit.
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Wer politisch etwas in einer Gesellschaft zum Besseren verändern will, braucht nicht nur ein ungefähres Ziel, sondern auch ein einigermaßen akkurates Bild von den Zuständen der gegenwärtigen, also zu verändernden Gesellschaft. Und von den hegemonialen Meinungen in dieser Gesellschaft. Bekannt ist das Paradoxon: Auch wenn man vorherrschende Meinungen verändern will, tut man gut daran, sich von diesen nicht allzu weit zu entfernen. Von Bruno Kreisky stammt der berühmte Ausspruch, dass man Umstände keineswegs hinnehmen, aber unbedingt zur Kenntnis nehmen muss.
Heute ist häufig von der „gespaltenen Gesellschaft“ die Rede, die fürchterlich „polarisiert“ sei. Im vergangenen Herbst sorgte allerdings eine große Studie der drei Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser für Aufsehen, die diese Diagnose auf Basis tiefgehender empirischer Untersuchungen in Frage stellte. Kurzum: Das, was die Menschen in Deutschland so denken, ist gar nicht so polarisiert. Die Gesellschaft ist gar nicht gespalten. Zusammen mit dem österreichischen Sora-Institut haben sie jetzt auch dessen Demokratiemonitor mit ihren eigenen Thesen abgeglichen, und das Ergebnis ist für Österreich nicht sehr viel anders.
Folgt man den Wortmeldungen in den Social Media, in Kommentarspalten, dann hat man natürlich einen gänzlich anderen Eindruck, und mitunter wird der auch durch die Diskurse in den klassischen Medien gestützt. Pole knallen aufeinander. Wer laut schreit, bekommt alle Aufmerksamkeit. Gereiztheit nimmt zu. Rechte Scharfmacher spielen auf der Klaviatur, etwa mit vorsätzlicher, provozierender Arschlochhaftigkeit. Aber zwischen dem Geschrei der Pole ist das große, breite Feld der normalen, ganz vernünftigen Leute. Hier gibt es teilweise sogar mehr Konsens als noch vor dreißig, vierzig Jahren, so das erstaunliche Fazit der Forscher. Etwa, was die Zustimmung zum Sozialstaat, zu Gerechtigkeitsnormen betrifft, aber auch viele andere Fragen. Beispielsweise: dass man Zuwanderer anständig behandeln soll, dass dazugehört, wer lange genug dazugehört. Dass niemand diskriminiert werden soll, sei es wegen Geschlecht, Herkunft, Religion, sexueller Orientierung. Aber dass man es mit der Wokeness auch nicht übertreiben soll. Mancher meint wohl, beispielsweise: Man soll selbstverständlich so sprechen, dass sich alle in der Art der Rede inkludiert fühlen und niemand gekränkt ist, aber zugleich soll mir auch niemandem vorschreiben, wie ich zu sprechen habe. Auch in der Beurteilung der Klimakatastrophe und der moralischen Imperative, die daraus folgen, herrscht ein weitgehender Konsens innerhalb eines gewissen Korridors. Ebenso dürfte in dieser breiten Mitte die Meinung ziemlich konsensual sein: Die Zuwanderer gehören hier dazu, man soll ihnen nicht mutwillig Steine in den Weg lesen, aber zugleich soll man Kriminelle, Banditen und Islamisten besser wieder loswerden.
Wer gehört dazu? Wer soll draußen bleiben?
Die schnell erzählte These von „Gesinnungsklassen“ und einander feindlich gesinnten „Lagern“ weisen die Forscher entschieden zurück. „Die Autoren“, formulierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung, „ziehen Ungleichheitskonflikte heran, also Auseinandersetzungen, in denen es um Begünstigung und Privilegierung einiger und der Benachteiligung und Diskriminierung anderer geht, um Lebenschancen, Ressourcen, Rechte und Anerkennung. Wer soll gerechterweise wie viel bekommen? Wer gehört dazu, wer soll draußen bleiben? Was schulden wir den nach uns Kommenden?“
Das Urteil der Forscher ist eindeutig: „Man versteht das Land und seine Politik besser, wenn man begreift, dass ‚Middle of the road‘-Positionen und nicht zugespitzte Meinungen besonders politisierter Gruppen die Grundhaltungen der Mehrheit prägen – allen Sorgen um das Erstarken des Rechtspopulismus zum Trotz.“
Man könnte also folgendes Bild einer Gesellschaft zeichnen: Es gibt radikale Ränder, vor allem die Aufgansler der extremen Rechten, und das Geschrei scheint die öffentliche Debatte zu dominieren, doch die breite Mitte der Vernünftigen ist davon zunehmend genervt. Spricht man zu ihr, gibt man ihr eine Stimme, dann wird man leicht Mehrheiten finden für, sagen wir einmal: eine maßvolle, progressive Vernünftigkeit.
Aufregerthemen
Das ist sicherlich nicht falsch gedacht, aber möglicherweise sind die Dinge auch komplizierter. Die Forscher sprechen von „Triggerpunkten“, die trotz weitgehendem Konsens von Vernünftigkeit die Gereiztheiten und das Gegeneinander anspringen lassen können. Deswegen, beispielsweise, taugt das an sich ja völlig unbedeutende „gendern“ als Aufhusser-Thema. Diese „Triggerpunkte“ können sogar die gelassene Mehrheit extrem emotional reagieren lassen. Ein paar so „Trigger“, und man hat Kulturkämpfe, sogar mit einer Gesellschaft ohne „affektive Polarisierung“. Zumal, wenn sie von Wutbewirtschaftungsunternehmern und Kulturkampfprofiteuren geschürt werden.
Ganz unwissenschaftlich, aber durch die Beobachtung der Welt hat sich bei mir in den vergangenen Monaten aber noch eine andere Einsicht verstärkt: Womöglich hilft es für ein akkurateres Verständnis unserer Zeit, wenn man sich mit dem Gedanken anfreundet, dass Menschen vernünftig und fanatisch zugleich sein können, sowohl besonnen als auch radikalisiert.
Gelegentlich schaue ich mir die Social-Media-Accounts von Leuten an, die ich ein wenig, aber auch nicht allzu sehr kenne, die im allgemeinen relativ vernünftige Meinungen haben und meist ein Gespür für die Einerseits-Andererseits-Komplexitäten verwickelter Sachverhalte, oder, simpel gesagt, für die Kompliziertheit der Welt. Und gelegentlich wundere ich mich.
Selbstradikalisierung der Vernünftigen
Denn auch die geraten dann bei einzelnen Themen in einen Tunnel der Selbstradikalisierung hinein. Dabei müssen sie nicht einmal extremistische oder unvernünftige Meinungen entwickeln. Nur ein paar Beispiele: Die einen sind extrem erschüttert vom bestialischen Massaker der Hamas. Die anderen sind extrem erschüttert von Massensterben in Gaza und der Brutalität der israelischen Kriegsführung. Andere sind extrem verängstigt über die Aussichten der Klimakatastrophe. Wieder andere waren während der Pandemie für weitreichende Schutzmechanismen, und wenn die nicht in allen Zeiten verhängt wurden, dann hielten sie das quasi für einen vorsätzlichen Mordversuch böswilliger Gesundheitsminister. Manche haben äußerst starke Meinungen zu der Frage, ob Transfrauen biologisch Frauen sind, und, falls ja oder nein, was denn daraus folgen würde. Wir könnten hier noch viele andere Beispiele anbringen. Gemeinsam ist diesen Meinungen ja, dass sie keineswegs irre Auffassungen sind, sondern im Gegenteil, oft sehr viel Vernünftigkeit auf ihrer Seite haben. Der Angriff der Hamas war ja tatsächlich bestialisch. Die Bedrohungen, die Juden und Jüdinnen überall empfinden, sind ja tatsächlich vorhanden. Das Gemetzel in Gaza ist ja tatsächlich schrecklich. Die Aussichten auf die Klimakatastrophe sind ja tatsächlich fürchterlich und werden noch immer viel zu oft ignoriert, und eine potentiell sehr tödliche Krankheit soll man ja tatsächlich so weit wie möglich eindämmen. Menschen, die unter ihrer Gender-Identität leiden, sollte man ja tatsächlich nicht auch noch zusätzlich diskriminieren oder ihnen das Leben schwer machen.
Aber spätestens wenn die Leute dann aufgeregt und obsessiv dreißig oder hundert Postings täglich absetzen, im Minutentakt Links zum Thema verbreiten, und zunehmend von besonders parteiischen Quellen mit schrägem Bias, dann weiß man: Sie beschäftigen sich jetzt völlig besessen mit dieser einen Sache, sie lässt sie nicht mehr los. Sie betreiben sogar das Vernünftige auf unvernünftige Weise. Je mehr empörenswerte Sachverhalte sie dabei in Erfahrung bringen, umso empörter werden sie selbst. Sie sind in einem Tunnel der Selbstradikalisierung. Es hat etwas Rauschhaftes. Sie sind quasi nicht ins Rabbit-Hole, sondern im „Madness-Hole“ gefallen. Wenn man nur mehr mit einer Meinung „beschossen“ wird, und zwar mit immer mehr Schocknachrichten, die die Meinung stützen, die man sowieso schon hat, dann wird ein Bias, den man zuvor schon hatte, in eine groteske Einseitigkeit radikalisiert und die Emotion schlägt dann schnell die Vernunft. Salopp gesagt: Man muss nicht dumm sein, um zu vertrotteln. Es reicht schon, wenn man in einer Selbstbestätigungs-Spirale überdreht.
„Hysterische Aufgeregtheiten“
Was ich daran interessant finde: Dass man auf vernünftige Weise irre und radikal werden kann. Gewissermaßen: Man muss nicht an Ufos, Fake-News oder Verschwörungstheorien glauben, um durchzuknallen. Ja, wahrscheinlich schaffen es die Menschen sogar, bei einem Großteil der Themen vernünftig zu bleiben, während sie bei ihrem grade angesagten Besessenheits-Thema gerade durchdrehen.
Nicht alle diese individuellen Faibles sind gleich „Triggerpunkte“, die für die gesamte Gesellschaft etwas auslösen. In Summe entsteht eher ein „Wimmelbild der Gereiztheit, der Launen, Beleidigungen, Empörungen, hysterischen Aufgeregtheiten und nervösen Stimmungen“ (FAZ).
Die Polarisierungsdiagnose ist ein paar nüchterne Fürs und Widers wert. Wahrscheinlich sind einfache Antworten falsch, also sowohl „alles polarisiert“ wie auch „die Polarisierung ist übertrieben“. Zumal ja schon die seltsame Tatsache, dass eine unpolarisierte Gesellschaft über sich denkt, sie wäre polarisiert, nicht ohne Folgen bleibt. Die Vorstellungen, die eine Gesellschaft von sich hat, wirken ja wieder auf die Gesellschaft zurück – sogar wenn sie falsch sind. Es kann ja durchaus sein, war unlängst in der „Süddeutschen“ zu lesen, „dass die gefühlte Polarisierung eine Antriebskraft für echte Polarisierung sein kann. Wenn wir alle glauben, dass die Welt in zwei Lager gespalten ist, dann verhalten wir uns politisch auch so – und es wird real. Soll heißen: Bei jedem Sachproblem geht es nicht mehr um die Sache. Jeder will nur noch wissen, auf welcher Seite die eigenen Leute sind und wo die Gegner.“