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Schnaps und Valium, das Nehammer-Menü

Über einen torkelnden Bundeskanzler, die gefühlte und die wirkliche Wirklichkeit – und andere Illusionen, die durch Mangel an Alkohol hervorgerufen werden.

Österreichs Bundeskanzler, Karl Nehammer, die meisten werden von ihm noch nicht gehört haben, und meines Dafürhaltens ist es auch nicht zwingend nötig, sich den Namen noch zu merken, Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer hat nun also gesagt, wenn „wir so weiter machen“, dann bleibe „euch“ im Herbst nur mehr die Wahl zwischen Alkohol und Psychopharmaka, so arg sei die Lage. Alkohol sei an sich ja okay, fügte der fesche Karl noch dazu. Es sollte ein Scherz werden. Selbst bei den tapfersten Schenkelklopfern einer Provinz-Faschingsgilde hätte das traurige Witzchen nur für bemühtes Lachen gereicht.

Mittlerweile fragen sich auch die Leute in seiner Partei, ob der Kerl noch alle Schnapsgläser im Schrank hat. Der Mann bringt das rhetorische Kunststück zuwege, trotz der Abwesenheit jedes Gedankens Gedankenpausen einzulegen.

„Nehammer (…) spürt spät, dass er Bundeskanzler ist und kein Skilehrer“, formuliert elegant der Chefredakteur einer Boulevardzeitung.

Alle fragen, ob Nehammer noch alle Schnapsgläser im Schrank hat. Jetzt wird ihm richtig eingeschenkt. Dabei ist der Alko-Karl der perfekte Repräsentant eines Landes, das unter Fachkräftemangel stöhnt.

Dem Herrn Nehammer wird jetzt also richtig eingeschenkt, von seinen eigenen Leuten wird ihm eingeschenkt, man schenkt sich nichts mehr beim Einschenken, und böse Zungen sagen, der Alko-Karl sei eigentlich die würdige Repräsentanz eines Landes, das heutzutage viel über Fachkräftemangel klagt. Nirgendwo ist der Fachkräftemangel schmerzhafter zu verspüren als an Österreichs Regierungsspitze. Im Hause Nehammer hat man mit den Folgen des Alkoholmissbrauchs eine gewisse Erfahrung, erst unlängst gab es Aufruhr, als Personenschützer nach einem nachmittäglichen Umtrunk mit der Kanzlergattin einen Parkschaden anrichteten. Die armen Kerle wurden in den Innendienst versetzt.

Das Problem ist nicht ein verunglückter Witz, das Problem ist, dass ganze Reden des bemitleidenswerten Kanzlerdarstellers wie eine schiere Aneinanderreihung vertrottelter Scherze, peinlicher Falschzitate und ähnlichem erscheinen, zwischen denen die sachgerechten, akkuraten oder auch nur trivialen Mitteilungen wie planlos platzierte Henkel oder Haltegriffe verteilt sind. Ein Kanzler, der verbal nur mehr durch die Gegend torkelt. Das echte Problem besteht also darin, dass so aufreizende Unfähigkeit jedes Vertrauen in die Fähigkeiten der Regierung untergräbt, die gegenwärtige Situation auch nur irgendwie schaukeln zu können. Ist ja nicht so, dass es nicht ein paar Probleme gäbe, von denen man gerne hätte, dass sich ihrer jemand annimmt, der nicht sofort schwer verunfallt. Das Land in der Hand von Leuten, die nicht einmal ordentlich einparken können, da schleicht sich natürlich etwas Panik ein, angesichts der geostrategischen Gesamtlage.

Hilflosenzuschuss

Angesichts solcher Amtspersonen ist „Rette sich wer kann“ die naheliegendste Option, wahrscheinlich ist es das, was die Konservativen unter „Eigenverantwortung“ verstehen. In meiner Kindheit, die eine Zeit war, in der politisch-korrekte, also achtsame Sprache noch nicht so durchgesetzt war wie heute, gab es eine Sozialleistung, die „Hilflosenzuschuss“ genannt wurde. Manchmal denke ich, es wäre ein gar nicht so schlechter Name für die Remuneration des gegenwärtigen Wiener Spitzenpersonals. Vielleicht wird Nehammer ja auch irgendwann Kult, ein Fundus an Geschichten, an Unfällen, derer man sich in Abendgesellschaften schenkelklopfend erinnern wird. Vor ein paar Wochen freute er sich derart, dass hunderte Leute zu einem Parteitag gekommen waren, dass er ausrief, so viele in einem Raum, „das heißt auch, so viele Viren, aber jetzt kümmert es uns nicht mehr“.

Mit etwas Abstand haben Nehammers Quatschgerede und Hanswurstiaden vielleicht Potential in den Legendenfundus einzugehen, ähnlich des seligen deutschen Ex-Bundespräsidenten Heinrich Lübke, dem freilich seine peinlichsten Fehlleistungen nur zugeschrieben wurden.

Realität und Illusion

Möglicherweise kennen sie ja das Aperçu, dass die Realität eine Illusion ist, die durch einen Mangel an Alkohol hervorgerufen wird. Viel wird ja über Fake-News geredet, aber seltener von der Fake-Reality. Die ist aber ein viel vertrackteres Phänomen. Robert Musil, der große Schriftsteller und Autor des „Mann ohne Eigenschaften“, sprach nicht nur von Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn, sondern frug nach der „wirklichen Wirklichkeit“. Schließlich haben wir zur Wirklichkeit keinen direkten Zugang, sondern allerhöchsten zur unmittelbarst erlebten Realität – unserer direktesten Erfahrungswelt –, aber auch das können wir in Frage stellen, weil wir diese Realität immer sofort in einen Bedeutungs- und Interpretationsrahmen einfügen.

„Die Behauptung, dass ich eine absolut persönliche Erfahrung mache, ist unsinnig: ich kann überhaupt keine Erfahrung außerhalb einer Sprache machen, mittels derer ich sie erfahren kann“, schreibt Terry Eagleton in seiner Literaturtheorie. Versuchen sie einmal, über ein Erlebnis zu grübeln, ohne dabei stumm mit sich selbst in ihrer gewohnheitsmäßig gebrauchten Sprache in einen Dialog zu treten. Es wird ihnen nicht so recht gelingen. Wenn ihnen jemand einen Faustschlag versetzt, wird das schmerzen, sie werden aber zugleich wissen, dass das, was sie eben erhalten haben, das ist, was wir den Konventionen gemäß „Faustschlag“ nennen und sie werden auch die kulturellen Codes kennen, die wir mit „einen Faustschlag bekommen“ verbinden. Sie werden beispielsweise wissen, dass es sich dabei um einen aggressiven, illegitimen Übergriff handelt. Würden sie in einer Welt leben, in der sie vorher noch nie von Faustschlägen gehört haben, wären sie womöglich einfach überrascht und wüssten das Geschehen nicht mit Bedeutung zu versehen.

So ist jede Realität schon interpretierte Realität, die immer auch anders interpretiert werden könnte, und die Menschen sind in ihren Wahrnehmungen so unterschiedlich, aber auch in ihrem emotionalen Stil, dass es eigentlich erstaunlich ist, dass wir uns überhaupt zu verständigen vermögen. Die Realität ist wirklich und fiktiv zugleich.

Wenn wir – also Sie und ich – nebeneinander stehen, und ein und dasselbe Geschehen erleben, dann löst dieses Geschehen bei ihnen vielleicht etwas gänzlich anderes aus, es dockt an andere Vorerfahrungen an, wird in einem anderen Interpretationsrahmen gedeutet, sodass es für sie letztlich ein ziemlich anderes Geschehen sein könnte.

Jeder reagiert anders, den Durchschnittstyp gibt es nicht – die einen ärgern sich furchtbar über Dinge, die andere völlig kalt lassen –, das „fühlende“ und das „denkende“ Gehirn sind auch nicht zu trennen. Kognition ohne Emotion gibt es nur bei den Vulkaniern bei Raumschiff Enterprise.

Dieses potentielle Unvermögen, uns auf verbindliche Interpretationen eines Geschehens zu einigen, wird mit dem Hilfskonstrukt von „psychischer Normalität“ entschärft oder besser vernebelt, also der Annahme, dass die meisten Menschen ein Geschehen einigermaßen gleich interpretieren und empfinden würden, und deviant von der Normalität ist eine kleine, neurodiverse Minderheit, die anders empfindet. Kurzum: Der Idee, dass irgendwie 98 Prozent der Leute „normal“ im Sinne von „Durchschnitt“ seien, und zwei Prozent deviant. Instinktiv gehen wahrscheinlich die meisten von uns davon aus, dass die übergroße Mehrheit der anderen Leute die Dinge ähnlich wahrnimmt, wie man es selbst tut. Das freilich ist, folgt man Psychologie, Gehirnforschung und anderem, in einem Ausmaß ein Hilfskonstrukt, dass es schon wieder falsch ist – weil es so radikal unterschiedliche emotionale Stile von Menschen gibt, die alle innerhalb eines Rahmens der Normalität sind. Die Normalität hat eine große Breite, aber „normal“ ist so Unterschiedliches, dass Verständigung über Empfindungen allenfalls eine Art von Übersetzung von einer „Sprache“ in die andere ist – und das auch nur, wenn man überhaupt weiß, dass es diese Notwendigkeit der Übersetzung gibt. Meist vergisst man darauf und wundert sich in der Folge über die Missverständnisse, die resultieren.

Fake Reality

Bisher haben wir nur über die Schwierigkeiten gesprochen, uns ein akkurates, „wirkliches“ Bild von der unmittelbar erlebten Realität zu machen. Aber die allermeisten Dinge – Informationen, Reize, etc. – erleben wir nicht durch unmittelbare Erfahrung, sie sind medial konstituiert, von Narrationen, die umherspuken, und durch Fakten und Geschehnisse, von denen wir erfahren, was skurillerweise das Gegenteil von Erfahrung ist.

Dinge, von denen wir erfahren, sind nicht unbedingt Dinge, mit denen wir Erfahrung haben.

Wir passen, was wir erfahren, in unsere Weltsicht und unserem Denkhabitus ein, was auch heißt, wir sortieren selbst reale Fakten so ein – und aus – dass eine Fiktion entsteht, die völlig akkurat ist, insofern, als es durchaus korrekte Fakten sind, die wir so zusammentackern, dass sie eine Fake Reality ergeben, ein windschief zusammengehämmertes Hühnerhaus.

Gefühlswissen

Wir brauchen dafür nicht einmal besonders viel Voreingenommenheit: Wenn Sie im Schwarzwald leben und drei Mal im Jahr lesen, dass es in Berlin-Neukölln eine Schießerei gegeben hat, werden sie einfach gefühlswissend darauf getrimmt, dass es in Neukölln gefährlich ist, und sich, sollten Sie einmal vorbei kommen, wundern, dass man hier tagelang spazieren gehen kann ohne brenzlige Situationen zu erleben. Die Nachricht von den drei Schießereien kann dennoch der Wahrheit entsprechen, ist aber doch ein Faktum, aus dem eine Fake-Realität, eine fiktive Wirklichkeit entsteht.

Was ich sagen will: Man braucht keine Fake-News, um in den Tunnel einer Fake-Realität zu geraten, auch wenn es die Sache natürlich erleichtert. Alles ist wahr und alles ist Illusion.

Die fiktive Wirklichkeit ist in einem nächsten Durchgang gewissermaßen auch ein Mosaikstein von Wirklichkeit, einerseits für uns selbst, andererseits für andere, denen wir sie mitteilen. Fakten gehen mit Deutungen eine schöne Komplizenschaft ein, mit Illusionen, die ja selbst eine Wirklichkeit sind, wie Karl Marx schon wusste, der erklärte: „Die Individuen kehren in ihren Vorstellungen ihre eigene Wirklichkeit um, stellen sie auf den Kopf, und das bildet einen Teil dieser Wirklichkeit.“

Sorry to say, aber lets face reality. Die Realität, will ich also sagen, ist eine latente Balance von Konflikten, die heraufdräuen, von Prozessen, die sich verstärken, aber auch widersprechen, von hunderten und tausenden Impulsen, Motiven, Handlungen, Gefühlen, auch von Fehlurteilen, die wir nur annähernd vollständig im Blick haben können und unmöglich alle in ihrem Prozesscharakter, also in ihrem aufeinander einwirken völlig richtig interpretieren können.

So ist das, in Wirklichkeit.

Prost, wie Karl Nehammer sagen würde. Oder demnächst: Nastrojve!

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