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Der neue Kult des Normalen

Der Begriff der „Normalität“ ist wieder als politisch-polemische Kampfphrase zurück – nachdem man uns seit Jahrzehnten einredet, wir sollten alle ein unverwechselbares Ich kultivieren.

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Der Begriff der „Normalität“ ist in der politischen Debatte zurück. Man hätte sich das eigentlich gerne erspart, bedenkt man, welch dünnes Eis betreten wird, sobald angebliche konventionelle Lebensstile und Denkweisen in den Rang des „Normalen“ erhoben, und damit alle anderen mindestens zu schrägen Vögeln, wenn nicht sogar zu „Abnormalen“ erklärt werden.

„Deutschland, aber normal“, plakatiert die rechtsextreme AfD, was mit allen Beiklängen nicht nur übel, sondern auch komisch ist. Denn gerade der extremistische Überbietungswettbewerb und die immer schrillere, ressentimentgetriebene Wutbewirtschaftung sind alles Mögliche, gewiss aber nicht „normal“. Dass sich die Schreihälse einbilden, normal zu sein, erinnert an den Witz vom betrunkenen Raser, der die falsche Autobahnauffahrt genommen hat, aber alle anderen für Geisterfahrer hält.

Es gibt aber auch die gemäßigtere Form einer selbstgefälligen Normalitätsbehauptung. Normal, das heißt dann so in etwa: dass man ohne allen Spleen sei, jeder Exzentrik und sonstiger Seltsamkeit abhold, dass man die Ansichten, die man so hat, mit Maß und Ziel vertritt und niemals radikal; dass man morgens aufsteht, fleißig arbeitet, die Wohnung in Ordnung hält usw. Die konventionellen Lebensweisen eben, irgendwie Durchschnitt und schon deshalb die „Norm“. Eine österreichische Regionalpolitikerin von der konservativen Volkspartei hat unlängst mit der Behauptung für Aufregung gesorgt, ihre Partei sei einfach die der „Normaldenkenden“.

Fiktionen von Normalität möblieren die Vorstellungswelten vieler Konservativer, aber auch manche Linke oder traditionsbewusste Sozialdemokraten haben ihre Bilder vom „normalen Leben der einfachen Leute“, die tagsüber malochen und am Wochenende mit Schmerbauch, Schlapfen und kurzen Hosen mit Kollegen grillen und auf „verrückte Emanzen“ schimpfen.

Als Bild im Kopf oder auch nur als „soziologische These“ (als These nämlich, dass es eine einigermaßen hegemoniale Gruppe von Menschen gibt, die da darunterfällt), ist das ja in Ordnung. Als politisch-polemische Kategorie vielleicht schon weniger.

Der Historiker Berthold Molden verwies auf die „gefährliche Kraft“ einer solchen Sprache, die deklariert: Die Norm bin ich. Dann schlage bald, so Molden, die „Stunde der Blockwarte und Denunzianten“.

Sobald man darüber nachzudenken beginnt, werden die Dinge kompliziert. Nicht selten ist das, was sich zur „Norm“ ausruft, ja das Gegenteil des implizit Behaupteten: Eine kleine Subgruppe will, dass die anderen nach ihrer Pfeife tanzen. Man behauptet schlicht, die „einzige Verkörperung einer allgemeinen Norm anständigen Lebens und vernünftigen Denkens zu sein“ (Molden). Und das, obwohl es den hegemonialen Mainstream konventioneller Lebensführung heute nicht mehr gibt. Molden beschreibt diese „Begriffsparadoxie“ am herrlichen Beispiel seiner Großmutter, die gelegentlich ausrief: „Ich bin der einzige normale Mensch!“ Auch sie wird geahnt haben: Wer als einzige normal ist, die ist es definitionsgemäß gerade nicht.

Will man einen schwachen Normalitätsbegriff zugrunde legen, also die Annahme, dass ein Lebensstil normal ist, den eine signifikante Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger bevorzugt, dann stellt sich natürlich zunächst einmal die Frage: Ist heute in diesem Sinne überhaupt irgendetwas „normal“?

Zeitgenössische Gesellschaften sind in lebensweltlicher Hinsicht äußerst verschieden, die Menschen haben signifikant unterschiedliche Werte und Normen, sie pflegen eine unterschiedliche Lebensführung, dazu kommt die ethnische Diversität moderner Gesellschaften und die kulturellen Differenzen zwischen Generationen, Stadt und Land etc. Sie ist aufgespalten in Peer-Groups, Lifestyle-Communities, in Lebenskulturgemeinschaften, in Milieus und Submilieus. Niemand ist die Mehrheit, niemand die Norm, wir sind alle Minderheiten. Gesellschaft ist das „Patchwork von Minderheiten“ (Jean-Francois Lyotard). In der Werbung heißen diese jeweiligen Gruppenkollektive dann „Zielgruppen“.

Zugleich gibt es aber bei aller Heterogenität doch einen Korridor allgemein akzeptierten Verhaltens, das die Mehrheit teilt. Ist das dann mit „normal“ gemeint?

Doch es ist noch lange nicht aus mit den Kompliziertheiten. Die Heterogenität unserer Gesellschaften ist ja nicht nur ein empirisches Faktum. Das spätmoderne Subjekt wird darauf auch getrimmt, wie Andreas Reckwitz in seinen Studien über die „Gesellschaft der Singularitäten“ ausgiebig beschrieben hat. Es begehrt, gerade nicht Durchschnitt, sondern Besonders zu sein, ein Begehren, das aber ein hohes Enttäuschungspotential in sich hat: Die meisten gehen natürlich leer aus, denn wenn alle Erfolg hätten, „hat ihn keiner“ (Sighard Neckel). Der Wettbewerb ums Außergewöhnliche produziert, wie jedes Rattenrennen, wenige Sieger und viele Verlierer.

In den vergangenen Jahrzehnten ist das „Normale“ aus der Mode gekommen, weil niemand Durchschnitt sein will. Mehr als das, die herrschende Ideologie ruft uns täglich zu: Arbeite an Deiner Individualität, die Dich von anderen unterscheidet. Alle Psychoratgeber bombardieren uns mit der Botschaft: Bemühe Dich darum, die beste Version Deines Selbst zu schaffen. Schon die Kleinsten saugen es auf, etwa mit der herzigen Geschichte vom „Kleinen Ich-bin-Ich“, dem Tierchen, das keinem anderen gleicht, lange todunglücklich ist, dann aber erkennt: Es ist nicht irgendwer, es ist ich. Der Neoliberalismus wiederum trichtert es den Menschen ein, hält den Wettbewerbsindividualismus hoch. Lustig, wenn gerade Wirtschaftsliberale den Kult des Normalen entdecken. Gleichheit ist zwar des Teufels, aber plötzlich ist die Normalität Trumpf, die ja nur dann als Begriff irgendwie sinnvoll ist, wenn sie weitgehende Ähnlichkeit betont und die Unterschiedlichkeiten einebnet? Der Eindruck drängt sich auf: Da drehen es sich manche wie sie es gerade brauchen.

Bei der akademischen Linken ist es auch nicht so viel anders, die sich einen gewissen Kult der Differenz angewöhnt hat. Kurzum: Differenz ist spannend, Gleichheit fad. So wie die anderen will ohnedies keiner sein: Mainstream ist das Letzte. Jeder wünscht sich als eine unverwechselbare Type zu sehen. Diese existenzialistische Wende (Diedrich Diederichsen) war die linke Spielart der Individualisierung.

Da sich die Zeiten ändern, kann ein und dieselbe Sache im Laufe der Zeit unterschiedliche Wesenszüge annehmen. Das ist nicht schlimm, macht die Sache nur knifflig. In homogenisierten, hochkonventionellen Gesellschaften, in denen die Diktatur des Konformismus und der Terror des ‚gesunden Hausverstandes‘ vorherrscht, ist die Abweichung, das Exzentrische, und die selbstbewusste Darstellung eines eigenen, außergewöhnlichen Ich eine Befreiung. In heterogenen, ausdifferenzierten Gesellschaften, die den Kult des Ego-Individualismus frönen, ist das allgemeine Verlangen nach Besonderung möglicherweise auch nur eine Form von Schnöseltum, vergleichbar dem Lackaffen mit Stecktuch, der sich als etwas Besseres vorkommt. In der Gesellschaft der Singularitäten wäre die Behauptung und das Streben, „einfach normal“ zu sein, in gewisser Weise die eigentlich Exzentrik.

Über diese paradoxen Wendungen von avantgardistischen Besonderungswünschen und dem neuen Normal hat Peter Unfried jüngst in der Berliner „tageszeitung“ eine schöne Kolumne geschrieben: „Früher wollte ich alles, nur nicht ‚normal‘ sein. Normal waren die anderen. Normal war scheiße. (…) In einer pluralistischen, diversen und emanzipatorisch fortgeschrittenen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts sind Unterschiede und Unterschiedliche normal. Ein Auto zu haben ist normal. Kein Auto zu haben ist auch normal. Wurst zu essen ist normal. Keine Wurst zu essen ist auch normal.“ Nicht normal, proklamiert Unfried, ist nur „die Verabsolutierung einer partikularistischen Normalität, in der einer von vielen Lebensstilen und Kulturen als Maß aller Dinge gesetzt wird.“ Was vorne als Differenz reingefüllt wurde, kann hinten als Normalität rauskommen. Eine verwickelte Sache.

Es gibt eine Sehnsucht nach Normalität. Es gibt die Ermüdung über den Zwang, dauernd außerordentlich sein zu müssen. Es gibt die Frustrationen, die damit einher gehen, dass es im Wettbewerb um das Besondere nur für wenige Treppchenplätze am Siegerpodest gibt. Es gibt auch das Empfinden mancher, „die ganz Normalen“ kämen heute viel weniger vor als exaltierte Wichtigtuer, und würden auch noch heruntergemacht. Und dann gibt es den Kampf um die Normalität, also darüber, was als „normal“ definiert wird. Alles zusammen führt zur neuen Hochkonjunktur des Normalitätsgelabers. So gesehen ist die Ehrenrettung des Normalen eine durchaus unterstützenswürdige Sache.

Bei aller Schmeichelei gegenüber Otto Normalverbraucher sollte freilich auch nicht ganz vergessen werden, dass die Überschreitung der Grenzen des Üblichen, der Ausbruch aus Konventionen, die Originalität, die Befreiung des Ich aus ranzigen Regeln, Sozialkontrolle und Spießigkeit die Fortschritte der Moderne und eine Kultur der Freiheit erst ermöglicht haben. Gerade in Großstädten waren es die schrägen Vögel, die eine Atmosphäre geschaffen haben, die längst auch der Normalverbraucher genießt, und sei es nur als Wochenendtourist.

Eine Welt der Normalen wäre ein Paradies für Pedanten.

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