Folge 38
Etwas Altes: Tradition im Wohnraum
Beim weihnachtlichen Ultrakurzbesuch bei meiner Mutter – ihr geht es nicht gut, deshalb hatte sie ihre Teilnahme an der offiziellen Feier bei den Schwiegereltern gecancelt – kam es zu einer interessanten Beobachtung. Die jungerwachsenen Söhne bewegten sich plötzlich komplett anders in der Wohnung, in der sie früher immer mal wieder zusammen oder allein ein paar Tage mit ihrer Oma verbracht hatten. Vor allem die so genannte Bauernstube, ein rustikal mit alpenländischen Holzmöbeln, italienischen Krügen, alten Gemälden und katholischen Objekten eingerichtetes Zimmer, in dem seit dem Tod meiner Oma im Jahr 1992 nur einmal frisch tapeziert und sonst buchstäblich nichts verändert wurde, hatte es ihnen angetan. Foto Opportunity, Snap, Instastory, »Mama, Fischauge einstellen, die Lampe muss mit drauf«. Auch das war neu, sonst posten sie eher selten etwas und eigentlich nie Elternhaus-Content. (Ihre Freunde machten das dieses Jahr über die Feiertage auch alle, es scheint irgendwie damit zusammenzuhängen, dass sie nun meist in eigenen Wohnungen leben und ihr Blick aufs Wohnen und die Familie sich geändert hat. )
Meine Mutter fragte sich und danach mich, ob das Verarschung gewesen wäre, also Amüsement auf ihre Kosten, aber ich konnte sie beruhigen, indem ich mich selbst etwas beunruhigte, denn meine Überzeugung ist: Die finden das WIRKLICH gut, feiern es, und zwar höchstens minimalironisch. Sie sehen sich vor ihrem geistigen Auge unterm von Barockputten flankierten Herrn Jesus am Kreuz und den brokatenen Klosterarbeiten mit ihren Kumpels sitzen und Joints bauen, Mische trinken. Gestern Bauern-, heute Chillstube. Auf mich selbst wirkte und wirkt die Einrichtung immer irgendwie stimmig und geschmackvoll, aber sehr, sehr fremd. Konservativer Heimatkram. Alienstube. Bei meinen erwachsenen Kindern scheint sich das gedreht zu haben, sie sehen den Stil kontext- aka heimatlos und damit wieder aneignungsfähig.
Die Art und Weise, wie christliche Dinge bei meiner Mutter rumhängen, -stehen, -liegen, finde ich für eine säkulare Gesellschaft vorbildlich. Sie sind einfach da, weil sie immer da waren, obwohl bereits meine Großeltern allenfalls Weihnachtschristen waren und meine Mutter vielleicht sogar schon vor mir aus der Kirche ausgetreten ist. Sie sind noch da, aber nehmen gleichberechtigt Raum ein neben all dem deutschbürgerlich zusammengesammelten Klimbim vergangener Zeiten, der vielfach in dekontextualisierter Kultur von woanders besteht: hier eine russische Ikone, da ein Wandteppich aus dem Iran, eine Scherbendose aus China, ein Brocken erkaltete Lava vom Ätna. Anders als bei meinen Schwiegereltern, die sich alles arglos kolonialistisch von Reisen selbst heimgeschleppt haben, ist der Mix bei meiner Mutter kleinbürgerlicher, weil oft ohne persönlich gefärbte Provenienzgeschichte: Auf dem Ätna war nicht sie, sondern ich, die Scherbendose habe ebenfalls ich – damals noch unberührt von postkolonialen Schriften – in einem Münchner Laden gekauft, der Wandteppich stammt von meinen Großeltern – ich erahne ungute Quellen –, die »von Bolschewiken« – mein Vater hat das so ausgedrückt, aber es klingt nicht nach ihm, also wohl ein unausgewiesenes Zitat – durchdolchte Ikone hat eine deutsche Gräfin meinem anderen Großvater geschenkt, als der als Soldat in Russland im Krieg war – ich hätte auch hier Fragen, zu spät, er ist schon fast 50 Jahre tot. Inmitten von all den äußerlich schönen, ethisch fragwürdigen Dingen geistert meine notorisch unaufmerksame und entsprechend erinnerungsarme Mutter herum (Hilfe, der brain fog ist wohl auch noch genetisch) – immerhin lässt sie unkommentiert Menschen leben, wie sie möchten; das ist ja in Deutschland schon ein familiärer Glücksfall. Zurück zum katholischen Zeug: In der Wohnung meiner Mutter ist es Teil einer irgendwie stimmig unsinnigen Deko. Anything goes in der Diskursfreivariante. Frei aber auch von jedem SO IST DAS HIER BEI UNS IN DEUTSCHLAND. Die Definitionsaura ist weg. So kann man es als Ungläubige – meine Mutter, mein Mann, meine Kinder, ich – gut aushalten, vermutlich wirkt es auch auf Andersgläubige weit weniger übergriffig mia san mia wie das Kreuz in bayerischen Amtsstuben.
Der jüngere Sohn meinte später noch, dass, als er klein war, die Wohnung unheimlich auf ihn gewirkt hätte, heute fände er sie schön.
Versuch einer Neudefinition: Gemütlichkeit ist, wenn die Dinge dir nicht murmelnd davon erzählen, dass die Gesellschaft dich aus dem Weg schaffen möchte. (Kinder denken ja noch eher, die Dinge selbst hätten es auf sie abgesehen.) Gemütlichkeit, die nicht faschistoid ist, kann entsprechend nur dann empfunden werden, wenn sie innerhalb einer Gesellschaft entsteht, in der grundsätzlich niemand aus dem Weg geschafft werden soll.
Für mich persönlich erzählen manche Dinge in der Wohnung meiner Mutter Unheimliches, deshalb empfinde ich sie nicht als gemütlich. Die im 21. Jahrhundert geborenen Familienmitglieder aber nehmen die unheimlichen Lagen nicht mehr wahr, ihnen fehlen entsprechende Kontexte. Die Dinge erzählen ihnen nur von Möglichkeiten.
– Sehr interessant ist auch, wie scharf die Jungs auf die persischen Teppiche der Großeltern sind, denn auch hier hat sich etwas gedreht. Der alte kolonialistische Gestus der Welt als Supermarkt für weiße Eurochrist*innen wirkt hier nicht mehr, die Jungen wollen die Teppiche nicht aus Exotismus haben, sondern weil sie sie aus den Wohnungen ihrer Berliner Kumpels kennen, für deren Eltern sie vermutlich Heimat markieren: the real thing. Für meine Söhne aber markieren persische Teppiche den Übergang zum Geschmack der eigenen Generation, eine Abnabelung von den Eltern, uns, die ihren Wohnraum zumindest lange Zeit gern teppich- und gardinenlos gestalteten. Von außen könnte es so aussehen, als würden sie damit ästhetisch an die Großeltern anschließen – in Wirklichkeiten aber würden sie nur deren Teppiche nehmen und in eine ganz andere Welt legen, die sie mit ganz anderen Menschen ganz anders bewohnen. Das ist ziemlich schön, gerade weil es anders als das ganze Bunt- und Divers-Diskursdekorieren unreflektiert, einfach so passiert.
Etwas Neues: Schöpferisches Vergessen
Ich habe mir vorhin auf dem Smartphone selbst eine Mail geschrieben, Betreff: Schöpferisches Vergessen. Das tat ich, weil ich ganz unschöpferisch sehr viel vergesse, eigentlich alles, was ich nicht mit aufgerissenen Augen und angestrengt aktiviertem Bewusstsein in mein Gehirn zwinge. Das hat damit zu tun, dass ich nach langjähriger Anämie immer noch ein paar Mängel bzw. auf geistige Inhalte aus der sehr anämischen Zeit partout keinen Zugriff habe. Und natürlich hat es mit dem ewigen März 2020 zu tun, seitdem bin ich ja auch nicht mehr allein mit dem vielen Vergessen und Schlechtmerkenkönnen. Na ja, allein war ich auch vorher nicht, es gibt so viele Menschen, die sich das Gedächtnis aus dem Leib bluten, aber dieses Wissen habe ich leider noch nicht so lange, und viele Betroffene haben es bis heute nicht. (Demnächst schreibe ich mal ein Loblied der totalen Hysterektomie. Aber erst an einem Tag mit sehr guten Nerven, denn es ist ein absolut sicheres Thema, um einen Trollangriff auszulösen. Außerdem werden dann viele blutende Leser*innen vor Neid platzen, und das möchte ich nicht.)
Während das Mailschreiben, um nicht zu vergessen, ein schöpferischer Umgang mit einem unschönen Vergessen ist, ist es ein schönes schöpferisches Vergessen, das ich euch jetzt plausibel machen möchte. Dafür muss ich kurz inkonsequent werden. Ich wollte ja nicht mehr zu #EndClickbait schreiben, nicht zum hundertsten Mal erklären, warum #HaltDieFresse[Sp...r-Zeitung] ein Musterbeispiel des performativen Widerspruchs ist usw. usf.
Das Problem habt ihr längst verstanden, denke ich. Ihr zieht nur noch nicht die nötigen Konsequenzen daraus. Deshalb verrate ich euch jetzt einen Trick, der bei mir gut funktioniert hat: Es ist eine Technik, die auf dem »Aus den Augen, aus dem Sinn«-Effekt basiert.
Im Netz und bei der Arbeit hatte ich einige Male mit narzisstischen Persönlichkeiten zu tun, und es hat zunächst leider nicht geholfen, dass ich das in einer Liebesbeziehung früher schon mal erlebt und mich vermeintlich für Wiederholungen immunisiert hatte. Ich war gegenüber den deutlichen Warnzeichen (ungutes, dann weggegdrücktes Gefühl bei Erstkontakt, maßlose Aufmerksamkeit und Affirmation) unaufmerksam, weil es ja vermeintlich NUR um Arbeit oder Kommunikation ging. Tatsächlich sind ja auch manchmal komplett harmlose Menschen sehr aufmerksam und affirmativ, weil sie ungewöhnlich lieb sind. Also bin ich reingerumpelt, wie eine Anfängerin – aber das war ich im Netz und bei der Arbeit ja letztlich auch wieder – und musste erneut ziemlich fürchterliche Dinge erleben und mich dann mit großer Kraftanstrengung aus dem Horror rausziehen. Dass man Personen schrecklich findet, heißt ja nicht, dass sie sofort keine Macht mehr über einen haben können, sogar im Gegenteil: Ab dem Moment, in dem sie erkennen, dass man menschlich durch ist mit ihnen, erzeugen sie durch Manipulation Schuldgefühle und halten einen so emotional fest. Es hört erst auf, wenn man radikal wird und ohne jede Ausnahme komplett den Kontakt abbricht. In digitalen Zeiten impliziert das, alle Accounts zu blocken, damit man wirklich nichts mehr mitbekommt, was einem ermöglichen könnte, Schuldgefühle zu entwickeln. Man wird recht schnell für die Konsequenz belohnt, denn es entlädt sich nun die ganze Wahrheit der anderen Person, die Gift und Galle und Feuer spuckend versucht, wieder Aufmerksamkeit, Zugriff, zu bekommen. Man selbst weiß dann aber schon: Ich bin frei, ich bin die ganze Zeit frei gewesen.
Genauso muss man mit Spr...r-Knilch*innen, Talkshow-Clowns, wegdrehenden Ex-Promis etc. umgehen. Nicht hinsehen, nicht hinhören, nicht hinklicken. Den Quatsch wahrnehmen, schnaufen und gleich wegblocken. Oder habt ihr ein einziges Mal erlebt, dass so eine Person sich besonnen und aufrichtig Verantwortung für angerichteten Schaden übernommen hat? Ich nicht.
Sich mit solchen Personen zu beschäftigen, ist in einem wirklich verheerenden Ausmaß destruktiv: gesellschaftlich und seelisch. Ihr könnt es euch aber gar nicht leisten, eure Aufmerksamkeit und eure Lebenszeit an sie zu verschwenden, wenn ihr Mitmensch und Mensch sein, nicht mit dem Planeten wegschwimmen und nicht irgendwann innerlich völlig zubetoniert sein möchtet. Deshalb blockt die Trolle, die Clowns, die Popanze, und zwar kategorisch – ja, hier ist es endlich mal erlaubt, so wie man grundsätzlich nicht darüber reden sollte, ob Antidemokratisches Platz in einer Demokratie hat. Schafft euch die Trolle, die Clowns, die Popanze aus den Augen und aus dem Sinn. Vergesst die Trolle, die Clowns, die Popanze, bewusst und vorsätzlich, so schafft ihr die Möglichkeit für andere, bessere Wirklichkeiten.
Schöpferisches Vergessen, es ist magisch.
Etwas Geborgtes: Ein Zitat
“People have told me ‘Betty, Facebook is a great way to keep in touch with old friends.’ At my age, if I wanted to keep in touch with old friends. I’d need an Ouija board. “ – Betty White (1922–2021)
Etwas Uncooles: Polizei will auf den Arm
Uncool, aber auch ein bisschen rührend. Mein Mann hatte einen Radunfall, und zwar direkt vor der Polizeibox am Alex. Die diensthabenden Beamten kümmerten sich wirklich sehr gut um ihn, und er hat sich dafür herzlich bedankt. Telefonisch. Daraufhin wurde er gebeten, einen Lobbrief zu schreiben, er hat sie auf eine Mail runtergehandelt.
Vermutung: Polizist*innen sind so gebeutelt vom polyphonen ACAB und zusätzlich von der Häme für den erfundenen Kinderbrief, dass sie jetzt von einem echten Brief träumen, den sie im Ernstfall herzeigen können.
Ich empfehle der Polizei stattdessen: 1. eine freiwillige Rassismusstudie und 2. wirklich professionelles Antidiskriminierungstraining, das ist viel nachhaltiger, wenn man das Vertrauen von mehr als einem einzelnen Menschen gewinnen möchte.
Rubrikloses
Als Kind bin ich manchmal wegen Ungerechtigkeiten, aus denen mich Worte nicht herausführen konnten, in sehr große Verzweiflung geraten, einmal so schlimm, dass ich gestolpert und mit dem Kopf gegen eine Heizung geknallt bin, eine Narbe erinnert bis heute daran. Ich hätte nicht erwartet, diesem Gefühl als Erwachsene wiederzubegegnen, vor allem nicht als mit reichlich Lebenserfahrung ausgestattete, in vielen Dingen abgeklärte Erwachsene. Der Unterschied ist nur, dass es nicht mehr um die eigene Person kreisende Hilflosigkeit ist, sondern die existenzielle Erfahrung der individuellen Grenzen des Einflussnehmen- und Helfenkönnens. Es gibt Probleme, die lassen sich allenfalls mildern, aber nicht lösen – diese Erkenntnis ist nicht zum Aushalten und muss trotzdem ausgehalten werden, sie darf nicht einmal zum Problem werden, weil sie im Verhältnis wirklich nicht das Problem ist.
Am 4. Dezember habe ich anscheinend auch schon eine Mail an mich selbst geschrieben, Betreff: Driöling ghost kitchen tchibo teekanne led wie maus. Ich hoffe, driöling ghost kann mir irgendwann erklären, was gemeint war.
Cuter Mini-Kolonialismus
Ein Erlebnis wie aus einem deutschen Fernsehfilm. Meine Ü60-Nachbarinnen stehen Silvester, null Uhr, mit uns auf der Straße und tauschen sich angeschickert über ihre Elektrorauch-Devices aus. Als sie beim schlimmen Teer angelangt sind, erinnert sich die eine, wie geschockt sie von der Lunge in der »Körperwelten«-Ausstellung vor ein paar Jahren waren. Die andere ruft »Ich auch, ich auch!«. Ich erspare uns allen, Happy New Year, den Vortrag darüber, was ich von »Körperwelten« halte. (Uuuuuuuuuuuaaaaaaaaaaaah.)
Das Silvester-auf-der-Straße-Gespräch ist nicht nur dewegen mein neues Faszinosum. Wir Nachbar*innen reden sonst nicht übermäßig viel miteinander, sind aber freundlich und nehmen Pakete an. Und dann erfährt man an Silvester in einer Viertelstunde von mindestens einem Abgrund in jeder anwesenden Familie. Der Sohn aus Familie eins hat seit drei Jahren kein Wort von seiner Tochter gehört, der verstorbene Vater aus Familie zwei hatte noch einen Sohn aus erster Ehe, nach seinem sechzehnten Geburtstag war er abgetaucht, kam jetzt aber »das Erbe abholen«. Im Haus von Familie drei hat meine Katze eine eigene Decke, wie bitte, was?!? – Laser ist so krass, er ist so eine Art Heiratsschwindler als Katze, nein, Quatsch, er ist einfach nur wirklich unfassbar aufgeschlossen, und es nimmt uns ja nichts, dass er auch noch alle anderen 50 Familien bis runter zum Feld mit seiner überbordenden Liebheit glücklich macht. Ein Rätsel hat sich aber aufgeklärt: Ich habe nie begriffen, wie er das zeitlich schafft, weil er ja auch sehr viel bei uns ist. Die andere Nachbarin, nicht die mit der Decke, sondern die mit »Bei mir bekommt er immer nur drei, vier Leckerlis«, berichtete, dass er alle fünf bis sechs Tage zu ihnen kommen würde. Living the dream: Alle lieben Laser, und er wird anscheinend auch allen Verliebten gerecht, uns definitiv; er selbst ist immer megagut drauf. Nein, Laser ist kein feliner Heiratsschwindler, er ist der Katzengott der Polyamorie.
I wished.
Guerlica
Aus dem Hexenbuch (Opens in a new window)
Zurück in die Wirklichkeit, wir sehen uns nächste Woche. Seid lieb, nur nicht zu Nazis.
XOXO,
Frau Frohmann