Das Freiluftgefängnis und die Muslimbrüder – Eine Chronologie
Der Gaza sei ein Freiluftgefängnis, haben sie gesagt.
Israel halte den Gazastreifen besetzt, haben sie gesagt.
Israel sperre die Palästinenser ein, haben sie gesagt.
Israel hungere die Palästinenser aus, haben sie gesagt.
In pro-palästinensischen Narrativen finden sich häufig die Opfer-Darstellungen der Araber, die sich heute Palästinenser nennen. Die sehr häufig auf fruchtbaren Boden stoßen, da die wenigsten Europäer sich mit der komplizierten Gemengelage des Nahen Ostens beschäftigt haben.
Häufig zu hören und lesen ist dabei die ausschließliche Schuldzuweisung an Israel.
In keiner der Debatten, die ich seit dem 10/7 bewusst online eingegangen bin, konnte mir jemand beantworten, wie Israel die Palästinenser „einschließt“, obwohl es nur Grenzen in zwei Windrichtungen des Gazastreifens hat. Und das Westjordanland über eine lange Grenze zu Jordanien verfügt.
Den meisten ist das wohl gar nicht bewusst, oder sie wissen nichts über die Grenze zu Ägypten. Unfähig eine Landkarte aufzuschlagen oder geübt im Ignorieren von Tatsachen. Und so argumentieren sie das dann mit der Kontrolle Israels über diese Grenze während des derzeitigen Gazakrieges, obwohl diese erst nach der Einnahme von Rafah ab etwa Mai 2024 (Opens in a new window) geschah.
Vorwort
Zum allgemeinen Verständnis möchte ich nochmal darauf hinweisen, dass es keine arabischen Staaten im modernen Sinne gab.
Seit der islamischen Expansion, die in den 620ern begann, war der muslimische Raum immer ein geschlossener Kulturraum. Ähnlich wie Europäer sich sehen und verstehen, geprägt durch das Christentum.
Dieser Raum war ein „Kalifat“, das durch verschiedene Dynastien beherrscht wurde und selten getrennt war.
Und dieser Raum wurde zum Schluss für 400 Jahre vom Osmanischen Reich beherrscht. Das nicht arabisch war und daher eher ein Außenseiter. Was jedoch aufgrund des muslimischen Glaubens akzeptiert wurde oder gewaltsam werden musste. Und sich heute noch in der Nachfolge dessen versteht.
Das Osmanische Reich verlor 1918 den ersten Weltkrieg. Und wurde zerschlagen.
Wann immer ein Imperium zerfällt, sehen wir die gleichen Auswirkungen: Die regionalen Gruppen versuchen an Macht zu gewinnen, im Streben den alten Status wiederherzustellen. Das sahen wir beim römischen Reich bis Jugoslawien und zum Zerfall der Sowjetunion, in deren Folgen wir uns heute mit dem Putinismus sehen. Machtvakuum führt zu Verteilungskämpfen.
Schauen wir uns das also chronologisch an.
Die nüchternen Fakten, die jeder leicht prüfen kann.
Chronologie
1928: In Ägypten wird die Muslimbruderschaft gegründet. Aus ihr würde in Gaza-Palästina später die Hamas entstehen. Sie ist in vielen Ländern aktiv, derzeit etwa 70.
Ihre bis heute fundamentalen und überall zu findenden Kernthesen waren:
Der Westen ist dekadent und der Islam wird die Vorherrschaft übernehmen.
Der Westen betreibt eine „Kulturoffensive“ gegen die arabische Welt, um den Islam zu zerstören.
Der westliche Fortschritt ist aus der Renaissance entstanden, die nur durch den Kontakt mit dem Islam möglich wurde.
1938: Der Hauptgründer der Muslimbruderschaft Hasan al-Bannā (Foto oben) tritt für den bewaffneten Dschihad gegen alle nicht-Muslime und ihre Helfer ein. Die Muslimbrüder protestieren in Ägypten gewalttätig mit Parolen wie „Nieder mit den Juden“.
Al-Bannā veröffentlicht sein Traktat „Die Todesindustrie“, in dem er den Begriff des Märtyrertums radikalisiert und bis heute prägt: „Derjenigen Nation, welche die Industrie des Todes perfektioniert und die weiß, wie man edel stirbt, gibt Gott ein stolzes Leben auf dieser Welt und ewige Gunst in dem Leben, das noch kommt.“
bis 1939: Die Muslimbruderschaft erhält durch den Direktor des Deutschen Nachrichtenbüros in Kairo, dem Agenten Wilhelm Stellbogen, finanzielle Unterstützung der Nazis.
1940er: Die Muslimbruderschaft, inzwischen eine Miliz, begeht Terroranschläge in Kairo.
1945: Der Zweite Weltkrieg endet, Großbritannien und Frankreich wollen sich aus ihrer Stellung im Nahen Osten zurückziehen.
In der Folge entstehen die heutigen Staaten wie Jordanien, Syrien, der Libanon, etc.
1948: Nach bürgerkriegsähnlichen Zuständen zwischen Juden und Arabern wird gemäß längst beschlossenem Teilungsplan der UN der Staat Israel ausgerufen. Die Araber wollen das nicht. In der Nacht seiner Gründung wird das gerade gegründete Israel von allen sechs umliegenden arabischen Staaten angegriffen. Zusätzlich zur „Armee des Heiligen Krieges“, der Palästinenser in Israel, also von innen.
Im Zuge des Krieges werden etwa 750.000 Araber vertrieben. Die so genannte „Nakba“. Sie fliehen auch aus Angst vor dem Krieg und weil die arabischen Führer ihnen gesagt hatten, sie können bald zurückkehren. Wie viele tatsächlich gewaltsam vertrieben wurden, darüber streiten die Gelehrten.
Es werden jedoch nicht alle vertrieben, heute sind über 20% der Israelis Nachfahren dieser Araber.
In einer Vergeltung werden aus den arabischen Ländern 850.000 Juden vertrieben. Die arabischen Staaten bis nach Nordafrika sind heute de facto „judenfrei“.
1952: Die Muslimbruderschaft unterstützt den Putsch der sog. Freien Offiziere in Ägypten, unter denen sich viele Muslimbrüder befinden.
1954: Nach eskalierenden Konflikten scheitert die Muslimbruderschaft bei einem Attentat auf den neuen Präsidenten Gamal Nasser. (Foto unten)
Angestoßen durch Sayyid Qutb vertritt die Muslimbruderschaft die Errichtung eines islamischen Staates. Gesellschaften, die sich im Zustand der „Unwissenheit“ befinden („Dschāhilīya“, was eigentlich die Zeit vor dem Koran bezeichnet), dürfen gestürzt werden.
1964: Die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO wird gegründet. Auch auf Betreiben des ägyptischen Präsidenten Nasser.
Bisher wurden alle Menschen, die in der Region Palästina leben - egal welcher Ethnie oder Religion (Christen, Juden, Beduinen, Drusen, Araber, etc.) - als „Palästinenser“ bezeichnet. Die PLO und ihr späterer Anführer, der in Kairo geborene Muslimbruder Jassir Arafat, bezeichnen nur noch die palästinensischen Araber so. (Foto unten)
Seine Familie in Jerusalem unterhielt enge Verbindung zu dem Großmufti Mohammed al-Husseini (Opens in a new window) (Foto unten), der bereits in den 1920ern die Massaker gegen Juden in Hebron angeführt hatte, in Berlin gelebt und als SS-Gruppenführer islamische SS-Divisionen zur Verfolgung der Juden auf dem Balkan begründet hatte. Husseini hatte auch den Kontakt zwischen den Muslimbrüdern in Ägypten und dem Nazi-Regime hergestellt.
1967: Nach dem verlorenen Sechstagekrieg gegen Israel gewinnt die Muslimbruderschaft nach vorheriger Verfolgung in Ägypten wieder an Macht.
Es werden verstärkt Techniker und Lehrer in die arabischen Länder geschickt, die durch das gefundene Öl nun boomen.
1970: Nach dem Sechstagekrieg flohen viele Palästinenser nach Jordanien, wo sie einen Bürgerkrieg gegen das Königshaus anzetteln. Dieser wird als „Schwarzer September“ bezeichnet. Nach dem Scheitern flohen viele von da in den Libanon.
1970er: Der radikalere „Islamische Dschihad in Palästina“, der bis heute im Gazastreifen aktiv ist, und die auch in Europa aktive Gruppe „Takfīr wa-l-Hidschra“ splittern sich von der Muslimbruderschaft ab bzw. bilden Untergruppen.
1971: Der ägyptische Präsident Saddat, ebenfalls Muslimbruder, lässt gefangene Muslimbrüder frei und beendet das erneute Verbot der Bruderschaft wieder.
1981: Präsident Saddat gerät in Konflikt mit der Muslimbruderschaft, lässt 1000 Mitglieder verhaften und verbietet sie abermals.
1982: Saddats Nachfolger Mubarak nimmt das Verbot wieder zurück und entlässt Mitglieder aus dem Gefängnis.
1984: Die Muslimbruderschaft nimmt erfolgreich an Parlamentswahlen teil.
1987: Der querschnittsgelähmte, palästinensische Muslimbruder Scheich Ahmad Yasin, der ebenfalls in Kairo studiert hat, gründet während der ersten Intifada die Hamas. (Foto unten)
1989: Muslimbrüder kontrollieren Unternehmen im In- und Ausland mit einem Kapital von ca. 15. Milliarden Dollar - nach damaligem Wert.
1991: Im Zweiten Golfkrieg hat der Irak Kuweit überfallen. In Kuweit lebten viele Palästinenser, die zu einem großen Anteil zu den Muslimbrüdern gehörten, die ab 1967 in andere arabische Staaten entsendet wurden. Der Anteil der Palästinenser machte 30% der Bevölkerung aus.
Da diese zum Angreifer Irak gehalten hatten, wurden sie vertrieben, auch gewaltsam. Auch aus Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten wurden insgesamt 450.000 Palästinenser hinausgeworfen.
Etwa 300.000 gingen in die jordanische Hauptstadt Amman, was dort als „Kuweitisierung“ bezeichnet wird.
2006: Nach dem Rückzug Israels aus dem Gazastreifen kommt es zu einem brutalen Bürgerkrieg zwischen der islamistischen Hamas und der Fatah der PLO. Die Hamas geht als Sieger hervor. Seitdem sind die palästinensischen Autonomiegebiete Gaza und Westjordanland politisch gespalten.
Der völkerrechtliche Status ist schwer, ein solcher Fall war nie vorgesehen. Es gibt in der UN (Opens in a new window) jedoch keine Bemühungen, das zu lösen.
Die Regierung im Gazastreifen hat die Hamas inne, vertreten vor allem durch die Miliz der Qassam Brigaden, der Polizei, des Heimatschutzes (Feuerwehr etc.), des Gesundheitsministeriums, der Leitung der Universitäten, etc.
Das widerspricht dem propagandistischen Bild, dass die Hamas eine von der Bevölkerung zu trennende Terrororganisation, wie die RAF war, fundamental.
LINK: 74% aller Palästinenser sind für die Vernichtung Israels (Opens in a new window)
2008: Aufgrund des Waffenschmuggels nach Gaza-Palästina beginnt Ägypten mit dem Bau einer befestigten Grenzanlage.
Foto: Palästinenser überqueren die eingrissene Grenzbefestigungen für Einkäufe in Ägypten. 2008
2009: Da durch Tunnelsysteme nach wie vor Waffen geschmuggelt werden, errichtet Ägypten einen stählernen, unterirdischen Wall, der bis zu 30 Meter in die Tiefe reicht. Zwischenzeitlich wird die Grenze mehrmals komplett geschlossen.
Foto: Palästinenser protestieren gewalttätig gegen die Grenzsicherung Ägyptens und greifen ägyptische Soldaten an. 2010
2010: Innerhalb der Muslimbruderschaft gibt es zunehmen Stimmen, die eine islamische Demokratie anstatt eines islamischen Gottesstaates befürworten. Weshalb sie sich unterschiedlich an der Revolution in Ägypten beteiligen.
2011: Die von der Muslimbruderschaft gegründete „Freiheits- und Gerechtigkeitspartei“ erringt bei der Parlamentswahl in Ägypten fast die Hälfte aller Sitze.
2012: Vor der Staatskrise wird der Muslimbruder Mohammed Mursi Präsident Ägyptens. Das Militär unternimmt einen „sanften Staatsstreich“ und entzieht dem Parlament die Macht. Es folgt etwa ein Jahr politisches Chaos.
Foto: Grenzschützer und Polizisten der Hamas patrouillieren am Philadelphi-Korridor an der Grenze zu Ägypten. 2012
2013: Die Muslimbruderschaft wird per Gericht verboten. Sie wird als Terrororganisation eingestuft.
2014: Zunächst werden 529 Anhänger von Mursi in einem Massenprozess zum Tod durch Erhängen verurteilt, einige Monate später nochmals 683.
Bis vor dem terrorostischen Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 gingen etwa ein Drittel der Hilfsgüter für Gaza-Palästina über die Grenze zu Ägypten. Danach waren es nur noch etwa 5%.
Ägypten hat sich von Beginn des Krieges an geweigert, Palästinenser auch nur in Notunterkünften in der Wüste aufzunehmen. Wenig Kritik dazu in der Öffentlichkeit oder den Medien.
Foto: Das weltweit bekannt gewordene Bild des palästinensischen Terroristen auf dem Balkon der israelischen Mannschaft im olympischen Dorf München 1972.
Viele erwähnenswerte Aspekte musste ich weglassen, um den Fokus auf Ägypten-Gaza nicht zu verlieren.
Erwähnenswert wären unter anderem der Terroranschlag auf die Olympischen Spiele 1972 und die Flugzeugentführung nach Entebbe, bei deren Befreiungsaktion als einziger auf israelischer Seite Oberstleutnant Yonatan Netanyahu getötet wurde, der Bruder des heutigen israelischen Ministerpräsidenten. (Foto unten)
Dass die UN den Gazastreifen bis heute als durch Israel besetzt beurteilt, liegt an einer rein juristischen Auslegung:
Völkerrechtlich gehört der Gazastreifen zu den palästinensischen Autonomiegebieten. Die von der Mehrheit der Mitgliedsstaaten als Staat Palästina anerkannt wurden. Das Westjordanland ist durch Israel besetzt. Und somit ist auch der Gazastreifen „besetzt“, auch wenn sich dort seit 2006 kein Jude mehr aufhält.
Bis zum 10/7 sind über 100.000 Gaza-Palästinenser täglich zur Arbeit nach Israel gependelt, Israel hat die Wasser- und Stromversorgung übernommen und den nach wie vor unselbstständigen Gazastreifen mit Hilfslieferungen versorgt.
In der Realität wäre Israel gar nicht in der Lage gewesen, aus dem Gazastreifen ein „Freiluftgefängnis“ zu machen.
Das wurde vor allem dadurch verursacht, dass die Palästinenser sich seit 75 Jahren nicht nur mit Israel, sondern auch mit vielen anderen arabischen Staaten angelegt haben. Und Ägypten schlicht die Schnauze voll hat.
Seit zehn Jahren ist die ägyptische Grenze zu Palästina dichter, als die Grenze zu Israel.
Und die Ursache dafür sind die Muslimbrüder, die Keimzelle. Die in Europa wohl nur wenige kennen.
Doch das wird in den Medien, in der Politik und auf pro-palästinensischen Demonstrationen nicht besprochen. Ebenso wenig wie die Rolle der Hisbollah im Libanon, was nun wirklich nicht von Israel besetzt ist.
Was wiederum zeigt, dass bei den Argumenten für die Palästinenser ein gutes Stück israelbezogener Antisemitismus dahinterstecken muss. Denn Kritik an anderes muslimisch geprägten Staaten für ihren Umgang mit den Palästinensern gibt es nicht.