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Aschaffenburg: „Wir haben ein strukturelles Problem“

Nix wollte ich zu Aschaffenburg äußern. Hatte ich mir vorgenommen.
Weil ich eh immer nur das Gleiche zu sagen hätte. Hatte ich mir klargemacht.
Und weil es genug Arschlöcher auf allen Seiten gibt, die das instrumentalisieren. Hatte ich mir eingeschärft.

Das Asylrecht ist eine der Grundfesten, auf denen unsere Demokratie ruht.
Doch auch diese wurde in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr ausgehöhlt. Und darauf hinzuweisen, dass es sich inzwischen eher um ein flauschiges, fusseliges Konzept denn um eine Rechtnorm handelt, bringt einem höchstens den Widerspruch der Pro-Asyl-Fraktion ein. Während die Rechtspopulisten immer lauter „Ausländer raus“ schreien können.

Und so haben wir verpasst, wie klein die Welt geworden ist. Und dass sich inzwischen Menschen aus dem Hindukusch, auf der anderen Seite der Welt, auf den Weg zu uns machen. Die Strukturen damit umzugehen sind jedoch aus den 1960ern erhalten geblieben, als das örtliche Metallwerk mal 100 Italiener, Türken, Spanier oder Griechen angeworben hat.

Die Ausländerbehörden sind nach wie vor auf Kreisebene angesiedelt. Dort sitzen Verwaltungsbeamte, die so gut wie keine Möglichkeiten haben, irgendetwas durchzusetzen. Noch dazu völlig unterbesetzt und überlastet.

Gehen wir doch einmal durch, was das bedeutet. Und was vielen Menschen gar nicht so klar sein dürfte.

Enamullah O. ist 2022 aus Afghanistan nach Bulgarien eingereist. Von Bulgarien aus ist er nach Österreich gereist. Von Österreich aus nach Deutschland. In Bayern hat er dann im März 2023 einen Asylantrag gestellt.
In dem Moment hätte er bereits wieder nach Bulgarien abgeschoben werden müssen.
Warum, wird die Öffentlichkeit vermutlich nie erfahren. Und ich habe keinen einzigen Medienbeitrag gelesen, in dem ein Journalist mal gefragt hat, warum das konkret so ist.
Machen wir uns das klar: Bis zu dem Zeitpunkt seines Asylantrages befand er sich bereits seit Monaten in Deutschland.

Der Asylantrag wurde dann vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge BAMF in Nürnberg abgelehnt. Das wurde Enamullah O. per Bescheid mitgeteilt. Er wusste also bereits seit Juni 2023, dass er nicht würde bleiben dürfen.
Der zuständigen Ausländerbehörde in Bayern wurde das aber erst am 26. Juli 2023 mitgeteilt. Genau eine Woche (fünf Werktage) bevor die Frist zur Abschiebung nach Bulgarien auslief.
Dass die bayrische Behörde „völlig unvorbereitet“ keine Abschiebung innerhalb von sechs Tagen organisieren könne, sei offensichtlich. Meinte der bayrische Innenminister Herrmann. Ehrlich gesagt finde ich das keineswegs so offensichtlich.

Im Dezember 2024, also fast eineinhalb Jahre später, erklärte Enamullah O. dann von sich aus, er wolle zurück nach Afghanistan. So lange war absolut gar nichts passiert. Der Fall lag durch Verstreichen der Frist wieder beim Bundesamt in Nürnberg.

In der Zeit hat Enamullah O. es sich scheinbar gutgehen lassen. Er war in einem ehemaligen Hotel in Alzenau untergebracht.
Enamullah O. hat Drogen genommen und ist dreimal wegen Gewaltdelikten polizeilich in Erscheinung getreten. Unter anderem hat er eine Ukrainerin, die ebenfalls in dem Hotel untergebracht war, mit einem Messer bedroht.
Auffällig wurde er wohl noch öfter, es kursiert ein Video, dass ihn nachts bei einer Ansprache durch zwei Polizeibeamte zeigt.

Link: „Der Jesus von Solingen und das systemische Versagen (Opens in a new window)

Dreimal wurde er danach in die Psychiatrie eingewiesen. Vermutlich, weil er breit war und wirres Zeug geredet hat, das in Bayern aber keiner verstand. (Er wurde auch über 24 Stunden nach der späteren Tat noch nicht vernommen, wohl auch, weil es an einem Dolmetscher fehlt.)
Dreimal wurde er wieder entlassen. Warum bleibt ein Geheimnis, dass der ärztlichen Schweigepflicht unterliegt. Die Verantwortlichen sahen wohl keine Fremd- oder Selbstgefährdung.

Durch die Vorschriften, die vor allem auf den Schutz der Flüchtlinge ausgelegt sind, ist mehr als fraglich, ob das BAMF oder die Ausländerbehörde überhaupt wusste, was die Polizei inzwischen mit Enamullah O. für einen Spaß hatte.
Die Ausländerbehörde sagte ihm, er solle sich selber um die nötigen Papiere beim Generalkonsulat Afghanistans kümmern. Niemand hat zum Hörer gegriffen, niemand ist mit ihm dahingefahren, fast schon ketzerisch zu erwähnen, dass niemand diesem Menschen Handschellen verpasst und ihn dorthin abgeführt hat.

Zu dem Zeitpunkt war Enamullah O. nicht nur in dauerhafter psychiatrischer Behandlung und nahm Medikamente, sondern stand auch unter Betreuung. Was heißt, er war schon nicht mehr geschäftsfähig. Das ist beispielsweise eine Maßnahme für Alzheimer-Patienten oder Menschen mit affektiven Störungen. Einem Menschen die Mündigkeit abzusprechen, ist ein großer Schritt. Sowas wird nicht grundlos gemacht.

Am späten Vormittag schnappte Enamullah O. sich ein Küchenmesser und fuhr aus Alzenau zum Schöntal-Park in Aschaffenburg. Dieser war erst im November als Drogenumschlagplatz polizeilich zum „gefährlichen Ort“ erklärt worden.
Dort setzte Enamullah O. sich auf eine Bank. Er sah eine Kindergarten-Gruppe, verfolgte diese und fing dann an, auf die Kinder einzustechen. Ein Zweijähriger starb, ebenso ein 41-Jähriger, der zur Hilfe kam. Mindestens eine Erzieherin und ein weiterer Passant wurden verletzt.

Alles deutet auf Schizophrenie oder eine Psychose hin. In wie weit Drogen eine Rolle spielen, bleibt zu klären.
Grundsätzlich ist es aber so, dass Ausnahmesituationen, wie Asyl, solche psychischen Störungen verstärken können. Und Afghanistan ist eine einzige, große Ausnahmesituation.

Bundeskanzler Scholz spricht von einer „Terrortat“, noch bevor irgendetwas geklärt ist. „Es gibt offensichtlich Vollzugsdefizite, insbesondere bei den bayerischen Behörden, die ein großes Problem sind.“
Ne ne, Herr Scholz, das Schema gab es auch schon bei Solingen (Opens in a new window). Man muss Bayern nicht übermäßig in Schutz nehmen, aber das ist billig.

Verantwortliche Politiker zeigen mit dem Finger auf den jeweils anderen, vor allem Faeser und Bayern. Ob Söder jetzt „null Tolleranz“ fordert oder noch ein Futterfoto postet ist, als würde man sich beim Tsunami in die Hose pissen.
Und der Einzige, der etwas Konstruktives beizutragen hat, ist ausgerechnet Merz. Ob man mag, oder nicht. Er fordert Abschiebegewahrsam, da nur 750 Plätze für 42.000 sofort Ausreisepflichtige bereitstehen. Und er forderte, was ich schon nach Solingen vertreten habe: Die Bundespolizei muss Haftbefehle aussprechen können, wenn sie Ausreisepflichtige aufgreift. Bisher darf die Bundespolizei nicht einmal bei einem Gericht anfragen, ob eine aufgegriffene Person wie in diesem Fall ausreisepflichtig ist: Hätte sie bei Enamullah O. mittags auf einer Bank an einem Drogenumschlagplatz eine Kontrolle durchgeführt, hätten sie ihn gehen lassen müssen.

Lasst mich in Ruhe mit irgendwelchem Rechts-Links-Gefasel. Sicherheit ist keine Frage von Rechts oder Links. Zu glauben, alle Flüchtlinge seien harmlos ist genauso falsch, wie zu glauben, man könne alle aussperren.

Zu gerne würde ich wissen, was die Ärzte nun denken, die Enamullah O. dreimal entlassen haben. Die zuständigen Sachbearbeiter der Ausländerbehörde. Die Sachbearbeiter des BAMF. Aber die bleiben auch vor sich selber im Schutz des Zuschauereffekts (Genovese-Syndrom, Bystander-Effekt): Es hat ja auch kein anderer etwas gemacht.
Genau das ist es, was hinter der Formulierung „ein strukturelles Problem“ steckt. Die Behörden sind gar nicht in der Lage, mit dem Problem umzugehen. Weil zu lange weggeschaut wurde und die Strukturen nicht angepasst wurden.

Gestern Abend wurde Ahmad Mansour in der Tagesschau interviewt. Klar, dass man ihm als Psychologen bestimmte Fragen stellt. Problematisch ist doch eher, ob die meisten Menschen tatsächlich die gleichen Prioritäten haben, wenn die zweite Frage ist, ob Flüchtlinge „ausreichend begleitet“ werden.
Und leider verstehe ich Menschen, die die Komplexität der Probleme nicht verstehen und darauf mit „Ausländer raus“ reagieren. Mir persönlich ist es aber völlig egal, ob diese Menschen begleitet werden, wenn es nicht zum Flughafen ist.

Wäre Enamullah O. in den vergangenen eineinhalb Jahren untergetaucht, wäre nicht einmal nach ihm gefahndet worden.

Topic Medien und Politik

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