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Über Schwermut und Bizepse

Schwüle hängt in der Luft, Schwermut hängt in meinen Gliedern.

Weil das kein Zustand ist, der mir gefällt, beschließe ich ihn zu ändern. Gegen die feuchte Hitze kann ich nicht viel ausrichten, dazu reichen meine bescheidenen Hexenkünste nicht. Die reichen nicht mal, um das abgestandene Glas Wasser in eiskalte Limonade zu verwandeln.

Wenn ich also etwas gegen die Schwermut in meinen Gliedern tun will, muss ich sie dazu mit eigener Kraft bewegen und ordentlich ausschütteln. Der Gedanke gefällt mir zwar auch nicht, aber manchmal muss man zwischen zwei Übeln wählen. Eigentlich recht oft. So oft, dass die Philosophie dafür sogar bereits vor vielen tausend Jahren einen eigenen Begriff erfunden hat: das Dilemma.

Es hilft mir nicht direkt, dass bereits die alten Griechen unter lästigen Entscheidungen stöhnten, aber es relativiert meine Qualen. Immerhin stecke diesmal nicht in moralischen Sackgassen, wie sonst so oft, sondern einfach in meiner eigenen schlechten Laune fest.

Wobei, was heißt hier einfach. Wenn die Schwermut einmal in meinen Gliedern hängt, dann fester als ein Blutegel an seinem Wirt, erbarmungsloser als die Krallen eines Falken in seiner Beute, unlösbarer als ein Etikett an einem Kristallglas. Meine Laune wird noch schlechter, weil mir meine neuen, wunderschönen Gläser einfallen, auf denen fett „30 Prozent Rabatt“ prangt, was ihnen irgendwie jede Würde nimmt, aber ich schaffe es einfach nicht, das Klebezeug zu entfernen. Das einzige, mit dem ich es noch nicht versucht habe, ist ein Flammenwerfer. Und momentan und wahrscheinlich auch in entferntester Zukunft habe ich ausdrückliches Flammenwerferverbot.

Ich ziehe also los, die Sonnenstrahlen fühlen sich heißer an als jeder Flammenwerfer und vom Asphalt verdunstet der Regen der vergangenen Nacht in kleinen Wolken, als würde Satans Großmutter da unten endlich mal wieder lüften.

Mein Schatten wandert vor mir, genau so umotiviert wie ich, und als ich ihn so betrachte sehe ich, dass, ja, ich schaue noch einmal genauer hin, um sicher zu gehen, dass ich mich nicht irre, doch, es lässt sich nicht leugnen: mein Bizeps wirft seinen eigenen kleinen Schatten.

Eine deutliche kleine Wölbung streckt sich trotzig dem flammenden Himmel entgegen. Ich bleibe stehen und schaue mich verstohlen um. Niemand beobachtet mich, außer dem manischen Eichhörnchen, das hier um die Ecke wohnt und nur durch ein Wunder bisher nicht überfahren wurde. Aber das hat eine Aufmerksamkeitsspanne von weniger als einer Sekunde.

Ich hebe meinen Arm und spanne an. Die Schattenwölbung wächst. Und ich wachse innerlich um bestimmt einen ganzen Meter.  

Was habe ich für diesen Muskel trainiert. Heimlich. Jahrelang. Und dann auch wieder jahrelang nicht, weil natürlich alles wichtiger ist als ein Bizeps. Vor allem für eine Frau. Und was habe ich geflucht und geschwitzt und gejammert, weil nie so richtig etwas passiert ist. Und auf einmal ist er da. Unbemerkt im Verborgenen gewachsen.

Mein Bizeps. Und er wirft einen Schatten.

Meine Glieder sind auf einmal leicht wie Schmetterlingsstaub. Und ich musste nicht einmal etwas dafür tun.

„Mein Bizeps hat die Schwermut besiegt!“, brülle ich und balle eine siegreiche Faust.

„Was tust du da?“ Die Stimme ist leise und lässt mich zusammenzucken, als wäre es ein Schrei.

Ich drehe mich um und sehe ein Mädchen auf einem Fahrrad, das mich neugierig beäugt. Was ich ihr nicht übelnehmen kann.

„Ich feiere meinen Bizeps“, antworte ich wahrheitsgetreu, weil mir nichts anderes einfällt.  

Das Mädchen ist vielleicht 12 oder 13, trägt eine pinke Basecap auf ihrem langen, strähnigen Haar und sieht irgendwie ein bisschen verwahrlost aus. So, als gäbe es niemandem, der ihr sagen würde, dass sie vernünftig essen und genug schlafen und ihre Hausaufgaben machen soll.  So, als hätte sie ein Zuhause, aber eines, in dem die einzigen Stimmen aus dem Fernseher kommen. Ihr Gesicht ist klein und spitz und ernst.

„Zeig mal“, sagt sie mit ihrer leisen Reibeisenstimme, die älter ist als sie selbst.

Ich spanne wieder an.

„Naja, ganz ok, aber echt nicht beeindruckend.“ Sie sieht auch nicht beeindruckt aus, mit ihren hängenden Schultern und Mundwinkeln.

„Zeig du doch mal!“, sage ich ein bisschen patzig.

Zu meinem Erstaunen krempelt sie den kurzen Ärmel ihres zu weiten Shirts komplett auf und spannt ihren dürren Arm so angestrengt an, dass ihre dunklen Käferaugen ganz klein werden. Ein gar nicht so winziger Knoten ploppt unter ihrer weißen Haut auf.

„Naja, ganz ok, aber echt nicht beeindruckend.“, sage ich.

Sie grinst, und ihr spitzer Mund wird kurz ganz breit.

„Ich trainier auch noch nicht lang.“, erklärt sie, beinahe entschuldigend. „Aber eines sag ich dir, in ein paar Jahren gehöre ich zur Weltspitze im Armwrestling!“

Zuerst glaube ich, sie macht sich über mich lustig. Aber ihr winziges Gesicht ist ernst, und ihre Stimme wird zum ersten Mal lebendig.

„Gibt es da weibliche Profis?“, frage ich.

„Klar“, sagt sie, „mein Ziel ist die NAL Arm Wrestling Championship!“

Ich habe keine Ahnung wovon sie spricht, aber ich nicke anerkennend und denke an die vielen Male, in denen ich irgendwelche Jungen zum Armdrücken herausforderte und immer verlor.

„In deiner Zukunft sehe ich ganz deutlich, dass du eines Tages diese Championship gewinnen wirst!“, behaupte ich mit meiner allerbesten Version der mystischen älteren Dame. Wahrscheinlich stören meine löchrigen Shorts und Outdoorsandalen dabei, aber ich versuche diesen Eindruck durch ein geheimnisvolles Lächeln wettzumachen.

„Glaubst du echt?“ Das Mädchen starrt mich so an, als wäre ich etwas sonderbar. Warum nur.

„Nein, ich glaube es nicht, ich weiß es!“, behaupte ich entschieden.

„Aha. Und hast du sonst noch irgendeinen weisen Rat für mich?“ Sie fragt in einem Tonfall, der betont ironisch und gleichzeitig hoffnungsvoll ist.

„Ja,“, antworte ich würdevoll, „halte dich von Flammenwerfern und den alten Griechen fern!“

„Du spinnst ja!“ Jetzt grinst sie wieder breiter als ihre ganze mickrige Gestalt. „Ich muss weiter. Bis dann!“

Aber als sie davonfährt sind ihre Schultern ein ganz kleines bisschen gerader, und ich glaube, sie pfeift sogar irgendetwas vor sich hin.

Ihr Fahrrad sieht viel zu neu aus, bestimmt ist es geklaut.

Ich bin wieder allein mit meinem Schatten, meinem neuen Bizeps, dem verrückten Eichhörnchen und dem Höllenhimmel. Nur die Schwermut, die hat meine Glieder losgelassen und wird so schnell nicht wiederkommen.

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