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#59 #Klimakommunikation #Storytelling #Essay
Von Helden und fossilen Märchen
Unsere Geschichten scheitern am Klima. In Kino und Literatur findet die Krise kaum statt, und der öffentliche Diskurs strotzt vor Märchen. Es wird Zeit für neue Erzählungen. Lesezeit: 9 Minuten
Eine Schülerin streikt jeden Freitag vor dem Parlament; Aktivist*innen besetzen ein Dorf, um es vor Kohlebaggern zu schützen; ein peruanischer Bauer verklagt RWE, weil seine Heimatstadt von einer Flutwelle bedroht ist. Alles starke Persönlichkeiten mit starken Geschichten.
Was wir vor allem wissen wollen: Wie gehen ihre Geschichten aus? Denn es sind nicht irgendwelche Geschichten, sondern solche, die die Klimakrise an vorderster Front verhandeln. Sie machen Mut und geben das Gefühl, dass etwas vorangehen könnte.
Geschichten üben eine unwahrscheinliche Macht auf uns aus. Wir identifizieren uns mit den Akteur*innen, fiebern mit, werden wütend, werden traurig und lernen dazu. Geschichten packen uns und lassen uns nicht mehr los, bis wir wissen, wie sie enden. Aber was, wenn es gerade diese Macht ist, die uns beim Klimaschutz blockiert?
Manche Wissenschaftler*innen sagen, das Erzählen mache uns Menschen aus, es unterscheide uns von anderen Spezies. Dann ist mal vom storytelling animal (Opens in a new window) die Rede, mal vom homo narrans (Opens in a new window), mal vom erzählenden Affen (Opens in a new window).
Und es stimmt: Geschichten sind überall, nicht nur auf Deinem Nachttisch oder im Kino. Wir erzählen auf Instagram von unserem Last-Minute-Sieg beim Handball-Match, wir erzählen neuen Bekanntschaften von unserem Lebensweg, wir bauen unsere Identitäten mithilfe von Geschichten.
💌 Ausgabe #36 über Klimakrise und Sprache: Das, dessen Name nicht genannt werden kann (Opens in a new window)
Längst hat man erkannt, dass Geschichten stärker wirken als jede Statistik. Wir können uns Fakten besser merken, wenn sie in Erzählungen verpackt sind. Wenn wir Geschichten hören, schütten wir vermehrt bestimmte Hormone aus. Cortisol fesselt uns, Dopamin motiviert uns, Oxytocin fördert unsere Bindung zu anderen Menschen. Unser Hirn braucht Drama. Warum also nicht überall, wo man Informationen vermitteln möchte, auf Geschichten, auf sogenanntes Storytelling, zurückgreifen?
In den Nachrichten, in Präsentationen und Reden, in der Politik, in der Werbung, in den Berichten zu Sport-Events, zu Gerichtsprozessen oder zum Wahlkampf, in Games, in Journalismus-Schulen, in diesem Newsletter. Nirgendwo kann man dem Storytelling heute noch entkommen. Aber ist es wirklich das Allheilmittel, wofür es alle halten?
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Ein Bauplan für gute Geschichten
Storytelling ist vor allem eins: ein Schema. Und zwar ein strikteres, als Du Dir vielleicht vorstellst. Fast alle Geschichten, die wir uns erzählen, arbeiten sich an ein und demselben Muster ab: der Heldenreise.
Schlag ein Storytelling-Handbuch auf und Du wirst mit Sicherheit auf diesen Namen stoßen: Joseph Campbell. Der Mythenforscher war einer der ersten und berühmtesten, die die Heldenreise beschrieben. Er analysierte unzählige Legenden und Erzählungen verschiedenster Kulturen und identifizierte überall diese Grundstruktur.
Die Heldenreise handelt immer von (klar) einem Helden, der sich in irgendeiner Form in ein Abenteuer begibt und auf seiner Reise immer dieselben Stationen durchläuft. Samira El Ouassil und Friedemann Karig beschreiben in ihrem Buch „Erzählende Affen“ folgende zwölf:
Die vorhersehbare Reise eines Helden. 📸: Erzählende Affen (El Ouassil, Karig)
Alles beginnt in der gewohnten Welt, bis das Abenteuer ruft, vor dem sich der Held zunächst verweigert: Bilbo Beutlin schickt die rüpelhaften Zwerge weg, Luke Skywalker fliegt erst Richtung Alderaan, nachdem er Onkel und Tante tot vorfindet, Neo rennt wegen Höhenangst in die Arme der bösen Agenten.
Dann geht es los, Mentor*innen treten auf, die den Helden anleiten und unterstützen (Gandalf, Obi Wan, Morpheus), die Schwelle in die ungewohnte Welt wird überschritten (Katniss Everdeen meldet sich zu den Hungerspielen, Neo schluckt die rote Pille) und die Prüfungen beginnen.
Der Held trifft Verbündete und Feinde, schlägt erste Schlachten, oft verliert er seinen Mentor („Flieht, ihr Narren!“) und – ganz wichtig – er stellt sich seinen Ängsten, seinen inneren Dämonen. Der Held macht eine Wandlung durch, wird zu einem besseren Menschen, erkennt seine Macht und ergreift das (symbolische) Schwert, um die Welt zu retten – und schließlich in die gewohnte Welt zurückzukehren.
Famous last words von Gandalf, dem Grauen. 📸: Screenshot.
Gleiche die Stationen im Kopf mal selbst mit verschiedenen bekannten Storys ab: König der Löwen, Indiana Jones, Harry Potter. Natürlich gibt es Varianten, andere Abfolgen oder ein Auslassen von Stationen, aber die grundlegende Struktur passt fast immer.
Die Heldenreise bleibt zwar allgemeingültig, seit Campbell wurden aber noch weitere Strukturen beschrieben. Forscher*innen der Uni Vermont beispielsweise haben ganze Datenbanken an Geschichten analysiert und auf ihre emotionalen Erzählbögen hin untersucht. Sie identifizierten sechs archetypische Bögen (Opens in a new window), die uns Menschen offenbar besonders ansprechen. Dazu gehören die Formen „Rags to Riches“ (sowas wie vom Tellerwäscher zum Millionär: ein emotionaler Aufstieg), „Ikarus“ (nach der Gestalt der griechischen Mythologie, die zu nah zur Sonne flog: ein emotionaler Aufstieg und schließlich der Absturz) oder auch „Aschenputtel“ (Aufstieg, Absturz, Aufstieg).
Daneben gibt es haufenweise Literatur zu verschiedenen Plots von Geschichten. Anders als die emotionalen Bögen repräsentieren Plots die Mechanik und das Hauptmotiv einer Erzählung: zum Beispiel „Rivalität“, „Suche“, „Rache“, „Metamorphose“, „Liebesgeschichte“ oder „Coming of Age“.
Sind Dir das gerade zu viele Begriffe auf einmal? Entscheidend ist: Erzählungen orientieren sich an einigen wenigen Strukturen. Und diese narrativen Strukturen findet man überall. Gutes Drama funktioniert nach Schema. Und bestimmte Erzählungen verfangen deshalb besonders gut, auch in den Medien: zum Beispiel Sport- und Wahlkampf-Berichterstattung anhand des Rivalitäts-Plots, der Fall zu Guttenberg („Ikarus“) oder Casting-Shows („Suche“).
Die Klimakrise passt auf keine Leinwand
Was ist mit Erzählungen übers Klima? Da wäre zunächst einmal die ziemlich offensichtliche Feststellung, dass sich die Klimakrise nicht so leicht in das Schema der Heldenreise pressen lässt. Oder wie viel wirklich erfolgreiche Klima-Popkultur kennst Du? Don’t Look Up, okay. Was noch? The Ministry for the Future, klar. Und die Bücher von Maja Lunde. Aber dann wird’s schon eng.
Geschichten, die wirklich von der Krise und ihrer Lösung erzählen (und in denen das Klima nicht nur als Rahmenhandlung taugt – wie etwa bei Snowpiercer, Interstellar oder Waterworld) sind eine krasse Nische. Eine Analyse (Opens in a new window) von über 37.000 amerikanischen Serien und Filmen aus den Jahren 2016 bis 2020 zeigt: Nur 2,8 Prozent erwähnen die Klimakrise überhaupt.
Eine ökologische Krise, die sich in Zeitlupe entfaltet und sich durch alle Aspekte unseres Zusammenlebens zieht, ist schwierig in gewohnter Blockbuster-Manier auf die Leinwand zu bringen. Im erwähnten „Erzählende Affen“ widmen El Ouassil und Karig dieser Problematik ein ganzes Kapitel. Sie weisen darin auf ein weiteres Problem hin: Eine Heldenreise braucht immer unbedingt einen ziemlich bösen Schurken. Je böser, desto stärker der Held.
In der Klimakrise gibt es zwar haufenweise schlimme Bösewichte (Opens in a new window), allen voran die Carbon Majors (RWE, Shell, ExxonMobil, etc.) und ihre Manager*innen. Die taugen aber bei weitem nicht für den Gruselfaktor, wie ihn Bösewichte aus bekannten Erzählungen mitbringen.
Sehen irgendwie netter aus als Voldemort und der Imperator, erzeugen aber ähnlich viel Leid: ExxonMobil-CEO Darren Woods und BP-Chef Bernard Looney.
Hinzu kommt: Im globalen Norden tragen wir alle irgendwie zum Schlamassel bei. Wer soll dieser starke Held sein, der gegen eine über Jahrhunderte gewachsene zerstörerische Gesellschaft und ihre fragwürdige Einstellung zur Natur zu Felde zieht?
Du denkst jetzt vielleicht an Greta oder an Luisa – und die beiden mögen tatsächlich am ehesten als Protagonistinnen im Sinne einer klassischen Heldenreise taugen. Brauchen wir also einfach mehr von solchen Heldinnen? Mehr Geschichten über Gretas und Luisas, über peruanische Bauern, die RWE verklagen, über mutige Wissenschaftler*innen und Politiker*innen – wäre das die Lösung?
Fossile Märchen an jeder Ecke
Klingt erstmal verlockend. Besser wäre noch, unsere althergebrachten Erzählstrukturen zu hinterfragen. Nicht nur, weil das Heldenmaterial zu rar und die Krise zu komplex ist, um sie in die bekannten narrativen Strukturen zu pressen. Sondern weil diese Strukturen an sich problematisch sein können: In Geschichten verpackt kann so ziemlich alles gefährlich überzeugend wirken – selbst Fake News, Verschwörungstheorien, auch Lügengeschichten übers Klima.
Diese narrativen Verführungen lauern inzwischen überall. Es kursieren haufenweise Storys, die uns ein falsches Bild von der Klimakrise vermitteln und davon, wie wir sie lösen können. Im Treibhauspost-Redaktionsbüro nennen wir sie: fossile Märchen.
Du kennst sicher einige fossile Märchen, und meistens lassen sie sich erstaunlich gut einem narrativen Schema zuordnen. Was erklärt, warum sie so leicht verfangen.
Das Märchen von Verboten und Verzicht:Wir leben in Reichtum und Überfluss, Klimaschutz bringt das alles in Gefahr. Wie beim Ikarus-Plot: Wir haben uns in die Höhe gearbeitet, jetzt droht der Absturz. Die Antagonist*innen sind hier ganz klar: Aktivist*innen, Veganer*innen, die Grünen.
Technologie wird’s schon richten: Der blinde, faktenferne Glaube an den Fortschritt – erinnert an den Tellerwäscher-Millionär-Bogen, der nur eine Richtung kennt: steil nach oben.
Nachhaltiger Konsum rettet das Klima: Wir müssen nur alle weniger verbrauchen und nachhaltig leben und so von schuldigen Menschen zu moralischen Super-Ökos mutieren, schon ist die Krise gelöst (Metamorphose-Plot).
Ende gut, Hollywood
Die vielleicht schlimmsten Märchen sind die Geschichten, die wir uns vom Wandel erzählen. Die US-amerikanische Autorin Rebecca Solnit schreibt darüber im Guardian (Opens in a new window): Unsere narrativen Gepflogenheiten suggerieren, dass die Welt nur durch starke Individuen gerettet werden kann, von Helden eben, mit besonderen, meist männlich konnotierten Fähigkeiten (Stärke, Leidensfähigkeit, Superkräfte). Was unsere Erzählungen uns noch glauben machen: Dass es eine große Auflösung geben muss, eine klare Lösung zu unserem Problem, ein Happy End à la Hollywood.
Beide Vorstellungen gehen völlig daran vorbei, wie Wandel wirklich funktioniert. Es gibt nicht die eine große Auflösung in der Klimakrise. Wir brauchen viele kleine Lösungen, die wir Schritt für Schritt umsetzen. Und selbst dann geht es lediglich ums Eindämmen der Krise – die Erhitzung abstellen und komplett zurückdrehen wird leider nicht mehr klappen. Null Grad und wir kehren fröhlich zurück ins Auenland: ein ziemlich gefährliches Märchen.
Die Klimakrise lässt sich natürlich auch nicht alleine lösen, schon gar nicht von einem starken, „männlichen“ Helden. Wir brauchen kollektives Handeln, Solidarität, Strategie, Geduld – kein Jagen und Draufhauen, keinen großen Knall.
💌 Ausgabe #33: Der Moment, wenn wir uns wieder in die Augen gucken können (Opens in a new window)
Wandel ist alles andere als eine Heldenreise. Wandel, schreibt Solnit, gleiche eher einem Staffellauf. Ein Unterfangen mit vielen vernetzten Protagonist*innen. Die einen führen weiter, was andere begonnen haben.
Und jetzt?
Wir brauchen neue Geschichten, die die Klimakrise adäquat erzählen. Aber wie könnten sie aussehen? Es müssten Geschichten sein, in denen kollektives Handeln die Welt rettet. Geschichten über die Macht der Menschen, die sich zusammenschließen. Geschichten, die mit gewohnten Erzählmustern brechen. Staffelläufe statt Heldenreisen.
Die Autorin Mary Annaïse Heglar (Opens in a new window) schreibt, dass wir – um eine neue Welt zu errichten – sie uns zuerst ausmalen müssen. Wir brauchen Utopien, die uns zum Handeln motivieren. Künstler*innen könnten diese Visionen liefern, etwa Bilder von verwandelten Großstadtecken, wie sie Jan Kamensky auf Instagram (Opens in a new window) zeigt.
Der indigene Menschenrechtsanwalt und Autor Julian Aguon hat eine ganz eigene, sehr poetische Art zu erzählen. Er schreibt (Opens in a new window), dass wir Geschichten über die Orte brauchen, die unser Zuhause sind – über die Flecken der Erde, die wir kennen und lieben. Mit seinem fantastischen Buch „Kein Land für Achtpunktfalter“ macht er genau das vor, er entführt uns nach Guam, seiner Heimat, und zeigt, was es alles zu schützen gilt – mit Gedichten, mit Tagebucheinträgen, mit Fotos, ohne Heldenreise.
(Opens in a new window)Jan Kamensky lässt gerne Autos fliegen. 📸: Instagram-Screenshots.
Die Sci-Fi-Autorin Ursula Le Guin rechnete schon 1986 mit der Heldenreise ab. In ihrem Essay „The Carrier Bag Theory of Fiction“ gibt sie uns einen Gegenentwurf an die Hand. Sie bezeichnet Heldenreisen als „Killer Stories“, lineare Erzählungen mit einem klaren Ziel, wie sie einst Jäger nach dem Erlegen eines Mammuts erzählten.
„Life Stories“ hingegen handeln vor allem vom Sammeln und funktionieren wie ein Behältnis oder eine Tasche: Beim Erzählen sollten verschiedene bedeutsame Dinge aufgelesen werden. „Life Stories“ sind voll von neuen Anfängen, von Geschichten, die nicht enden, sondern zu neuen Geschichten führen, sind mehr Spiel als Konflikt und voll von Wandel genauso wie Verlusten.
Die Anthropologin Anna Tsing hat sich das Geschichten-Sammeln, wie Le Guin es beschreibt, wahrlich zu Herzen genommen. Ihr Sachbuch „Der Pilz am Ende der Welt“ ist eine fabelhafte Kapitalismus-Kritik, gleichzeitig aber noch so viel mehr. Es ist ein Lehrstück für eine andere Form des Erzählens: ein „Getümmel kurzer Kapitel“, wie sie es selbst nennt. Diese Kapitel sollen sein „wie Pilze, die nach dem Regen aufschießen: in übertriebener Fülle, nach Erkundung gierend, immer zu zahlreich.“
Tsing weitet den Blick, weg vom menschlichen Handeln, hin zu allen Formen des Lebens. Sie behandelt Pilze und Kiefern als eigenständige Akteure, nimmt ihr Zusammenspiel in den Blick. Sie erzählt zahlreiche verschiedene Geschichten, die sich unterbrechen, ineinander verheddert sind, aus dem Nichts auftauchen und wieder gehen.
Vielleicht braucht es noch viel mehr von genau solchen Erzählungen. Erzählungen, die das Leben feiern, mit all seinem Chaos und seinen Verflechtungen. Denn am Ende sind wir alle keine Helden. Wir sind Lebewesen, inmitten von unzähligen anderen, die es bitter nötig haben, diese Verflechtungen, die das Leben möglich machen, wieder wahrzunehmen und schätzen zu lernen.
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