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DEN BEREICH DES EMOTIONALEN AUFSCHLIESSEN

LITERATUR-KRITIK

„Bei den Herrentoiletten musste man nicht darauf achten, wie die Leute hineingingen, selbstbewusst reinmarschieren konnte jeder. Man musste darauf achten, wie sie wieder herauskamen. Da gab es kein gemütliches Schlendern, kein Tänzeln, bei dem man heimlich den Hosenstall checkte. Die, die darauf aus gewesen waren, >>Dinge zu verrichten, die in Toilettenkabinen nichts zu suchen haben<<, gingen mit gesenktem Kopf geradewegs zum nächsten Ausgang, nie hatten sie Einkaufstüten, nie wartete im Gang jemand auf sie, gleich raus auf die Straße.“ - Andrew McMillan, HERZGRUBE, S. 64

Beschämt könnten wir also sagen, verließen die hier beschriebenen Männer die Toiletten. (Was durchaus auch tänzelnd geht, wirklich, glaubt mir.) Scham ist überhaupt eines der großen Themen in Andrew McMillans Debütroman HERZGRUBE, der im Februar 2025 in starker deutscher Übersetzung von Robin Detje im Claassen Verlag erschienen ist. McMillan dürfte hierzulande vor allem durch seinen 2023 in zweisprachiger Version im März Verlag erschienenen Gedichtband PHYSICAL ein Begriff sein.

Ein weiterer wesentlicher Fokus im oft durchaus sehr lyrisch-poetischen HERZGRUBE bei reduzierter Sprache ist die Erinnerung. Manches Mal indirekt, in aller Stille, nur im Kopf manch einem der vier respektive fünf Hauptprotagonisten. Manches Mal sehr direkt, findet sich im kleinen Ort Barnsley im Norden Englands – etwa eine halbe Stunde von Sheffield und circa eine Stunde von Leeds entfernt, alle drei Orte spielen im Roman eine Rolle – doch ein Team von Forschenden ein, das mit abstrakt-kreativen Methoden eine Art Erinnerungskarte schaffen will, um den Bewohner*innen nach einem Grubenunglück und dem üblichen Wandel von Industriestädten durch eine „diskursive Intervention“ einen vermeintlich besseren Zugang zu schaffen.

Ob die Barnsleyer das wollen, ist dabei eine andere bzw. zunächst erst einmal gar keine Frage. Repräsentiert werden die Teilnehmer*innen wie auch der Ort, einer dieser Orte, die nur stattfinden, wenn es eine Tragödie gibt, dieser Feldforschung für uns durch Brian, den älteren Bruder von Alex, der wiederum der Vater von Simon ist und der ist dabei so etwas wie eine Beziehung zu Ryan aufzubauen. Ryan arbeitet für einen Sicherheitsdienst im Shopping Center Alhambra und möchte gern zur Polizei. Weswegen er sich bemüht, nicht allzu schwul rüberzukommen und sich anschickt, irgendwelche schamerfüllten Klosextypen zu erwischen.

Im Kontrast dazu spielt er entweder vom Hals an abwärts oder mit Sturmhaube in Videos mit, die Simon, neben seinem Job im Callcenter, für OnlyFans produziert. Wenn man(n) sein Gesicht dabei nicht sieht, bringt ihn das durchaus in freudvolle Wallung. Als Simon ihn fragt, wen er sich denn so als Zuschauende vorgestellt habe, während der ihm einen blies, antwortet Ryan nur „Alle“. Unangenehmer ist es ihm da schon, als Simon nach einem seiner Auftritte als Drag Queen (dritter Hustle Si's, dieser allerdings ist seine eigentliche Leidenschaft, der Rest finanziert nur Leben, Netflix und Kostüme) nicht zur Gänze abgeschminkt rauskommt und mit ihm nach Hause fahren will.

An dieser Situation entzündet sich ein Streit, mit dessen Ende wir in die Geschichte der beiden einsteigen, herrscht doch für ein paar Tage Funkstille. Was seltsam ist, da sie sich zwar noch nicht lange kennen, aber doch intensiv. Ein Grindr-Chat, ein erstes (sehr fein beschriebenes) Date, viel Zeit im Bett, etc. pp. - wie es am Anfang eben gern (sehr gern!) so ist. Dann dieser Vorfall, in dem beide auf komplett unterschiedlichen (Aus-)Lebensseiten stehen.

Der Autor Andrew McMillan, geboren 1988 und in Barnsley aufgewachsen // Foto: © Sophie Davidson

HERZGRUBE allerdings beginnt mit einem auf ein Pornoheftchen wichsenden jugendlichen Alex, der vom großen Bruder Brian erwischt wird: „Du kleine perverse Sau“, was durchaus anerkennend gemeint sein dürfte. Dann plötzlich stoßen wir auf einen kursiv gedruckten Abschnitt und latschen mit den Grubenarbeitern morgens zur mittlerweile geschlossenen Grube, sollen dabei keinen Scheiß reden und wissen nicht, wer uns diese immer wieder auftauchenden Beschreibungen schildert. Ist es Alex oder Brian? Beide arbeiteten dort.

Andrew McMillan gräbt sich mit diesem ersten Roman ganz tief in unser Herz. (Ja, sorry Leute, der musste jetzt einfach sein.) Die auf zweihundert flexibel bedruckten Seiten gedruckte Geschichte um zwei Männer-Generationen der Familie aus Barnsley (wobei die abwesende Mutter Simons bzw. Ex-Frau Alex' durchaus erzählt wird) und den CCTV-Lover Ryan (er erinnert sich an das erste Treffen mit Simon anhand von CCTV-Aufnahmen des Alhambra) wirft viele erzählerische Bälle in die Luft, spricht, wie erwähnt, viel von Scham, aber auch Selbstvergewisserung und -bewusstsein.

„Auf der Bühne musste er sich größer machen, um die Aufmerksamkeit der Leute zu halten, sonst sickerte sie weg wie Wasser. Aber danach, auf dem Weg zum letzten Zug nach Hause, kam er sich immer kleiner vor, an den Boden festgeklebt in seinen Turnschuhen, nach den übertrieben hohen Absätzen.“ - Andrew McMillan, HERZGRUBE, S. 88

Szenen, in denen wir teilhaben, wie Simon zu seiner Drag Persona Puttana Short Dress wird, seinem Gesicht eine neue Architektur verpasst und später während des Abschminkens eine „Ausgrabung hin zu sich selbst“ vornimmt, sind wunderbar beschrieben. McMillan nutzt diese auch, um uns wissen zu lassen, wie Simon, früher dick, von Mitschüler*innen mehr als andere gemobbt wurde. Wie Puttana ihn stärker macht, weil sie „kesser, robuster, lauter als Simon [war], und gleichzeitig war er mehr er selbst, denn dies waren Seiten an ihm, die er so lange zu verstecken versucht hatte.“ Und wie auffällig unnormal er sich fühlt, als Ryan ihn nach seinem Auftritt im „normalen Leben“ mit „etwas im Blick [ansah], das ihm wie Ekel vorkam.“

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Übertragene Scham, wenn wir so wollen. (Wollen wir.) Scham auch bei Alex, der ein mehr oder weniger offenes Geheimnis mit sich durch die Welt trägt und, wenn er mal wieder zu viel getrunken hat, fürchtet sich verraten zu haben. Dann „überkommt ihn nur dieses Gefühl, diese Angst, die der Alkohol immer mitschleppt, bis in den nächsten Morgen, die Furcht, sich verraten zu haben, dass ihn irgendwo im dunklen Tunnel dessen, woran er sich nicht mehr erinnern kann, alle beobachtet haben, dass ihre Blicke noch immer auf ihm liegen, wie eine Warnung.“ Sätze wie diese sitzen, sie prägen sich ein, wirken minimalistisch geformt doch maximal nach.

Einprägsam und frei von Scham sind auch die raren Sexszenen, die ohne jede Peinlichkeit auskommen und nicht selten glaubwürdig beschreiben, wie Simon seine Videos für den OnlyFans-Account aufnimmt. Dazu gehört ein feines Stück zu Exhibitionismus sowie Frustration und deren Nähe zur Lust. Anders sieht es in den Wichsmomenten Alex' aus, die von Heimlichkeit und Peinlichkeit geprägt sind – es gibt eben Sachen die man besser zu Hause macht, wie sein Rektor ihn wissen lässt. (An dieser Stelle soll mal nicht erwähnt werden, was wir teilweise so in der Schule veranstaltet haben. Waren aber auch andere Zeiten, irgendwie.)

An einer Stelle in McMillans HERZGRUBE steht geschrieben, dass Erinnerung kein objektiver Vorgang sei, was natürlich zutrifft. So ist auch diese intensive Geschichte eine zutiefst subjektive Angelegenheit, die viel mit der Divergenz von Gedanken und Handlungen spielt. Einiges scheint wie in einem luftleeren Raum stattzufinden respektive gedacht zu werden, was sehr gut zu der reduzierten Sprache des teils sehr melancholischen Romans um Scham und Sex(ualität), Erinnerung und Einsamkeit, Leben und Liebe passt. Ein wertvoller Lesetipp.

AS

PS: Ocean Vuong, der den Boykott-Aufruf „Refusing Complicity in Israel’s Literary Institutions“ vom 28. Oktober 2024 unterzeichnet hat, empfiehlt den Roman – das sollte aber zunächst nicht von der Lektüre abhalten (und wir hoffen einfach, dass sich Andrew McMillans Name früher oder später nicht auch noch auf der Liste findet). Ein Statement von uns dazu wie auch zum BDS-Engagement mancher Autor*innen, lest ihr hier.

PPS: Zum Thema Scham ist von Matthias Kreienbrink im Kösel Verlag kürzlich ein Buch erschienen, das einen... sagen wir mal frischen Blick auf dieses „machtvolle Gefühl“ wirft. Unsere queer review gibt es in Kürze.

Eine Leseprobe findet ihr hier (Opens in a new window).

Andrew McMillan: Herzgrube (Opens in a new window); Aus dem Englischen von Robin Detje; März 2025; 224 Seiten; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-54610-068-7; Claassen Verlag; 24.00 €

Topic Belletristik & Literatur

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