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Plädoyer für einen Lockdown ohne Alkohol

Da sind sie wieder: Die Moralapostel, die Gesundheitsfanatiker*innen, die Yoga-Tussis, die spätkapitalistischen Verwertungsmenschen, die uns in die Pflicht der Produktivitätsmaxime nehmen wollen. Ist die Welt nicht schon schlecht genug? Sind wir nicht schon genug Druck ausgesetzt? Und jetzt will man mir auch noch den Alkohol schlecht machen.

Das hätte ich vor ein paar Jahren gedacht, wenn mir ein Algorithmus einen Text mit dem Titel „Plädoyer für einen Lockdown ohne Alkohol“ in die Timeline gespült hätte. Ich habe Alkohol nämlich sehr lange sehr geliebt (sonst wäre ich vermutlich nicht davon abhängig geworden). Er war mein Mittel der Wahl, um zu entspannen. Er hat besondere Momente begleitet und unbeschwerte Stunden beschert. Mein Feierabendgetränk war Fixpunkt in einem Arbeitsleben, das mich ausbrannte.

Dann habe ich aufgehört zu trinken. Ein halbes Jahr, bevor die Corona-Krise begann, ihre Härte zu zeigen, ein halbes Jahr, bevor Deutschland heruntergefahren wurde, hörte ich auf.

Dann fing es an: Die Witze, die Memes und die Weltuntergangsstimmung. In den sozialen Medien verbreiteten sich die Schenkelklopfer darüber, dass wir uns durch die Apokalypse saufen würden. Zoom-Calls mit Sprit, Day Drinking, Sekt im Home Office. Rote Linien, die man nie überschritten hätte (Beim Arbeiten zu trinken, allein zu trinken, fast täglich zu trinken) wurden kollektiv aufgeweicht und Alkohol als probates Mittel der Emotionsregulierung im Lockdown zementiert. Wir haben es uns schließlich verdient, in dieser Krise zu trinken, wie wir noch nie getrunken haben.

Vielleicht sind Bedürfnisse im Lockdown auch nur Bedürfnisse?

Das ist natürlich überhaupt nicht überraschend. Alkohol ist sehr gut darin, kurzfristig die Ränder der Existenz etwas weicher zu machen. Sei es das Bedürfnis nach Gesellschaft, Sicherheit, Durchbrechen der Gleichförmigkeit oder Entspannung. Alkohol nimmt Schärfe aus negativen Gefühlen und dämpft sie herunter. Es erscheint logisch, Lockdown-Gefühle mit allen Mitteln herunterzupegeln. Vor allem dann, wenn wir gelernt haben, dass es schlecht ist, starke negative Gefühle und unbefriedigte Bedürfnisse zu haben.

Aber vielleicht sind Bedürfnisse im Lockdown auch einfach nur Bedürfnisse. Vielleicht sind Gefühle im Lockdown auch nur Gefühle. Man hat sie alle schon einmal gehabt und wird sie wieder haben. Als ich nüchtern wurde, musste ich viele dieser Gefühle fühlen und fand das ehrlich gesagt ziemlich beschissen. Aber dann, so nach und nach, als mein Hirn endlich verstand, dass ich ihm keinen Alkohol zur Regulierung geben würde, fand es neue Wege. Wege, die keinen Kater verursachten, keine Scham und keine Schuldgefühle. Und vielleicht noch wichtiger: Ich konnte identifizieren, was das überhaupt für ein Gefühl war, das bei mir den Wunsch zu trinken auslöste.

Mein einziges Werkzeug war ein Hammer

Als ich noch trank fühlte sich mein Innenleben oft so an, wie ein Wasserfarbenkasten, in dem jemand alle Farben zusammengemischt hatte. Ich konnte hier und da ein Gelb, ein Rot, ein Grün erahnen, aber alles in allem war es diese braune Masse. Entsprechend verwaschen waren meine emotionalen Bilder und grobschlächtig und eindimensional war meine Lösung, gegen die Gefühle anzutrinken. Platt gesagt, war mein einziges Werkzeug ein Hammer – und damit sah jedes Problem aus wie ein Nagel.

Vielleicht ist es aber gerade in Ausnahmezuständen nützlich, bei sich zu sein und zu spüren, was denn das eigentliche Bedürfnis ist. Vielleicht ist es gut, reagieren zu können, für sich zu sorgen und stark und klar seine Grenzen aufzuzeigen – gerade dann, wenn alles schlimm ist. Vielleicht fühlt es sich am Ende eines Arbeitstages besser an, spazieren zu gehen, heiß zu duschen und mit Limo auf dem Sofa zu versacken, als sich vom Schreibtisch vom Kühlschrank zu schleppen, um sich endlich ein paar Gläser Wein reinzudrehen. Vielleicht fühlt es sich besser an, am nächsten morgen klar und nach ein paar REM-Schlaf-Phasen aufzuwachen, als mit trockenem Mund und Durst. Vielleicht fühlt man sich besser, wenn man sich nicht regelmäßig ein Nervengift und Depressivum reinschraubt.

Alkohol macht den Blick kürzer

Regelmäßiger Alkoholkonsum hat noch einen Effekt: Er verkürzt die Sicht. Als Person, die auf abhängige Weise trank, marschierte ich natürlich auch zum Beat des Drinks, verwaltete meine Zeit, um zu trinken und erlaubte Alkohol immer mehr, mein Leben zu strukturieren. Klar, trinkt nicht jede Person auf diese Weise. Aber Alkohol ist sehr gut darin, unbemerkt in die Risse des Lebens zu sickern, langsam die Ränder der Identität auszufransen und sich nach und nach mehr Raum nehmen. Gerade jetzt, in unserer kollektiven Identitätskrise, in der es schwer ist, in die Ferne zu blicken und alle Zukunftspläne unter dem Damoklesschwert der Inzidenzwerte liegen, erleben wir diese Risse. Je mehr wir sie mit Alkohol füllen, desto handlungsunfähiger werden wir – Das ist das Gesetz der Droge.

Nicht, dass hier ein Missverständnis aufkommt:

Ich will nicht, dass Menschen produktiver sind, mehr Arbeiten können und sich in den Dienst einer moralisch überlegenen Gesundheitsdiktatur stellen. Ich habe kein Interesse daran, diesen Lockdown schön zu reden und als super Chance für das „Projekt Selbstoptimierung“ anzupreisen. Mir ist es scheiß egal, ob jemand ein Bullet Journal hat oder sich gesund ernährt. Ich will das Menschen sich selbst ermächtigen, ihre Wege zu gehen. Ich will, dass niemand einer Substanz mehr Raum gibt, als er*sie will. Ich will, dass alle Menschen spüren können, wenn sie eine Pause brauchen und in der Lage sind, sie zu nehmen. Dass sie groß werden und sich gegen Systeme wehren können, die sie kleinhalten. Ich will, dass Menschen weit blicken können und nichts künstlich ihre Sicht verkürzt.

Wieso also nicht mal ausprobieren, wie das Leben mit klarem Kopf ist?

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