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Lernt Momo kennen

Gestern schaute ich online bei @sokakhayvaniannesi (Opens in a new window) vorbei. Sie nimmt Hunde vom Tierheim auf und vermittelt sie, findet ihnen entweder ein vorübergehendes oder ein permanentes neues Zuhause. Wir hatten uns bereits entschieden, einen Hund aufzunehmen. Wie groß die Verantwortung ist, war und ist uns klar, aber nach der Abwägung was schlimmer ist – dass Hunde auf den Straßen und in Heimen brutal ermordet werden, oder wir gewisse Unannehmlichkeiten ertragen müssen, um für ihn zu sorgen –, war die Antwort klar. Wir würden einen Hund aufnehmen, damit er nicht stirbt. Also schaute ich bei dem oben verlinkten Account von Frau Berrin Özkan vorbei, weil ich wusste, dass sie aktuell alle paar Tage duzende neue Hunde aufnimmt.

Auf einem ihrer Fotos sah ich meinen alten Freund Kerem. Er hatte mich in der Vergangenheit zweimal tätowiert und mehrfach gepiercet, mir beigebracht, wie man Piercings sticht, und wir waren eine Weile gut befreundet, bevor ich nach Deutschland zog. Ich rief ihn an und sagte ihm, dass wir uns dazu entschieden haben, einen Hund aufzunehmen, und wir gerne die Hunde, die Frau Özkan aufnahm, kennenlernen möchten. Er fragte: Habt ihr einen Garten? Wir sagten nein. Also soll das ein kleiner Hund sein, sagte er. Auch das verneinten wir. Wir wollen den Hund, den sonst kein Mensch aufnehmen will, sagten wir dann. Den, der die kleinste Chance hat. Und er hatte gerade den richtigen Hund für uns. Liebe Leute, ich stelle euch vor: MOMO.

Momo war nicht einer von denen, die Frau Özkan gerettet hat. Er wohnte in Antalya in einem Supermarkt in Lara und war dort eigentlich sehr beliebt. In letzter Zeit gab es aber vermehrt anonyme Beschwerden, man weiß nicht von wem, sodass sie ihn mehrmals abholen kamen – vom Tierheim. Ich habe in einer früheren Ausgabe (Opens in a new window) und später in einem Insta-Post (Opens in a new window) bereits geschrieben, was eine Reform des türkischen Tierschutzgesetzes vorsieht: die massenhafte Tötung von Straßentieren. Sobald die Reform durch das Parlament kam, fingen einige Verwaltungen und Tierheime an, massenhaft Katzen und Hunde zu töten, teilweise auf brutalster, unbeschreiblicher Weise. Dabei sieht das Gesetz vor, dass jene Verwaltungen, die noch kein Tierheim haben, bis 2028 Zeit hätten diese zu bauen, d.h. die Verwaltungen müssten bis 2028 noch gar nicht töten. Sie wollen aber töten, also tun sie es. In Niğde wurde ein Massengrab von Hunden entdeckt, die lebendig begraben worden waren. In Ankara Altındağ fanden Tierschützer*innen ein Massengrab mit Tieren, manche waren vergiftet wurden, manchen wurden die Glieder brutal entfernt worden. Auch die zivile Bevölkerung fing mit dem Töten an, täglich landen furchtbare Nachrichten, Videos und Fotos auf meinem Instagram-Feed. Es sind sehr schwierige Zeiten für Tiere und Menschen in der Türkei.

Also, wenn das Tierheim Momo gekriegt hätte, wäre es wahrscheinlich das letzte Mal, das man ihn lebendig sieht. Kerem wusste es. Bei der letzten Beschwerde nahm er Momo ab und sie versteckten sich paar Stunden lang, bis der Tierheimwagen wegfuhr. Und gestern, bevor ich ihn anrief, hatte er wieder einen Anruf bekommen, dass Momo weggebracht werden würde. Er war kurz davor loszufahren, wusste aber nicht, was er genau machen soll. Momo wieder für ein paar Stunden verstecken und dann zurückbringen, bis zur nächsten Beschwerde… Es war keine nachhaltige Strategie. Und dann rief ich an.

Wir holten ihm am Supermarkt ab, brachten ihn zum Tierarzt, er gab ihm eine Pille gegen Parasiten, ein Creme gegen seine Ohrenentzündung und wusch ihn.

Und dann brachten wir ihn nach Hause. Er trank, aß und legte sich hin. Er schlief sehr lange. Sowieso liegt er viel, er ist wahrscheinlich 5-7 Jahre alt. Später abends gingen wir kurz spazieren, also eine sehr kurze Strecke von vielleicht 100 Meter, für die wir aber eine Stunde gebraucht haben, weil Momo manchmal einfach stehen bleibt. Wenn er stehen bleibt, bleibt er stehen, man kann ihn keinen Millimeter bewegen. Und da er etwa 40 Kilo wiegt, kann man ihn nicht einfach nehmen und wegbringen – deshalb entschieden wir uns dagegen, mit ihm die Straße zu überqueren. Wir sind noch nicht soweit :) Er schaute aber immer wieder Richtung Lara und wollte dorthin laufen. Ich wünschte ich könnte ihm erklären, dass es für ihn gefährlich ist zurückzukehren, dass er jetzt ein neues Zuhause hat und bei uns sicher ist.

Die Nacht verbrachten wir gemeinsam im Wohnzimmer. Ich habe mir sagen lassen, dass man dann ein Rudel wird, wenn man in einem Zimmer schläft, und dann vertraut man sich mehr. Jedenfalls war es heute Morgen einfacher, Momo in den Aufzug zu kriegen, er wollte gestern noch gar nicht. Aber heute am Tag zwei hat er noch immer kein Kaka gemacht. Püpschen lässt er aber regelmäßig ab, intensiv wie eine chemische Waffe.

Ich hoffe, dass wir bald längere Spaziergänge machen können. Wir freuen uns sehr, dass er jetzt Teil unseres Lebens ist. Schätzungen zufolge leben derzeit über 6,5 Millionen Hunde auf den Straßen der Türkei. Momo ist nur einer von ihnen. Es ist eine überdimensionale Krise, die von Einzelpersonen nicht gelöst werden kann. Was wir bloß machen können ist, einen Pflaster auf die eiternde Wunde zu legen. Denn jedes Leben zählt.

Falls ihr auch einen Hund aus der Türkei adoptieren wollt, kontaktiert bitte Frau Berrin Özkan @sokakhayvaniannesi (Opens in a new window) oder @akdeniz_hayvansevenler_dernegi (Opens in a new window). Sie kennen die Voraussetzungen und können euch einen großen Teil der Arbeit abnehmen. Falls ihr kein Türkisch oder Englisch könnt oder lieber mit einer deutschsprachigen Organisation zusammenarbeiten möchtet, kontaktiert bitte Taro Germany unter @tarogermany (Opens in a new window) auf Instagram oder besucht ihre Website unter tarogermany.de (Opens in a new window).

Ich habe heute Abend um 20 Uhr eine Lesung beim Heidelberger Kunstverein. Kommt ihr rum?

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Meine letzte Campact-Kolumne (Opens in a new window) handelte wieder einmal von Schönheitsidealen. Diesmal aber schrieb ich, dass prominente Frauen keine Schönheitseingriffe durchführen lassen und keine ausschließenden Schönheitsideale reproduzieren sollen, weil sie damit faltenlose, übersymmetrische Gesichter, die sich nicht bewegen können, und Diätkultur normalisieren, und dafür sorgen, dass immer mehr Frauen und Mädchen unglücklich werden. Die Kolumne wurde auf Instagram (Opens in a new window) kontrovers diskutiert. Was denkt ihr – bin ich zu harsch prominenten Frauen gegenüber?

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Wenn du meine Arbeit finanziell unterstützen möchtest, kannst du heute eine Mitgliedschaft über Steady (Opens in a new window) oder Patreon (Opens in a new window) für ab 3 Euro/Monat abschließen.

Danke fürs Lesen, bis zum nächsten Mal.

Liebe Grüße
Sibel Schick

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