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Meine Mutter

besuchte uns vergangenen Sommer für ein langes Wochenende. Es war sehr schön. Wir fuhren an die Eisenbahnstraße einkaufen, gingen zusammen zum Zoo, machten Spaziergänge in der Stadt... 

Meine Mutter machte sich über die ganzen Spinnennetze in unserer Wohnung lustig – wir hatten wirklich viele – fragte mich unironisch: „Entfernst du die Spinnennetze absichtlich nicht?“, und ja, es ist eine großartige Frage, weil sie Raum lässt, dass es die Spinnennetze vielleicht aus einem ganz bestimmten Grund geben dürfte, der ihr nicht in den Sinn kam. So war es auch: Sie waren da, damit sich die Spinnen ernähren können. Sie gefielen mir zwar nicht, aber dieses Nichtgefallen war nicht stark genug, um sie wegzufegen.

Meine Mutter fuhr irgendwann zwar nach Hause, aber ihre Frage blieb. Wenige Tage nachdem sie weg war, kaufte ich einen langen Staubwedel und entfernte jedes einzelne Spinnennetz in unserer Wohnung. Jede Ecke, jede Decke kam dran, nichts durfte überleben. Als ich fertig war, hatte ich ein staubiges Gefühl in der Nase und Stolz im Herzen. Bis wir bloß eine oder zwei Wochen später einen radikalen Fliegenüberfall hatten.

Da waren sie, hunderte Mini-Fliegen, flogen in meinen Tee, in meine Kola, in mein Essen rein, alles war voll von ihnen, sie fliegen wie eine kleine schwarze Wolke als Haustier in der Wohnung und starben ebenso gemeinsam, überwiegend auf unseren Fensterbänken, hinterließen großflächige schwarze Flecken aus Pünktchen, die wir dann wegwischen durften. Plötzlich vermisste ich die Spinnen so sehr, aber ich hatte ihre Netze zerstört, sie quasi obdachlos gemacht, sie waren fort. Meine Liebste machte sich lustig über mich á la: Du hast unsere Wohnung gentrifiziert! Ich fragte mich, ob ich von draußen eine Spinne mit nach Hause bringen und sie bei uns arbeiten lassen könnte, aber probiert habe ich es tatsächlich nicht, ich kann doch keine Spienne anfassen, so einsichtig wie ich auch bin.

Es ist inzwischen ein Jahr her, aber die Netze sind bisher immer noch nicht in derselben prächtigen Form wie bevor ich sie kaltblütig zerstörte. Aber jetzt wo ich ihren Wert aus eigener Fliegen-Erfahrung kenne, werde ich sie nie wieder entfernen. Wir führen jetzt eine friedliche Ko-Existenz mit Spinnen – gemeinsam stark gegen Fliegen-Invasionen!

Liebe Eltern: Bitte spinnennetzschämt eure Kinder nicht! 🕸️

Die Kolumne schrieb Hatice Acikgoez über den Ausschluss asexueller Menschen aus Räumen und Diskursen. Hatices Leseheft „ein oktopus hat drei herzen (Opens in a new window)“ war in einer vergangenen Ausgabe Leseempfehlung, vielleicht erinnert sich wer daran. Ich freue mich, dass sie diesmal mit einem eigenen Text dabei ist, dazu noch zu einem so wichtigen dennoch kaum sichtbaren Thema!

Die drei Fragen beantwortete Mithu Sanyal – woohoo! Mithu Sanyal ist Schriftstellerin, Kulturwissenschaftlerin und Journalistin. 2009 erschien ihr Sachbuch „Vulva. Das unsichtbare Geschlecht“, 2016 „Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens“. 2021 erschien bei Hanser ihr erster Roman Identitti (Opens in a new window), der auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises war und mit dem Literaturpreis Ruhr und dem Ernst-Bloch-Preis 2021 ausgezeichnet wurde.

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Fragen, Anmerkungen und Kritik jederzeit gerne an contact@sibelschick.net

Du möchtest auch eine Kolumne schreiben? Schicke mir eine Mail mit deiner Idee und wir sprechen drüber! Ebenso an contact@sibelschick.net

Viel Spaß! 🍋

Liebe Grüße   
Sibel Schick

Welches Buch verdient mehr Aufmerksamkeit?
Mithu Sanyal: „Nichts gegen Blasen“ von Jacinta Nandi. Jacinta Nandi ist sowieso die Kultautorin Deutschlands für mich und ich wundere mich immer, warum das nicht noch mehr Menschen mitbekommen haben, aber das kommt noch. Wie kann ein Mensch so viel Gegenwärtigkeit in seinen*ihren Büchern haben und dabei so trügerisch einfach schreiben? Lachen und Weinen und vor Lachen Weinen sind eins bei ihren Texten.

Hast du einen Lieblingsgeruch?
Mithu Sanyal: Ganz viele. Als Corona anfing und wir Menschen nicht mehr anfassen durften, brachte mich eine Freundin auf ätherische Öle. Wenn mein Tastsinn schon brach lag, konnte ich zumindest riechen. Mein aktueller Lieblingsgeruch ist Davana, das ist eine Art indisches Gänseblümchen, nur riecht es nicht wie unsere Gänseblümchen nach Urin, sondern nach Honig und Kamille und Sonne und es riecht auf jeder Haut anders.

Was wärst du in einem anderen Leben geworden?
Mithu Sanyal: Mathematikerin. Mathematik ist das einzige, was mir in meinem jetzigen Leben fehlt. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum ich immer gute Laune habe, wenn ich meine Steuererklärung mache, weil ich dabei zumindest ein wenig rechnen darf. Eine Gleichung, die aufgeht, ist körperlich befriedigend, wie... Selbstbefriedigung.

Wenn Sex nicht sellt

Von Hatice Acikgoez

Stell dir Folgendes vor: Du bist 15, der Sportunterricht ist beendet und du ziehst dich gerade um. Das ist schon merkwürdig genug, die Mädels, die du entweder gar nicht richtig kennst oder nicht einmal leiden kannst, sehen dich in einem sehr intimen Zustand. Es macht allen aber anscheinend nicht ganz so viel aus (dir vielleicht auch nicht): Die beliebten Mädels sprechen sogar lauthals darüber, dass sie es am Wochenende endlich getan haben. Und mit es meinen sie natürlich: Sex.

Klar war das sicherlich aufregend für sie - immerhin will man in der Jugendzeit so schnell wie möglich erwachsen werden. Wäre ich mit dir in dem Raum, ist mir die ganze Sache extrem unangenehm. Ich will nichts von ihrer Nacktheit hören, will es mir nicht vorstellen und erst recht nicht daran denken, dass ich eines Tages auch mal „dran sein werde“. Ich ziehe mich schnell um, schnappe mir meine Tasche und verlasse den Raum.

Habe ich überreagiert? Vielleicht. Aber damals wusste ich noch nicht, was wirklich los war: Ich gehöre in das asexuelle Spektrum.

Mit dem Begriff asexuell konnte ich lange Zeit nichts anfangen – mir war nicht einmal bewusst, dass er überhaupt existierte. Er bezeichnet Menschen, die keine oder sehr wenig sexuelle Anziehung anderen gegenüber empfinden. Einige Menschen, die zum asexuellen Spektrum gehören, empfinden zwar sexuelle Anziehung anderen gegenüber, aber dann nur sehr schwach. Oder nur, wenn sie bereits eine emotionale Verbindung zu dieser Person aufgebaut haben.

Ich habe noch nie einen Menschen in der Öffentlichkeit gesehen, den ich sexuell anziehend fand. Ohne eine emotionale Verbindung ist Sex für mich auch nahezu unmöglich. Das herauszufinden und zu akzeptieren, war allerdings ein langer Weg.

Denn wir sind noch immer stark unterrepräsentiert. Die Welt hat sich so sehr an die Mentalität „Sex sells“ gewöhnt, dass man dem Thema der Lust und Erregung kaum noch entkommt. Und während es für einige Menschen ermächtigend und befreiend sein kann, dieses Thema offener anzugehen, fühle ich mich persönlich manchmal ausgeschlossen.

Nicht immer möchte ich bei meiner Busfahrt damit konfrontiert werden, was zwei Menschen letzte Nacht in ihrem Bett getan haben. Nicht immer möchte ich auf Social Media mit nackten Körpern konfrontiert sein. Und manchmal habe ich das Bedürfnis, auf Spammails zu antworten und klar zu erklären, dass ich nicht die richtige Ansprechpartnerin für Tanja bin, die mir eine heiße Nacht bescheren will oder mir Pillen anbietet, damit ich im Bett eine bessere Leistung erbringe.

Der Mythos ist also widerlegt: Nein, Sex sellt nicht immer. Was aber sellt sind Akzeptanz und Empathie. Und das war schon immer so.

Hatice Acikgoez lebt in Hamburg und arbeitet als freie Autorin, Künstlerin und Social Media Redakteurin. Veröffentlicht hat sie bereits in diversen Literaturzeitschriften wie „literarische diverse“, „schnipsel“, „transcodiert“ u.a. 2022 erschien ihre Kurzgeschichte „ein oktopus hat drei herzen“ im Sukultur Verlag. Das Netz macht sie als „alles interpretationssache“ unsicher.

Stellenausschreibung:

Der Lesben- und Schwulenverband in Köln sucht eine*n Pressesprecher*in (40Std/Woche). Bewerbungsfrist 15. Juni. Mehr Infos bei LSVD auf der Website (Opens in a new window) und im Newsletter (Opens in a new window). Unbefristet. Dienstort ist Berlin.

Unbezahlte Werbung 

Buch. Nadia Shehadeh: „Ist gut jetzt“. Münster: Edition Assemblage. 70 Seiten, 7,60 Euro (Opens in a new window)

„Es war so klar: Die einzigen legitimen Märchenvorbilder für mich konnten langfristig einfach nur Hexen sein. Alles andere war Schrott.“ – Nadia Shehadeh

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Podcastfolge. Hier ist ein Gespräch mit Dilek Güngör über ihren neuen Roman „Vater und ich“. Die Moderation ist ab und an leider etwas anstrengend, zum Beispiel wenn in einem Moment Rassismus in Deutschland damit, dass man Bayer*innen spottet, gleichgesetzt wird. Aber was Dilek Güngör sagt und erzählt und denkt ist das Wichtigste und dafür lohnt es sich.

https://open.spotify.com/episode/5nx0d5eBqTLQdPN63YRB2e?si=c880632f675448c6 (Opens in a new window)

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Buch. Rafia Zakaria: „Against White Feminism. Wie weißer Feminismus Gleichberechtigung verhindert“. München: hanserblau. 256 Seiten, 18 Euro (Opens in a new window) 

„Eine Bewegung, die unter ihren eigenen Anhänger:innen nicht für Gleichberechtigung sorgen kann, wird ihre Ziele für Gerechtigkeit nicht erreichen.“ – Rafia Zakariya

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Song. Randy Crawford: One Day I'll Fly Away. In: Now We May Begin, 1980

https://www.youtube.com/watch?v=tH2rgPqi8Ag (Opens in a new window)

Buch. Saskia Hödl, Pia Amofa-Antwi, Emily Claire Völker: „Steck mal in meiner Haut! Antirassismus, Aufklärung und Empowerment“. Igling: Edition Michael Fischer. 48 Seiten, 14 Euro (Opens in a new window)  

„Vielleicht wäre es aber die beste Idee, gleich den ganzen Zaun abzubauen, damit alle das Fußballspiel sehen können.“ - Saskia Hödl & Pia Amofa-Antwi

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