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Heute, 

also der 15. September, ist der Internationale Tag der Demokratie. Seit 2007 wird jährlich an diesem Tag an die Prinzipien der Demokratie erinnert. Zum Beispiel Volkssouveränität. Artikel 20, Absatz 2 GG: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtssprechung ausgeübt.“

Klingt süper, aber wer ist dieser Volke, kennt man den?

„Volk“ beschreibt hier leider nicht eine inklusive, sondern vielmehr eine exklusive Gruppe. Mit „Volk“ werden nämlich vor allem jene Menschen gemeint, die die deutsche und EU-Staatsbürgerschaft haben. Diese sind diejenigen, die durch Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen die Staatsgewalt ausüben können und dürfen. Die Bewohner*innen Deutschlands sind allerdings viel mehr als nur deutsche und EU-Staatsbürger*innen. In Deutschland leben 10 Millionen Menschen, teilweise seit Dekaden, die keine deutsche Staatsbürgerschaft haben – sei es sie entscheiden sich aus Gründen bewusst dagegen, oder es wird ihnen durch die enorm hohe Hürden der Einbürgerung einfach nicht ermöglicht. Da eine Einbürgerung nicht für alle in Deutschland lebenden Menschen attraktiv oder möglich sein kann und muss, muss das Wahlrecht von der Staatsbürgerschaft losgelöst werden. Menschen, die schon eine Weile in Deutschland leben und ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, müssen hier auch wählen und gewählt werden dürfen.

Eine Grüne-Politikerin, die ich in Köln kennenlernte, sagte mir 2015: „Du bleibst eine Ausländerin, solange du dich in Deutschland nicht politisch einmischst.“ Ich kann diese Aussage nicht vergessen, weil ich zu der Zeit vor einer Kreuzung stand: Soll ich zurück in die Türkei kehren, oder soll ich mich hier durchkämpfen? Aber genau genommen steckt in der Aussage nicht viel Wahrheit.

Unsere persönlichen, individuellen Bemühungen sind herzlich egal, solange wir strukturell zu „den Anderen“ gemacht werden. Es gibt gebürtige deutsche Staatsbürger*innen, die sich noch nie im Leben politisch engagierten, diese werden selbstverständlich nicht ausgebürgert. Und dann gibt es Menschen, die zu den Anderen gemacht werden, sich politisch engagieren, aber ihre Lebenszustände ändert sich dadurch nicht auf magischer Weise ins Positive. Ganz im Gegenteil ist das oft von Nachteil, sich als Marginalisierte politisch zu engagieren. Tareq Alaows, der zum Feindbild der Rechten erklärt und zahlreiche Drohschreiben erhielt, ist nur eins der vielen Beispiele.

Viele Menschen haben ein Urvertrauen an Demokratie und das ist auch okay so, allerdings darf das nicht eine konstruktiv kritische Haltung ersetzen, denn diese schließen sich nicht aus. Es gibt ein so großes Vertrauen an Gesetzlichkeit, dass sich Menschen einfach nicht vorstellen können, dass die Bewohner*innen Deutschlands gesetzlich nicht gleichgestellt sind, dass es in Deutschland legal und gesetzlich festgeschrieben ist, bestimmte Gruppen zu diskriminieren. Menschen behaupten es sei gar keine Diskriminierung, wenn es gesetzlich verankert ist. „Ist halt so“, lautet die Erklärung. „In anderen Ländern gibt es bestimmt auch solche Gesetze.“

Dass etwas halt so ist, bedeutet noch längst nicht, dass wir das hinnehmen müssen. Dass es in anderen Ländern womöglich ähnliche oder sogar schlimmere Probleme herrschen, bedeutet nicht, dass diese Probleme keine sind.

Der Internationale Tag der Demokratie ist ein guter Anlass sich zu erinnern, dass heute 10 Millionen Menschen in Deutschland aus demokratischen Verfahren ganz oder teilweise ausgeschlossen werden. Die Initiative „Nicht ohne uns 14 Prozent“ macht auch dieses Jahr auf diesen Missstand aufmerksam. (Opens in a new window) Postet auch ihr heute fleißig über dieses Problem und macht das Thema sichtbarer?

Liebe Grüße
Sibel Schick

Kampagne für benachteiligte Schüler*innen in Amed / Diyarbakır

Die Bildungsinitiative ÇocukÇa sammelt Spenden für Schüler*innen, die aufgrund Zwangsmigration, Krieg und Pandemie auf ihrem Bildungsweg strukturell benachteiligt werden. Unterstütze mit einer Spende über den folgenden Link!

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Kolumne des Monats schrieb Luisa Eda. Es handelt von ihrer Mutter, die als Alleinerziehende in einem deutschen Kaff lebte, als Sängerin arbeitete und von dem sogenannten Vulva-Feminismus im Stich gelassen wurde.

Vulva-Kunst gentrifiziert Feminismus

Von Luisa Eda

Ich kann sie einfach nicht mehr sehen. Man kann sie kaufen und sie ist überall zu finden: auf T-Shirts und Stickern, in Ausstellungen und Theaterproduktionen: Die Vulva-Kunst.

Mein erster Kontakt zur Vulva-Kunst ist einige Jahre her und zunächst fand ich sie irgendwie erheiternd. Zurecht wurde dieses Intimorgan aus der Ekel-Ecke geholt, von ihrer Freud’schen Pathologisierung als „Mangel“ befreit und zum ikonischen Symbol einer neuen feministischen Welle gemacht. Wer sich mit ihr zeigt, sagt: Ich bin jung, frech, sexy und scheue mich nicht, meine politische Gesinnung im Form von Pussy-Ohrringen zur Schau zu stellen.

Dachte ich.

Jetzt, einige Jahre später, bin ich massiv genervt, denn die Vulva-Kunst gentrifiziert den Feminismus und verarscht den Emanzipationsweg, den ich und andere Frauen, die mehrfach diskriminiert werden, gegangen sind. Mein Weg begann in einem kleinen Kaff in Süddeutschland. Ich bin mit einer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen. Während der Scheidung von meinem Vater, als ich 2 oder 3 war, zog sie mit mir von Köln zurück in ihr Heimatdorf. Ein Ort inmitten schöner Natur, mit Einfamilienhäusern, vor denen zwei Autos standen, und spießigen CDU-Wähler*innen. Dieses Kaff folgte den selben Regeln, wie die meisten Käffer, man wurde angenommen, wenn man zur erwünschten Optik der Fassade beitrug.

Die Optik dieser Fassade ist glatt, versteckt jeglichen Schmerz und zeigt Eheleute, die sehr, sehr lange bereit dazu sind so zu tun, als würden sie sich nicht hassen. Wir passten nicht zu dieser Fassade, denn meine Mutter beging gleich mehrere fatale Fehler: Sie verdiente ihr Geld u.a. auf der Bühne als Sängerin, war schön, hatte keinen Mann, lebte in Scheidung und war arm. Das alles war mehr als genug, um in einem Spießer-Kaff mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, als man sich wünschte. Wir waren anders. Etwas Schlampiges haftete uns an. Weil wir Frauen waren, weil wir mittellos waren.

Was ich immer dann bemerkte, wenn sich jemand über unser klappriges Auto lustig machte oder mir Fragen gestellt wurden, die suggerierten, dass meine unverheiratete Mutter sicherlich öfter neue Männer mit nach Hause brächte. Diesen Menschen von damals würde ich mehr Kontakt zur Vulva-Kunst wünschen, denn während sie in Großstädten offene Türen einrennt, müsste sie die Türen in meinem Heimatdorf gewaltsam eintreten und würde dort auch eventuell zu der Provokation führen, die sie in Leipzig und Berlin vorgibt auszulösen.

Der Vulva-Kunst-Großstadtfeminismus ist konsumierbar. Wenn Feminismus zum Konsumgut wird, hat das Thema Mittellosigkeit keinen Anschluss mehr an ihn. Der konsumierbare Feminismus ist sowohl schmerzlos als auch schmerzfrei. Schmerzlos weil er sich schamlos selbst aus dem Politischen heraus erschafft, indem er ihn aushöhlt und zur Ware formt. Schmerzfrei, weil er den Konsumierenden keine Schmerzen bereitet. Im schlimmsten Fall labelt man das Ausbleiben dieses Schmerzes als Empowerment. Der Anblick von Vulva-Kunst und das Gefühl, dass man zu den Guten gehört. Das Gefühl, dass jede*r es schaffen kann. Der Neoliberalismus macht vor nichts Halt.

Das Herabwürdigen von Vulva ist sicher Teil des Problems, doch wer genau wird durch Vulva-Kunst eigentlich empowert? Frauen, die alleinerziehend, rassifiziert und arm sind, kämpfen mit grundsätzlicheren feministischen Anliegen. Und wenn wir begriffen haben, dass nicht alle Frauen Vulven haben und nicht alle Menschen mit Vulven Frauen sind, muss man sich fragen für wen genau der Vulva-Kunst-Feminismus überhaupt da ist?

Die Vulva-Kunst ist eine Fassade des Feminismus, die, genau wie die Dorf-Fassade, verschleiert, was hässlich und anstrengend ist. Ich will, dass diese Fassade zu Staub zerfällt. Wenn wir uns mit dem Schmerz der Anderen und der Geanderten beschäftigen, finden wir vielleicht mehr Verbindungselemente als ein Intimorgan.

Luisa Eda studiert Medienwissenschaften, machte in Berlin eine Ausbildung zur Theaterspielleiterin und arbeitete als Redakteurin bei einem feministischen Jugendmagazin. Zur Zeit ist sie Referentin für politische Medienbildung und empfiehlt allen die Videos von Contrapoints (Opens in a new window). Luisa schreibt seit Langem und traut sich seit Kurzem ihre Texte auch zu teilen. Obwohl sie sich vor Instagram gruselt, hat sie es extra für alles, was sie so schreibt, eingerichtet: @this_pink_potatoe (Opens in a new window).

In eigener Sache 🤡: Ich schreibe eine neue Kolumne! Auf dem Campact-Blog setze ich mich einmal im Monat mit Rassismus und Allyship auseinander und liefere Lösungsansätze. Meine erste Kolumne (Opens in a new window) erschien vergangene Woche.

Netflix Comedy Special von Cristela Alonzo „Middle Classy“ ist so gut! Hier ein Moment in schlechten Bildern:

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„Deutsche Museen beschäftigen sich neuerdings mit ihrer kolonialen Geschichte. Weil sie es müssen. Doch kann man wirklich alles dekolonisieren?“ lautet die Frage, die sich Simone Dede Ayivi in ihrer neuen taz-Kolumne (Opens in a new window) stellt. Sie findet: „Manches kann man nicht dekolonisieren. Es muss einfach weg.“

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Musikerin und Schülerin Leonore Lilja singt (Opens in a new window), wie es ist: „Alle sind genervt von TERFs.“

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Der 24. August war der Geburtstag von Marsha P. Johnson, sie wäre 77 geworden. Maggie Baska schreibt für Pinknews (Opens in a new window): „Remember her true legacy of black trans joy in resistance.“

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Wer den Film „Beautiful Boy“ von Felix van Groeningen mit Steve Carell und Timothée Chalamet noch nicht kennt, große Empfehlung. Inhaltswarnung (IW): Suchterkrankung. Ich habe bisher jeden Film von diesem Regisseur, den ich gesehen habe, gemocht, daher auch seine anderen Filme wie zB. „The Broken Circle“ (IW: Tod, Trauer, Suizid) und „Die Beschissenheit der Dinge“ (IW: Sucht, Gewalt, Misogynie) ebenso große Empfehlungen. Mit den Hinweisen in Klammern klingt das ironisch, aber ich meine es ernst.

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