Guten Tag, werte Lesende!
Jetzt ist sie schon wieder vorbei, diese magische kurze Phase zwischen zwei Regierungen, wenn die Alten sich mühsam von der Klebefläche namens Macht lösen und die Neuen auf der leicht tapsigen Suche danach plötzlich pappen bleiben. Habe ich seit 1998 dreimal erlebt, diese Wochen. Love it. Später mehr dazu. Und ein Hass-aber-herzlich-Stück darüber, warum ich auf gar keinen Fall irgendwas Selbstgebasteltes zu Weihnachten bekommen möchte. Ich will auch nicht auf Sofas sitzen und besinnlich gucken. Meine OpaHoppenstedtisierung schreitet voran.
Und sonst? Hatte ich eine vergnügliche Stunde mit Gerhard Schröder sowie dem Suchtexperten Professor Heino Stoever, der Kiffen als Mittel gegen Tourette empfiehlt. Wenn stimmt, was Marie-Agnes Strack-Zimmermann sagt ("Die halbe Junge Union will kiffen") dann hätten wir ein Problem ja schon mal halb gelöst.
Ein herzlicher Dank geht an Alexandra von Rehlingen, die mir dieses einzigartige Dokment der Zeitgeschichte aus dem Jahre 2016 zukommen ließ.
Ja, tatsächlich, der leicht verschwiemelte Herr da rechts mit dem Geschenkbandknäuel um den ehemaligen Hals, das ist Scholz, Olaf Scholz, der jetzt im Kanzleramt wohnt und heute deutlich austrainierter aussieht als damals. Respekt. Drahtigkeit im Alter ist harte Arbeit und beweist zugleich, dass alte weiße Männer nicht zwingend kompostieren. Mal sehen, wann Scholz21 wieder Scholz16 ist. #grussanjoschka
So, und nun viel Freude beim vorerst vorletzten Newsletter.
Herzlich, Hajo Schumacher
PS: Spaß an Schumachers Woche? Für alle, die meine Arbeit unterstützen möchten und können, gibt's hier (Opens in a new window) die Möglichkeit. Diese Woche verlose ich unter allen Steady-Freunden ein auf Wunsch signiertes Exemplar von Kein Netz. (Opens in a new window)
Fleißarbeit der Woche
In kaum sechs Wochen hat Kollege Lars Haider, Chefredakteur des Hamburger Abendblattes, das vorerst einzige Scholz-Buch geschrieben: "Der Weg zur Macht" (Klartext-Verlag). Schon vor drei Jahren skizzierte Scholz seinen Fahrplan ins große würfelförmige Haus am Berliner Hauptbahnhof. Alle lachten, nur zwei glaubten daran. Haider und Scholz. Und natürlich Gerhard Schröder, der auf der Buchpräsentation, moderiert von Funke-Berlin-Chef Jörg Quoos, gewohnt lässig und ungewohnt liebevoll über seinen Getreuen und Generalssekretär Olaf sprach.
Funke-Verlegerin Julia Becker, Haider, Scholz-Buch-Cover, Schröder.
Legal Disclaimer: Als Autor der Funke-Mediengruppe gestehe ich vollumfängliche Befangenheit.
Fundstücke der Woche
1. Georg Mascolo dachte in der SZ über die Rolle der Medien während der Pandemie nach. Starkes Stück. Bleibt die gute, alte Frage: Wer kontrolliert die Kotrollierenden?
2. Der Philosoph Robert Pfaller nahm bei spiegel online (im Bezahlteil) die billigen Methoden einiger gefühlig-leichtgewichtiger Meinungsbeiträge (auch einen bei spiegel online) gegen Richard David Precht und Svenja Flaßpöhler auseinander. Fazit: Blasenbewohnende texten für Blasenbewohnende mit der gedanklichen Tiefe von Grottenolmen.
Sentiment der Woche
Magische Zwischenzeit
Die Alten schleichen sich raus, die Neuen rein. Wechselt die Regierungsmannschaft, ist Politik so echt wie selten. Es herrschen Hoffnungen, Ängste und bange Fragen.
Der Mann ist leise geworden. Treu hat er der Regierung gedient. Jetzt packt er seine privaten Bürosachen in einen Karton. Kein Fotograf dabei. Er gehörte nicht zu Merkels allerersten Reihe, aber einen Fahrer hatte er, Nachweis von Wichtigkeit. Um sein Auskommen muss er sich keine Sorgen machen. Aber das Ego leidet, die Seele weint. Merkel ist Geschichte. Und er auch. Nach ein paar Minuten selbstbewusstem Regiergedröhne, wie er es gewohnt war, wird er leiser. Nein, er weiß nicht, wie es weitergeht. Erst mal ausschlafen. Sagen alle. Traurig? Eher leer, sagt er. Was soll er denn jetzt machen? So offen hat er ewig nicht geredet, mit Journalisten schon gar nicht. Politik war sein Leben, dieses rauschhafte Gefühl, die Geschicke der Welt zu dirigieren, Tage wie auf endlosen Schienen, getaktet von Terminen, Akten, Besprechungen. Kein Privatleben, keine Partnerin, keine Kinder. Und jetzt? Jetzt ist Schluss mit wichtig. Keine Abschiedsfeier, nur eine kurze Übergabe an die Nachfolgerin, die von diesem Feuer beseelt ist, das damals auch in ihm glühte, als sie Schröders Leute vertrieben hatten. Jetzt sei da nur noch ein Loch, sagt er.
Berlin erlebt historische Tage, seltener als ein Schaltjahr, intensiver als jeder Zapfenstreich. Während Deutschlands Karosse weiter zuckelt, wird die Steuerungstechnik gewechselt: Kanzler, Ministerinnen, Staatssekretäre, alle neu. Passiert im Schnitt nur alle zehn Jahre: 1982 von Schmidt zu Kohl, 1998 zu Schröder, 2005 zu Merkel, jetzt Scholz. In dieser magischen Zwischenzeit zwischen Hochrechnung und Kanzlerwahl häutet sich die Demokratie. Alte Machtgewissheit schleicht sich aus, neue ein. Alle Ängste und Hoffnungen der Politik verdichten sich, Unsicherheit beherrscht alte Pfauen wie neue Würdenträger. Überall Rollenwechsel. FDP-Straßenkämpfer Marco Buschmann sucht im ersten TV-Talk als designierter Justizminister nach dem angemessenen Ton; Merkels Getreuer Peter Altmaier lobt die Nachfolgenden so innig als erhoffe er sich letzte Pluspunkte für seine Ministerbilanz. Der schrille Sound des Wahlkampfs ist verklungen, Positionen werden geschliffen. Plötzlich entdeckt die FDP die Impfpflicht. Die Wichtigen verhandeln und schweigen. Die Unwichtigen laufen mit wichtiger Miene umher und preisen den Spaß am Regieren. Das neue Leben hat Fahrer, Leibwächter, Bedeutung.
Die Ampelkoalitionäre werden in einer Art Astronautentraining auf Belastbarkeit und Ausdauer gecheckt. Wie reißfest ist die Psyche, wie wenig Schlaf ist nötig? Wie reißfest sind alte, wie belastbar neue Beziehungen? Wird FDP-Verkehrsminister Volker Wissing zum ärgsten Feind der grünen Anführer oder Toni Hofreiter? Wie arg wird das Mobbing der Opposition gegen Annalena Baerbock? „Wie kann man nur so doof sein, regieren zu wollen“, entfährt es dem kommenden Vizekanzler Robert Habeck. Er schlief während der Koalitionsverhandlungen nur drei, vier Stunden die Nacht, frühstückte Müsli mit Wasser, weil die Milch alle war. Wäscheständer im Flur. „Ich werde meine Familie so wenig sehen wie nie zuvor“, weiß er.
Erste Gelassenheitstests für Kanzler Scholz. Er hat ein halbes Jahrhundert auf diesen Raketenstart hingearbeitet seit er als Teenager in die SPD eintrat. Die anderen im Team versuchen sich noch in unfallfreier Sprache, damit selbst aus dem Zusammenhang gerissene Viertelsätze keine Schlagzeile ergeben. Die, die austeigen, erzählen zum ersten Mal seit Jahren wieder mehr als Belangloses. Schreibt eh keiner mehr mit.
Dann der Moment des Starts. Abschied. Politikerinnen, die eben noch Zeit für ein Bier hatten, werden ins Paralleluniversum des Volksvertretens geschossen. Wie lange reicht der Treibstoff, der gemeinsame Wille zur Macht, die Disziplin der Parteien, die Geduld der Wählenden? Eines Tages werden sie aus ihrem zertrümmerten Traumschiff kriechen und in ein großes Loch starren. Zurück im Leben. Wie ging das noch? Die frühere CDU-Ministerin Rita Süßmuth erzählte mal, sie habe das Autofahren neu lernen müssen.
Mit freundlicher Genehmigung der Berliner Morgenpost
Tweets der Woche
Joint der Woche
Ich habe mit der Familie diskutiert, ob wir noch mal ganz neu anfangen, als Cannabis-Bauern in Mecklenburg. Ökologisch, legal, aus der Region, viel frische Luft. Nach dem Mutmach-Podcast mit Sucht-Professor Heino Stoever, der sich sofort als Werbefigur für unser kleines Startup namens "Weedeking" anbot, denken wir noch mal neu. "Neu denken" ist ohnehin mein liebstes Hobby.
Kiffen, Koks-Taxi, Klühwein - Deutschland ballert (Opens in a new window)
Teşekkürler der Woche
Vor 60 Jahren wurde das deutsch-türkische Anwerbeabkommen beschlossen. Was seitdem geschah? Drei Millionen neue BürgerInnen, die in über 900.000 Eigenheimen wohnen, über 100.000 Unternehmen gründeten, 800.000 Arbeitsplätze schufen und uns den Döner brachten. Özcan Mutlu hat einige der unzähligen bewegenden Geschichten gesammelt und ein Buch daraus gemacht. #Biontech
Weihnachtswunsch der Woche
Kerzen weg – Lichtorgel an den Baum
Das Originellste war der Stiftehalter aus Klorollen, nachhaltig mit Goldbronze eingesprüht. Heimwerkende wissen: Rolle auf Fläche, das hält nicht, weshalb der Profi unten einen Zentimeter Rolle einschneidet und umklappt. Schwupp, da ist die Klebefläche. Wir haben ja früher sehr gern geklebt. Dann wurde die Rezeptur geändert.
Weil ich doch immer soviel schreibe, bekam ich also eines Weihnachtens dieses selbstgebastelte Objekt überreicht. Rote Ohren. Sehr süß. Leider unpraktisch. Denn die Röhren waren zu hoch, oder meine Stifte zu kurz, jedenfalls verschwand das Schreibzeug. Dafür hielten die Rollen nicht. Ein Fest zuvor hatte ich ein selbstgemaltes Bild mit darstellerisch überzeugender Ekstase quittiert: „Ein tolles Auto!“ Kalte Blicke. „Das ist ein Drachen, Papa.“ Freudsche Fehlsehung: Ich hatte die flammenden Nüstern für einen Doppelauspuff gehalten. Was Kanzler Scholz wohl gebastelt hat früher? Vielleicht eine Wahlurne. „Toll, Olaf“, jubelte die Familie. Danach wollte er dieses Land verändern.
Ich will nichts zu Weihnachten, schon gar keine selbstgebastelten Steh-im-Wegs, erst recht keine Wollpullover oder Gutscheine, gar nichts. Eigentlich will ich überhaupt kein Weihnachten, jedenfalls nicht dieses, das mir seit Wochen überall in der Reklame vorgespielt wird: Weihnachten ist, wenn die ganze Familie, alle in Wollpullovern, tagelang auf dem Sofa verharrt und mit Stiftehalterglücksblick auf einen ökologisch bedenklichen Nordmann starrt. Keine hustet. Keiner starrt aufs Display.
Hätte Jesus auf Bäume gestarrt? Sich überfressen? Diese Verschwörungs-Story von Judas zum zwölften Mal angehört? Ach was. Der alte Hippie würde Best of Nazareth auflegen und mit Maria Magdalena losrocken, sobald sie mit der Bergpredigt fertig ist. Ich werde meinen John-Travolta-Stretch-Anzug anlegen und die Bee Gees aufdrehen. Nieder mit Last Christmas. Nie wieder Wollpullover. Kerzen weg. Lichtorgel an den Baum. Wohnzimmer-Party. Gesessen und geguckt haben wir genug dies Jahr.
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