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Guten Tag, werte Lesende!

Der Rücken ziept, Lebkuchen bei Edeka, meine Seele will in die Sonne – muss wohl Herbst sein. Mit 57 fühlt sich Herbst anders an als mit 20. Überall Hinweise auf, wenn auch bunten, aber unaufhaltsamen Verfall. Merkel geht. Sarah-Lee Heinrich und Kevin Kühnert kommen. Und ich mache Fotos, dieses hier aus einer versteckten Berliner Bauwagen-Siedlung. Der alte Mann, der hier rund ums Jahr wohnt, sieht etwas verzauselt aus und macht sich in der Dämmerung auf, in den umliegenden Mülleimern nach Pfandflaschen zu suchen. Ansonsten kümmert er sich um seine drei, vier Quadratmeter Vorgarten. Ds ist kein grüner Daumen, das ist eine ganze bunte Hand.

Herbst also, Erinnerungen, etwas Wehmut, eine gehörige Portion Irrsinn und natürlich Nutzwert: Wer Kürbissuppe mag und mutig ist, sollte Räucheraal als Einlage versuchen, nicht am Stück, sondern gezupft, gerupft, gezuppelt – wie immer das bei Aal heißt.

Viel Spaß,
Hajo Schumacher

PS: Spaß an Schumachers Woche?  Für alle, die meine Arbeit unterstützen möchten und können, gibt's hier (Opens in a new window) die Möglichkeit. Diese Woche verlose ich unter allen Steady-Freunden ein Exemplar des Kanzlerin-Magazins (siehe Punkt 6).

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Ekel der Woche

Sarah-Lee Heinrich, die Sprecherin der Grünen Jugend, hat im Alter von 14 Jahren ein paar Tweets abgesetzt, die ohne Kontext noch schwerer verdaulich sind als Räucheraal. Wer Kinder im fortgeschrittenen Alter hat, erinnert sich vielleicht an diese Rap-Phase, wenn die Kleinen auf einmal krasse Worte verwenden, sich in bitterbrutaler Ironie versuchen und diesen albernen Opfergestus der koksenden Millionäre übernehmen, von wegen: Wie schwer und hart das Leben im Block war, zwischen den Gangs, mit dem, was das Crack von der Familie übrig gelassen hat. Sarah-Lee Heinrich hat in der Zeit erklärt, dass sie vom BattleRap inspiriert war, als sie die umstrittenen Tweets absetzte.

Zwei Fragen wurden ihr leider nicht gestellt. Erstens: Was genau war oder ist "eklig" an der deutschen Mehrheitsgesellschaft? Mal abgesehen davon, dass gruppenbezogene Merkmale ("eklig-weiße Mehrheitsgesellschaft/ewMg") lupenreiner Rassismus sind. Ich persönlich finde mich gar nicht so eklig, jedenfalls nicht immer, und die meisten Menschen, mit denen ich zu tun habe, auch nicht. Also: Was ist zum Ekeln? Und zweitens: Kann man die Geschichte von Sarah-Lee Heinrich nicht auch als Erfolgsgeschichte erzählen? Und die geht so: Die Tochter einer alleinerziehenden Mutter schafft unter anderem auch mit der von der ewMg über Jahre aufgebrachten Stütze erst das Abitur und dann den Weg an die Spitze der Jugendorganisation einer Regierungspartei. Nun boxt sie in einer Liga mit Tilman Kuban (CDU) ud bald vielleicht mit Kevin Kühnert (SPD). Bei Joschka Fischer war die Nation stolz auf gesellschaftliche Durchlässigkeit.

Tweet der Woche

Bevor wir zu Kevin Kühnert kommen, rasch noch einen Satz voller herbstlich reifer Einsicht. Dazu ein wie zufällig mitgeknipster Tweet, der dem völlig ausgelutschten Thema Lastenrad doch noch einen süßen Twist gibt.

Kühnert der Woche

Schulstoff, politische Feinkost, besser als Netflix: Die sechsteilige NDR-Doku über Kevin Kühnert, redaktionell unter anderem von meinem alten Kollegen Christoph Mestmacher betreut, ist wirklich gute Ware. Wer es schafft, seine Stereotypen und all das andere Reflexgerümpel für dreieinhalb Stunden in den Schrank zu sperren, entdeckt Muster, Machtströme, Botschaften, die nur höchst selten so klar nach draußen dringen. So also geht Politik, so leicht und so schwer zugleich, geschmackvollerweise noch unterlegt mit Musik des wunderbaren Pianisten Lambert. Prognose: Dieses Werk wird Preise abräumen. Hier eine Rezension.

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Teamkultur statt Heldenmythos: Das Bemerkenswerte an Kevin Kühnert ist nicht der Bambi-Sozialismus, sondern sein neuer Stil. Statt Alpha tritt hier ein bekennender Beta an.

Faszinierend, wie viel Gesprächsstoff die NDR-Dokumentation über einen Nachwuchspolitiker liefert. Haben nicht viele Netflix-Serien geschafft. Im Blumenladen, beim Sport, zum Abendessen - überall wird über Kevin Kühnert gesprochen, den Jungstar der SPD, der sich drei Jahre lang immer wieder hat mikrofonieren und filmen lassen, was seltene Einblicke in die düsteren Ecken des Politikbetriebs gewährt. Ohne belehrende Kommentare oder künstliches Drama werden Funktionsweisen und Machtströme im Dauerdampfkessel aufgezeigt. Der Protagonist spricht für sich.

Kühnert ist neben Sahra Wagenknecht die größte Reizfigur links der Mitte. Er habe nie richtig gearbeitet, lautet ein Killervorwurf. Heranwachsende, die die Serie geschaut haben, zeigen hingegen Respekt vor Kühnerts Marathon ohne Zieleinlauf. Kaum freie Wochenenden, Nachtschichten, morgens Sitzung, abends Ortsverein, dauernd Strippen ziehen, schnelle Zigaretten beim Smartphonechecken, fünf Stunden Nachtschlaf.

Bei aller Frühschlitzohrigkeit und mal abgesehen von seinen politischen Positionen fällt ein frischer Stil auf, ein kooperativer Ton, der sich angenehm unterscheidet von den Heldendarstellern. Kühnert fehlt das Stumpfstählerne gegen sich selbst und andere, das Markus Söder verkörpert oder Merzens Erlösergestus. Er hat den Mut, eine Interviewfrage mit „Weiß nicht“ zu beantworten, er müsse erst nachdenken. Beim Abschied von den Jusos weint er. Gerhard Schröder brauchte dafür einen Großen Zapfenstreich und „My Way“.

Eine der aufschlussreichsten Szenen ist ein Treffen Kühnerts mit CDU-Nachwuchskraft Philipp Amthor; sie sollen ein gemeinsames Interview geben. Kaum tritt Amthor auf, verändert sich die Temperatur, gerade so als beträte Helmut Kohl den Raum. Dieser machtbewusste Checker-Blick, effektvoll dosierte Ansagen zwischen Kumpeligkeit und Herrscherfreude – das Gehabe kennt man von Männern, die sicher sind, dass alle gucken. Alphas eben.

Kühnert ist demonstrativ ein Beta, eine vorläufige Version seiner selbst, die sich langsam, aber stetig nach oben testet. Studentisch gekleidet, eher widerwillig im Schminkstuhl vorm TV-Auftritt, geht Kühnert bisweilen unter in seinem Team, mit dem er immer wieder den Abgleich sucht. Da ist keinerlei Hierarchie zu spüren, weder Rollenbilder noch Statusgedöns zählen, sondern der kluge Beitrag. Das Bemerkenswerte an Kühnert ist nicht sein Bambi-Sozialismus, sondern der neue Stil: Teamgeist statt Heldenkult. Ein Generationenphänomen?

„Wir vertrauen einander. Und in einem sind wir uns alle einig: Wir wollen immer so zueinander sein, wie wir in der Jugend waren, als Geld, Prominenz und Druck keine Rolle spielten“ – so beschreibt Bayern-Profi Niklas Süle sein Verhältnis zu den Kollegen Timo Werner oder Serge Gnabry. Er wolle den Menschen sehen, nicht den Star, so Süle, „und ich glaube, dass die Jungs ähnliche Werte verfolgen.“ Der Fußballer Süle klingt wie der Politiker Kühnert. Pose, Lebensphase, Wunschdenken oder Evolution, das wird sich zeigen.

Kühnert und Amthor jedenfalls repräsentieren ein grundverschiedenes Verständnis von Miteinander. Amthor spielt die Altvorderen nach, er steht für Status, Hierarchie und den guten alten Heldenmythos, dass nur der Richtige kommen muss, um die Welt oder wenigstens die Partei zu retten. Kühnert wirkt sehr viel kooperativer, immer wieder lässt er durchklingen, dass etwa die Bürde des Parteivorsitzens allein kaum zu schaffen sei und eine Neuausrichten der SPD schon gar nicht. Statt Aura verbreitet Kühnert Nahbarkeit, der selbst knurrige Knochen wie Ralf Stegner nicht widerstehen können. Faszinierend die Szene, als der junge Kühnert den Haudegen Esken und Walter-Borjans vor ihrer Bewerbungsrede etwas mehr Freundlichkeit in die Gesichter zu implantieren versucht. Andächtig lassen die beiden Boomer den Schnellkurs in Sachen darstellender Empathie über sich ergehen. Würde Philipp Amthor seiner Kanzlerin raten, die Mundwinkel nach oben zu bewegen? Schwer vorstellbar.

Mit freundlicher Genehmigung der Berliner Morgenpost

Der Männerversteher der Woche 

Ich bekenne: Ich bin Fanboy von Björn Süfke. Sein Buch "Männerseelen" hat mir auf unterhaltsame Weise geholfen bei der schwierigen Aufgabe, dauernd Mann sein zu müssen. Im Mutmach-Podcast, den meine PsychologInnen-Frau Suse mit mir gemeinsam macht, erklärt Süfke, warum Obama kein gutes Vorbild ist, wer mit welchen Sorgen zu ihm in die Männertherapie kommt und warum es ein gsellschaftlicher Fortschritt ist, dass es Schutzwohnungen für Männer gibt, die von Gewalt betroffen sind.     

"Doofe gibts bei allen Geschlechtern" (Opens in a new window)

Tanzvideo der Woche

Ein nahes Familienmitglied sagte mal, sein Vater tanze wie ein Amboss. Fände ich grundsätzlich witzig, wenn nicht ich gemeint gewesen wäre. Gute Nachricht für alle Ambosse: Ihr könnt es trotzdem in ein Musikvideo schaffen. "Hier ist was in Bewegung" heisst der Song von David Floyd, der hoffentlich zur Hymne des Aktionsbündnisses für Seelische Gesundheit wird. Merke: Jede/r Dritte von uns hat irgendwann im Leben, nicht erst im Herbst, mit seelischen Problemen zu tun. Für Vergnügungssüchtige: Sekunde 74.

https://youtu.be/hHajJsSf5H8?t=74 (Opens in a new window)

"Hier ist was in Bewegung" (Opens in a new window)

Wurm der Woche

Ist doch echt nicht normal, oder? Jetzt haut Oliver Wurtm schon wieder ein Heft raus, an dem man nicht vorbeikommt. Neulich die Gedichte, jetzt 16 Jahre Merkel durch die Brille von 15 großartigen AutorInnen und mir. Mein Höhepunkt: 16 Merkel-Aufkleber "Wir schaffen das!".

http://www.kanzlerin-magazin.de/ (Opens in a new window)

Element der Woche

Ja, dies ist auch ein Bildungsnewsletter, der überraschende Einsichten und Häppchen für die nächste Rotweinrunde liefert, heute etwa zum Megathema Magnesium. Es geht dabei weniger um das Element mit der Ordnungszahl 12, sondern vielmehr um die unglaubliche Naivität, die uns jahrelang unter dem Schlagwort "Globalisierung" beseelte. Servicetipp: Die restlichen Magnesium-Brausetabletten umgehend vom Medizinschrank in den Safe packen.  

Hätte, hätte, Europalette

Ich gestehe: Ich bin druff. Abhängig von Magnesium. Ich brauche das Zeug. Sonst kommen die Krämpfe. Sport im Alter bedeutet ja das Fahnden nach Bewegungsmustern, mit denen die vielfältigen Schmerzpunkte im Körper zu umgehen sind. Am Ende aber mault doch wieder irgendein Muskel. Magnesium hilft. Opium für die Wade.

Und für die Industrie. Denn der silbrigweiße Staub, der ein Metall ist, steckt in Flugzeugen und E-Bikes, ist unersetzlich für Maschinen- und Automobilbau und bei der Stahlproduktion. Vom Stent für die Herz-OP bis zum Haftpulver für Turnerinnen, von einem der wenigen spektakulären Experimente im Chemieunterricht bis zum Motorenblock – nichts geht ohne Magnesium.

Das Element namens „Mg“ gibt’s reichlich auf der Erde, fast wie Silizium. Das Zeug krallt sich allerdings an Gestein, das Produzieren eines Kilogramms Magnesium per Pidgeon-Prozess verursacht im Vergleich zum Kilogramm Stahl das Zwanzigfache an Kohlendioxid. Schmuddelkram also, der die Klimabilanz versaut. Weil „Globalisierung“ hierzulande als das Auslagern schmuddeliger Industrien definiert ist, wurde der Pidgeon-Prozess vor zwanzig Jahren zu den Dumping-Experten nach China delegiert, wo heute fast neunzig Prozent des Weltmagnesiums produziert werden, über 800 000 Tonnen. Ein paar Krümel würden da immer abfallen, dachten wir, auch wegen unserer sinophilen Autokanzlerin.

Lieder verkrümelt. Zur Chip-Krise (vgl: Silizium), die die deutsche Wirtschaftsbilanz für 2021 trübt, gesellt sich Magnesiummangel. Bald sind die Vorräte aufgebracht. Und China liefert nicht. Wegen des Klimaschutzes, so heißt es offiziell, sind die dreißig Magnesiumwerke in Shanxi, die die Welt versorgen, abgeschaltet oder laufen im Sparbetrieb, der zumindest den chinesischen Bedarf deckt. Magnesium steht übrigens seit 2017 auf der EU-Liste der kritischen Rohstoffe. Eine Meerwasserentsalzungsanlage, betrieben mit Sonnenstrom, kann Magnesium produzieren. Hätte, hätte, Europalette. Bald ist Magnesium alle. Europas Industrie krampft. 

Mit freundlicher Genehmigung der Berliner Morgenpost

Ach ja, danke für die vielen netten Zuschriften zu unserer kleinen bösen Sylt-Kolumne, die ein Kollege ebenso anonym wie exklusiv anfertigt. Antwort an alle, die sich fragen, was die Kolumne hier soll: Einfach so.

Ihnen schmeckt's nicht

Von Arno Nühm

Sylt wäre eine wunderschöne Insel, wenn die Sylter nicht wären. Dafür beherbergt die Insel einige Sterne-Köche. In einem Luxusurlaubsort funktioniert teure Küche immer. Es geht aber auch eine Nummer kleiner. Ein japanischer Spitzenkoch hat leckeres Thai-Food durch seine kleine Edel-Imbissklappe verkauft und erfolgreich eine Marktlücke gefüllt. Sterne-Qualität für das kleine Geld und to-go. Auch das Konzept eines anderen Gastronomen konnte überzeugen: Currywurst mit Pommes, serviert auf einem Porzellanteller.

Derlei revolutionäre Konzepte werden von den Sylter Edelgastronomen, und denen die sich dafür halten, argwöhnisch betrachtet. Es gilt der Ehrenkodex: Auf Sylt wird toter Fisch in all seinen Variationen gegessen. Basta. Zufällig ist der japanische Koch von zwei Insulanern einst so übel verprügelt worden, dass er kurz darauf verstarb. Angeblich schmeckte den beiden das Essen nicht.

Der Fall schaffte es in die überregionale Presse und erstaunlicherweise auch vor Gericht. Dort war dann, auch wegen der plötzlichen Amnesie der Zeugen, noch nicht einmal klar, ob es überhaupt Tritte auf den Kopf des armen Kochs gegeben hatte. Die Staatsanwältin fand alles ganz tragisch und sprach von Rechtsstaat und Unschuldsvermutung. Der einschlägig vorbestrafte Täter ist dann zu zwei Jahren und acht Monaten, also vier Monate unter dem Mindestmaß von drei Jahren verknackt worden. Sein mitangeklagter Kumpel, der "nur dabeistand", zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen á 40 Euro. Vielleicht hatte das ungewöhnlich milde Urteil damit zu tun, dass die Verdächtigen einen mächtigen Sylter Gastronomen kennen. Moin. Bis nächste Woche.

PS: Spaß an Schumachers Woche?  Für alle, die meine Arbeit unterstützen möchten und können, gibt's hier (Opens in a new window) die Möglichkeit. Diese Woche verlose ich unter allen Steady-Freunden ein auf Wunsch signiertes Exemplar von Kein Netz. (Opens in a new window)

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