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Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt

Matilde Capuis: Tre Momenti für Cello und Streichorchester

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Tische auf einer einsamen Terrasse, noch nicht gedeckt, im Hintergrund der Comer See und die umliegenden begrünten Berge.

Terrasse in der Lombardei

Die neuen Gäste sind da. Ich erkenne sie am tief seufzenden Ausatmen, wenn sie zum ersten Mal auf die Terrasse der lombardischen Pension heraustreten. Ihr Blick geht auf die drei Arme des Comer Sees, vorne stehen Palmen und Olivenbäume, im Mittelgrund liegt gediegen die Halbinsel Bellagio, in der Ferne schneebedeckte Viertausender. Manche müssen lachen, so lächerlich kommen ihnen ihre Leben vor im Angesicht dieser Schönheit.

Erschöpft von den ihnen ständig abverlangten Entscheidungen, den folgenlosen wie folgenschweren, bleiben sie unwillkürlich stehen und das Panorama hat alle Antworten.

Ich sinke tiefer in meinen Liegestuhl, im Haus brummt die Espressomaschine, am Hang blöken die Ziegen, irgendwo klappert Besteck. Una meringata, Gabriele? Seit Jahrzehnten leitet Lidia mit ihrem Mann das kleine Hotel nahe der Schweizer Grenze. Ob ich eine Eistorte möchte? Ma certo will ich.

Die aufgeschlagene und vergessene Ferienlektüre rutscht mir von der Brust. Ein kleines Wasserflugzeug hebt in der Ferne vom See ab, ein glitzernder Punkt verschwindet Richtung Como. Jemand hat Wichtiges zu tun. Ich nicht.

Seit fast dreißig Jahren reise ich regelmäßig zu dieser Terrasse, eine gute Stunde nördlich von Mailand, und lasse hier meine Erregungsschwelle soweit herunterfahren, dass der Höhepunkt meiner Tage der Blick auf das Abendmenü ist.

Es ist eine einfache Pension und gegessen wird, was auf den Tisch kommt. Was das ist, erfahren wir gegen 14 Uhr durch einen kleinen, mit dem Computer gedruckten Aushang in einem frugalen Holzrahmen. Es gibt ausschließlich Gerichte der klassischen italienischen Küche (und keine Übersetzung).

Der Chefkoch ist der Bruder des Hoteliers und er mag keine Experimente: Pennette all’amatriciana / Minestrone alla milanese, Costoletta di vitello burro-salvia, als Beilage Zucchine trifolate und Patate al forno. Dann: “Dessert”. 

Als Jugendlicher war ich erstmals mit meinen Eltern hier und lachte über das Erbhuhn, Pollo alle erbe. Heute google ich “trifolate” (in dünne Scheiben geschnitten und mit Olivenöl, Knoblauch und Petersilie gebraten). Und Costoletta wird ein Kotelett sein, logisch.

Wenn sie “Dessert” schreiben, gibt es die Standardauswahl, das ceterum censeo des italienischen Menüs: Panna cotta, Creme caramel, sowas. Wenn sie das Dessert aber ausformulieren, geht es gemäßigt rund: Dann gibt es Tiramisu mit Waldbeeren oder Profiteroles. Ich muss nur zwischen Pasta und Gemüsesuppe wählen, und auch das ist nur eine scheinbare Wahl (gestern gab es Lasagnette al pesto, eine fleischlose Wonne, bei der man nichts vermisst).

Das ausgehängte Menü macht mir eine kindliche Freude, die den ganzen Nachmittag anhält. Ich bin wieder zehn und meine Mutter hat angekündigt, dass es heute Abend Sauerbraten gibt oder Leberknödel oder eine andere Leibspeise. Ich lasse mich an der Hand nehmen, Familie Pesenti macht das hier seit Jahrzehnten, sie sind jetzt meine Eltern und mein Wohlergehen ist ihr erstes Interesse. Ihr Repertoire ist zwar begrenzt, aber die Qualität tadellos. Die Auswahl ist klein, die Freude groß. Anderswo möchte ich Einfluss nehmen auf die Dinge. Aber hier ist mir das Warten auf das feste Menü eine größere, ruhigere Freude als es eine Speisekarte je sein könnte.

Nach ein paar Tagen reise ich ab, meist bevor das Menü ausgehängt wurde. Während ich mit dem Leihfiat die Serpentinen hinunterzirkle, studieren neue Gäste die Prosa im Holzrahmen. Es wird wieder zu viele Nudeln geben und dann ein anderes Stück Fleisch, vielleicht mit patate allo speck und finocchio alla parmigiana. Keine Fragen, nur Antworten.

Von der in Neapel geborenen Organistin, Pianistin, Komponistin und Dozentin Matilde Capuis stammt die apodiktische Feststellung, Musik ohne Melodie sei keine Musik. Capuis war eine richtige Italienerin; sie mochte keine Experimente. Ihr Stil war noch spät im 20. Jahrhundert tonal, spätromantisch – und sehr appetitlich. Ihre “Drei Momente” für Cello und Streichorchester könnt ihr euch jetzt anhören. Probiert mal den 3. Moment, Allegrezze, also Heiterkeit. Da ist der von Arno Lücker in seiner Reihe über 250 Komponistinnen beschriebene (Opens in a new window) Witz gut hörbar: Ihre minimalen Abweichungen von den erwarteten klassischen Harmonien machen Capuis nicht zu einer Avantgardistin, aber dafür gehen wir auch nicht nach Italien. Hier herrschen Geschmack, dramatischer Ausdruck und leichter Witz. Capuis beherrscht all diese Gesten perfekt – und es macht einfach Spaß, zuzuhören:

https://www.youtube.com/watch?v=AtKIOAOhpJs (Opens in a new window)

Hier findet ihr das Stück im Streaming (Opens in a new window).

Schöne Grüße aus Berlin
Gabriel

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