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Scham und Schande

Fast vier Wochen ist es nun her, seit Fabian Wolff seinen langen, langen Essay „Mein Leben als Sohn“ bei ZEIT Online veröffentlicht und irgendwo am Ende das Kernproblem versteckt hat: dass er, der wie kaum jemand sonst sein Jüdischsein als Teil seiner Argumentationskette verwendet hat, gar kein Jude ist oder war – wir sprachen bereits darüber. Vorbei ist das Thema noch nicht, die ZEIT hat einen umfangreichen „Faktencheck (Opens in a new window)“ veröffentlicht, der hauptsächlich das Eingeständnis eines eigenen redaktionellen Versagens ist aber keine Erklärung dafür, in der FAZ hat Mirna Funk (Opens in a new window) darüber berichtet, wie sie einer Ex-Freundin Wolffs half, deren deutliche Zweifel an seinem Jüdischsein an Medien zu bringen. Funk hat viel Kritik dafür einstecken müssen, dass sie als journalistische „Punchline“ am Ende bekanntgibt, dass besagte Ex-Freundin sich in der Zwischenzeit umgebracht hat, was natürlich irgendwie eine Verbindung impliziert, auch wenn die Autorin das weit von sich weist. Böse Absicht oder schlechtes Schreiben, man wird es nicht definitiv aufklären können.

Nun beschäftigen sich landauf, landab Medien mit dem Thema, es ist ein Fest für Cicero und NZZ, weil Wolff irgendwie als „links“ gelesen wurde und gelesen werden wollte, auch wenn er von linken jüdischen Kreisen in Deutschland eigentlich nie umarmt wurde. Es führt, nach allem, was man hört, ohne zitieren zu dürfen, zu tiefen Zerwürfnissen zwischen der gedruckten ZEIT (die mit „Oder soll man es lassen“) und der online erscheinenden (die mit Wolff, dessen Text ja die halbe Printausgabe füllen würde), weil man sich offenbar nie irgendwo abgesprochen hat. Es wird sicher noch eine Zeit lang weitergehen und Wolff hat wohl auch noch nicht verstanden, was jetzt Phase ist, wenn er erst dem Spiegel erzählt, dass er in den USA war und ein paar Tage später zugeben muss, dass er die ganze Zeit in Berlin hockte. Es drängt sich der Eindruck auf, dass es da auch eine psychologische Dimension gibt, über die weiter zu spekulieren aber weder zielführend noch anständig wäre.

Gehen wir aber von der Gegenwärtigkeit der Affaire einmal einen Schritt zurück, nämlich zur Zeit der Veröffentlichung seines Essays „Nur in Deutschland (Opens in a new window)“ vor zwei Jahren. Das war so eine Art persönliches Parteiprogramm, sein Weg in die Feuilletons und zur „jüdischen Stimme“, nachdem er vorher einfach nur ein „jüdischer Journalist“ gewesen war. Spannend ist, wie es aufgenommen wurde. Wer es auf Twitter feierte, wer leise Kritik äußerte, wer es rundheraus ablehnte. Denn der Text ist mit dem Wissen von heute geradezu unerträglich, anmaßend, verurteilend, er romantisiert die eigene Lüge, wenn er damit beginnt, dass der Autor nicht auf Deutsch schreiben will und den Absatz beendet mit: „Jemand wie ich ist in diesem Land nicht vorgesehen, immer noch oder schon wieder, je nachdem.“ Dabei ist Wolff, wie 2023 klar ist, das Vorgesehendste, was Deutschland sich erinnerungskulturell leistet: Der nichtjüdische Deutsche, der sich anmaßt, das Gegenteil vom schlechten Deutschen zu sein und deshalb gar keine Reflexion über sich mehr benötigt.

Der Text wurde damals weitgehend positiv aufgenommen, aus der Berliner Szene, aus der Geschichtswissenschaft, aus dem Journalismus. Philipp Sarasin schrieb (Opens in a new window) von „nicht nur deutschen Antiantisemiten und herrischen Philosemiten“, als seien diese wirklich das Problem der Zeit, als müsse man den Philosemitismus jetzt wirklich mal ausrupfen. Kerem Schamberger, irgendwie Journalist, Aktivist und Mitglied der Linkspartei, hob gleich zweimal (Opens in a new window) den folgenden Satz hervor:

"Die Erinnerung an die Judenverfolgung und den Holocaust wird von dieser Mehrheitsgesellschaft längst nur noch als Verfügungsmasse benutzt, mit der alles vom eigenen Rassismus bis hin zur Angst vor gerechterem Wohnraum gerechtfertigt werden kann."

Auch 2021 hätte schon klar sein müssen, dass es sich hierbei um eine Umformulierung der These der „Holocaust-Industrie (Opens in a new window)“ von Norman Finkelstein handelt, um den Vorwurf, die Shoa werde zum Werkzeug für die eigenen Ziele.

Die Liste der positiven Resonanz wäre ewig fortführbar, wobei die meisten sich auf ein einfaches „Lektüreempfehlung“ oder, etwas deutscher, „Lesebefehl!“ beschränkten oder auf ein „Sehr spannender Text, danke.“ Und sie kamen fast alle von nichtjüdischen Deutschen. Bei den vielen, vielen auch eher jüngeren jüdischen deutschsprachigen Stimmen, die vielleicht nicht immer so eine direkte Leitung in Feuilletonredaktionen haben, waren die Reaktionen deutlich reservierter: Max Czollek dankte noch (Opens in a new window) für die „weiterhin produktiven Meinungsverschiedenheiten“, Ben Salomo hingegen warf ihm direkt vor (Opens in a new window), sich „versehentlich zum Steigbügelhalter für eine Vorfeldorganisation von Vernichtungsantisemiten“ zu machen. Moritz Meier und Yevgen Bruckmann bekamen in der taz (Opens in a new window) den Raum für eine Entgegnung:

„Für einige Kulturfeuilletonist:innen wie Wolff mag die Kritik eigener Aussagen durch einen Titanic-Redakteur eine große traumatische Demütigung sein. Für einen der Verfasser dieses Textes ist es eher die Erinnerung an etliche Wochen der Schulzeit, in denen er seinen Schulweg ändern musste, weil zwei frühere Freunde ihn als Juden und damit als Vertreter Israels erkannt hatten und mit Ansage kaputt schlagen wollten.“

Und nicht zuletzt Benny Fischer widersprach entschieden (Opens in a new window) und mit konkreten Beispielen, nur um schließlich genau die jetzt lobenden Leser:innen in den Blick zu nehmen:

„Die Vielen, die ihn gerade zum „favourite Jew“ erklären, weil er alte Ideen vereinfacht darstellt, frage ich, ob ihr wirklich meine Allies wart, ob wir uns wirklich zuhören?“

Guckt man sich all diese Reaktionen mit zwei Jahren und einem Erkenntnisgewinn Vorsprung an, sind damals alle wieder in die alten Muster verfallen: Ein Denken in politischen Lagern, in Netzwerken und Klickbarkeiten von einer nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft, die sich dann in Lob überschlug für einen langen, langen Text mit geradezu lächerlich vielen überflüssigen Anglizismen. Und bei der man in den allermeisten Fällen das Gefühl hatte, dass gar nicht verstanden wurde, worum es im Artikel eigentlich ging, die ihn intellektuell nicht durchdrang, sondern nur emotional. Die sich irgendwie verstanden fühlte, weil da einer von „denen“ so schrieb wie man es selbst gerne tun würde. Nur war das dann am Ende doch nur einer von „uns“.

Und so blieb das Befremden über die von „denen“, die eben nicht aufstanden und applaudierten, sondern die sitzenblieben, weil sie nicht nur fühlten, sondern auch intellektuell durchdrangen, was da jemand gerade skizziert.

Und damit sind wir, Duplizität der Ärgernisse, bei Martin Walser angekommen, dem Autor, den die ab den 1980er Jahren geborenen Menschen nicht mehr als Autor kennen, sondern als alten Mann, der uns gleich zwei Antisemitismusskandale bescherte. Als Walser 1998 in der Paulskirche in Frankfurt proklamierte, Auschwitz eigne sich nicht als „Moralkeule“ oder werde zur „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“ missbraucht, da standen am Ende alle auf und applaudierten, außer Ignatz Bubis und seiner Frau. Und der erste Reflex der Mehrheitsgesellschaft war nicht, zu überlegen, ob Bubis damit vielleicht Recht hatte, sondern ihm Vorwürfe zu machen. Walser hat das später selbst noch persönlich gemacht, als es um den Umgang mit Auschwitz ging:

Walser: „Und, Herr Bubis, da muss ich Ihnen sagen, ich war in diesem Feld beschäftigt, da waren Sie noch mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Sie haben sich diesen Problemen später zugewendet als ich.“

Bubis: „Ich hätte nicht leben können. Ich hätte nicht weiterleben können, wenn ich mich damit früher beschäftigt hätte.“

Walser: „Und ich musste, um weiterleben zu können, mich damit beschäftigen.“

Der Deutsche, der die nationale Schande Auschwitz überwinden will, um weiterleben zu können, so wie der Jude Bubis als einziger seiner Familie den Holocaust überlebt hat: Vielleicht ist es zur Vergewisserung der deutschen Selbstwiedergutwerdung gerade dieser Opferneid, den wir bis heute nicht aufgearbeitet haben.

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