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Land und Leere

Man kann Deutschland ja nie auch nur zwei, drei Wochen alleine lassen. Kaum begibt man sich in den Urlaub, begibt sich das Land in eine Debatte über scheußliche Flugblätter und diejenigen in Machtpositionen glauben sie beenden zu können, indem sie als tätige Buße Gespräche mit Jüdinnen und Juden nicht unter drei Stunden auferlegen, während das routinierte Gedenkbeamtenwesen als Allheilmittel den Besuch von KZ-Gedenkstätten fordert, die das glücklicherweise ablehnen. Wir haben ganz schön lange gedacht, dass wir die Vergangenheitsbewältigungsweltmeister sind, aber auch hier: Vorrundenaus. Schon wieder.

Das dazu: bei Bluesky (Opens in a new window), der wohl erfolgversprechendsten Twitteralternative, habe ich in Aussicht gestellt, lieber über meinen Urlaub zu schreiben und dafür vergleichsweise viel Zuspruch bekommen. Glücklicherweise waren die etwas über zehn Tage, die wir in Vorpommern verbracht haben, tatsächlich weniger erholsam (lesen Sie dazu gerne bei den einschlägigen Eltern-Newslettern), aber dafür geistig überaus anregend: Eine so diametral andersartige Gegend zu meiner Kleinstadt in Nordbaden werde ich in Deutschland sonst vielleicht noch auf der Zugspitze oder der Zimmerstraße 50 in Berlin finden.

Die kleine Stadt Lassan, etwa 1.500 Einwohner:innen, in der wir waren, befindet sich etwas abseits der üblichen Touristenströme am Achterwasser, das zwischen Usedom und dem Festland liegt. Gefühlt (Zeit für eine empirische Erhebung fehlte mir) teilt sich die Bevölkerung ein in ein Drittel Einheimischer unter 50, ein Drittel Einheimischer über diesem Alter und einem Drittel westdeutscher Akademiker:innen aus dem Fahrwasser der 68er-Zeit: eher künstlerisch, eher alternativ. Das führt dazu, dass in Lassan der nur bei Tageslicht offene Laden mit Handarbeitsprodukten (Strom gibt’s nicht) direkt neben der Einfamilienhausruine mit „White Lives Matter“-Stickern steht, und dass die unten am Hafen landenden Segler mit den teuren Polohemden sich abends die Bank teilen mit Männern, deren Händen man noch ansieht, dass sie vor vielen Jahren die Fischernetze an Bord gezogen haben.

Lassan besteht hauptsächlich aus zwei Straßen, die vom Hafen ab in Richtung der Kirche aufsteigen, mit der Zeit sind davon noch einige weitere Wege abgezweigt, die DDR hat pragmatische Wohnbauten an den Ortsrand gesetzt. Es gibt einige Handwerksbetriebe, ein wenig Tourismus, eine Mosterei und eine Autowerkstatt, aber vor allem gibt es unheimlich viel Platz. Als Mensch aus der sich großspurig „Metropolregion Rhein-Neckar“ nennenden Gegend war es mir schier unvorstellbar, so große Flächen von Nichts sehen zu dürfen: Hier, wo der Baulandquadratmeter schon länger vierstellig kostet, ist Land entweder bebaut, wird landwirtschaftlich genutzt oder ist Naturschutzgebiet. In Vorpommern, gerade nah am Wasser, gibt es große Landstücke, die sich der Kultivierung, ja des schieren Betretens durch den Menschen entziehen – wer es versucht, wird sich von Mücken, Matsch und Brennnesseln schnell umstimmen lassen.

Dieser Platz führt dazu, dass Lassan ohne Auto nicht zu überleben ist: der gerahmte Fahrplan an der Bushaltestelle hat das Format DIN A5, die Landstraßen sind so alt, schief, schlaglöchrig und mitunter noch gepflastert, dass sich das Fahrrad als Verkehrsmittel nur den wirklich Wagemutigen anbietet, will man in vertretbarer Zeit von A nach B kommen. Aber auch mit dem Auto muss man sich umgewöhnen: Die Fahrt nach Wolgast, der zweitnächsten größeren Stadt (12.000 Einwohner:innen), verbringt man größtenteils in der Mitte der Straße, solange kein Gegenverkehr kommt, um die tieferen Löcher zu meiden, die einen bei Tempo 80 (und selbst mit 100 wird man von den Einheimischen noch überholt) Richtung Straßengraben ziehen. Biegt man von den größeren Verkehrsadern ab, sollte man hingegen am Straßenrand bleiben, der an beiden Seiten soweit abgefahren ist, dass die in den Himmel ragende Fahrbahnmitte sonst den Unterbau des Wagens abschmirgelt. Bei den Kutschen, die auch schon über diesen Belag gefahren sein dürften, war das weniger ein Problem.

Als westdeutscher Besucher, der jeden Tag die Option hat, einfach wieder wegzufahren, gelangt man natürlich schnell in Versuchung, diese Umstände zu romantisieren; tatsächlich sind sie Ausdruck einer strukturellen Armut der Gegend, in der noch so viel liberal-idealisierter Unternehmergeist keine so große Zukunftschance darstellen kann wie das Wegziehen.

Gesteht man den Menschen zu, dass das Lebenbleiben in der Heimat ein legitimer Wunsch ist, dann bot der real existierende Sozialismus ihnen tatsächlich eine bessere Perspektive als die real existierende Marktwirtschaft: Die Werft in Wolgast bot denen Arbeit, die nicht in Handwerk oder Fischerei waren, die Straßen waren im selben gottserbärmlichen Zustand, dafür wurde entgegen jeder heutigen Vernunft auch der ländliche Raum bespielt: In Murchin, neun Kilometer vom Wasser weg, 298 Einwohner:innen, steht das ehemalige „Kreiskulturhaus“. 1950 und 1951 hatten die Arbeiter der örtlichen Maschinen-Traktoren-Station für ihre Tätigkeit die Wanderfahne der DDR erhalten, als Belohnung setzte man ihnen einen klassizistischen Prachtbau an den Ortsausgang. Nach der Wende wurde aus dem Kreiskulturhaus der „Hyperdome“, ein Jahr nachdem VIVA dort mit „Club Rotation“ zu Gast war (Opens in a new window), wurde das Gebäude geräumt und verrottet jetzt unter verschiedenen Eigentümern zusehends – eine wirklich tragfähige Idee, was man mitten im Nirgendwo, im Dorf das sogar Lassanerinnen beim Supermarkt als „Wallachei“ bezeichnen, mit einem so großen Prachtbau anfangen soll, ist noch niemandem gekommen.

Abgesehen von solchen Signalbauten hat die DDR bemerkenswert wenige Spuren in der menschengeprägten Landschaft hinterlassen: Lassan, das den Zweiten Weltkrieg unbeschädigt überstand, behielt seine alte Architektur, man ergänzte ein paar damals dringend benötigte Wohngebäude, aber selbst den Straßen, wo sie noch nicht bundesrepublikanisch geglättet wurden, sieht man ihre kaiserliche Herkunft mitunter an. Wo nicht asphaltiert oder gepflastert ist, regiert allerdings die Betonplatte: viele, viele Kilometer kann man zurücklegen auf Wegen, die in sichtbarer Handarbeit in die Erde gepresst und standardisiert belegt wurden.

Die Schriftstellerin Katja Lange-Müller ist 1996 für den SPIEGEL durch ihre ehemalige ostdeutsche Heimat gereist und hat für einen Artikel auch Lassan besucht (Opens in a new window). In den 27 Jahren seitdem hat sich viel getan: Die abgebildeten Peenefischer gibt es kaum noch, weil nicht mehr genug Fische im Wasser sind, der Marktplatz ist vollständig saniert. Den von Lange-Müller diagnostizierten „Charme des depressiven Widerstands“ hat der Ort aufgegeben, er ist bemerkenswert offen: Wen ich zum zweiten Mal in einem der beiden Kleinstsupermärkte (beide am Markt, beide Edeka, höchst unterschiedliches Sortiment) traf, der grüßte selbstverständlich. Als ich einmal in eine Unterhaltung über die wegziehende Jugend gezogen wurde, musste ich meinen eigenen Wohnort offenbaren und wurde fortan nur noch „der Süddeutsche“ genannt (was witzig ist, weil ich an meinem Wohnort als „der Norddeutsche“ gelte). Es ist eine gerade historische Binsenweisheit: Der stetige Kontakt hilft, Barrieren abzubauen.

Die Gegend wird den Klimawandel als Bedrohung und Chance empfinden müssen: Wer direkt am Achterwasser lebt, wird in den kommenden Jahrzehnten das Wasser an der Haustür vorfinden. Weiter oben (und es ist wirklich hügelig dort) hingegen könnten auch solche Süddeutsche, die in ihrem Erwerbsleben bescheidenen Wohlstand erfahren haben, immer noch einen Altersruhesitz finden, der bezahlbar ist und Hochsommer mit unter 30 Grad bietet.

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