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Kulturoptimisten wie mir war die letzte Woche ein Fallstrick. Damit ging es mir immerhin besser als den vielen, vielen Frauen (und allen anderen Menschen, die gebären können) in den Vereinigten Staaten, die die Hoheit über ihren eigenen Körper verloren haben. Die Entscheidung Dobbs v. Jackson Women's Health Organization des Supreme Court ist einer der aufsehenerregenderen Fälle aus einer ganzen Reihe von Entscheidungen in den USA, die dortige liberale Entwicklungen (man mag sagen: Errungenschaften) rückgängig machen. Dabei geht es nicht, wie die moderne deutsche Rezeption Glauben macht, ausschließlich um White Christian Nationalism, also eine weltanschaulich-ideologische Agenda: Zugrunde liegt etwas, was im Jahr 2022 furchtbar altbacken klingt, aber uns nie verloren ging: Klassenkampf.

Denn natürlich, darauf haben Viele hingewiesen, bedeutet ein Abtreibungsverbot, wie es nun in mehr als der Hälfte der US-Bundestaaten kommen wird, nicht, dass es weniger Abtreibungen geben wird: Sie werden nur unsicherer für die einen und teurer für die anderen. Wer es sich leisten kann, wird auch aus Texas oder Ohio heraus einen sicheren Schwangerschaftsabbruch vornehmen können, nur halt nicht in Texas oder Ohio. Wer es sich nicht leisten kann, wird sich in Lebensgefahr begeben.

Aber auch über den konkreten Anlass hinaus geht es übergeordnet um eine anhand von Klassenlinien verlaufende Real- und Machtpolitik: Die wirtschaftspolitische Agenda der Republikanischen Partei läuft, bei Lichte betrachtet, den Interessenlagen weiter Teile der Bevölkerung in Unter- und Mittelschicht zuwider. So braucht es andere, emotionalisierte Politikfelder, um Wählerstimmen zu erhalten. Hier hilft der GOP das amerikanische Wahlsystem, nach dem es nicht darauf ankommt, die Mehrheit aller Wählenden zu überzeugen, sondern genug Mehrheiten in Bundesstaaten zu sammeln. Es ist kein Zufall, dass die Republikaner seit 1992 in acht Wahlperioden drei Mal den Präsidenten stellten, aber nur einmal (George W. Bush im Post-9/11-Amerika) auch die Mehrheit der Stimmen bekamen. Gleichzeitig führt Gerrymandering, also der Zuschnitt von Wahlbezirken zur Sicherung der Wiederwahl von Abgeordneten, zur Zementierung von politischen Strukturen und Demobilisierung des politischen Gegners.

Angesichts der Art und Weise, wie einige der Richter:innen des Supreme Courts ins Amt kamen, der Weigerung, die Wahlergebnisse des vergangenen Jahres anzuerkennen und der zunehmenden Radikalisierung der GOP insgesamt, werden nun unter amerikanischen Linken (die sich meist außerhalb der Demokratischen Partei befinden, sie aber wählen müssen) und auch Liberalen die Stimmen laut, den eigenen politischen Weg zu ändern: Bislang galt, was Michelle Obama 2016 postuliert hatte: „When they go low, we go high“, wir reagieren auf Tiefschläge mit Niveau und Bedachtsamkeit. Das ist ein schöner Gedanke, so der aktuelle Diskurs, aber die moralische Überlegenheit hat realpolitisch nichts gebracht. Deshalb finden nun beispielsweise Demonstrationen direkt vor den privaten Wohnhäusern der genannten Richterinnen und Richter statt, anstatt (wie die demokratischen Kongressabgeordneten in einem Akt außergewöhnlicher Situationstaubheit) nur freundlich Protestlieder zu singen. Und es gibt Aufrufe, sich auch als Linke zu bewaffnen: Das Argument der Rechten für den Waffenbesitz war immer, sich im Zweifel gegen ein tyrannisches Regierungssystem zur Wehr setzen zu können. Die Linken lehnten privaten Waffenbesitz in einer Art und Weise, die es mit staatlichen Waffenträgern aufnehmen könnte, lange ab. Das ändert sich gerade.

Es gibt dafür Präzedenzfälle, die zu für uns unerwarteten Resultaten führten: Das erste wirkmächtige Gesetz, das in den USA das Tragen von Waffen in der Öffentlichkeit unterband, wurde von einem republikanischen Gouverneur unterzeichnet. Zur Begründung führte er heran, er sehe „keinen Grund, warum ein Bürger heute auf der Straße geladene Waffen tragen sollte“; Waffen seien ein „lächerliches Mittel, um Probleme zu lösen, die unter Menschen guten Willens gelöst werden müssen.“ Wer heute in den USA so spricht, wird bei Fox News schnell als Sozialist oder schlimmeres bezeichnet; 1967 war es Ronald Reagan, der das sagte.

Das Gesetz, das er am 28. Juli 1967 unterzeichnete, war der Mulford Act, benannt nach dem republikanischen Abgeordneten, der es angestoßen hatte: David Mulford, ein harter Hund, der zwei politische Lebensthemen hatte: die Bewahrung von Naturschutzgebieten, beispielsweise rund um den Lake Tahoe, und das Ausmerzen subversiver Elemente in Kalifornien, hauptsächlich an den Universitäten: Mulford war überzeugt, dass die linken Flausen nicht aus seiner Heimat kamen, sondern von „New Yorker Kommunisten und und Beatnik-Perversen“, wie es Hunter S. Thompson zeitgenössisch ausdrückte (Opens in a new window). Nun waren die Studierenden aus Berkeley nicht unbedingt für ihre Neigung zum bewaffneten Widerstand bekannt, was also hatte Mulford zu diesem Vorstoß veranlasst?

1966 hatte die Black Panther Party in Oakland eine Aktivität etabliert, die später als „Copwatching“ bekannt werden sollte: organisierte Gruppen patrouillierten durch die Stadt, um die Tätigkeit der Polizei zu beobachten und rassistische Vorfälle zu dokumentieren. Die Mitglieder der Black Panther trugen dabei, in völligem Einklang mit Verfassung und Gesetz, offen Waffen. Sie begründeten das damit, dass die Zeit gekommen sei, „dass die Schwarzen sich gegen diesen Terror wappnen, bevor es zu spät ist.“

Eine selbstbewusste, ihrer historischen Benachteiligung ebenso wie zukünftigen Ziele verpflichtete Organisation Schwarzer Amerikaner zeigte sich da. Sie rüstete sich in offener Abgrenzung zum bestehenden Staat mit Gewehren und Pistolen aus und präsentierte diese auch noch im öffentlichen Raum: der weißen Mehrheitsgesellschaft, die sich zwar noch nicht zu ihrer historischen Verantwortung bekannte, aber insgeheim merkte, dass sie so nicht weitermachen können würde, musste das Angst machen. So begann Mulford damit, eine Mehrheit für sein Gesetz zu sammeln, das das öffentliche Tragen von Feuerwaffen ohne Genehmigung verbieten sollte.

Ein taktischer Fehler brachte das Gesetz schließlich schnell zur Vollendung: Während des legislativen Prozesses besetzten 30 bewaffnete Mitglieder der Black Panther Party das kalifornische Kapitol, was ein Eilverfahren ermöglichte: der Mulford Act wurde um das komplette Verbot von privaten Waffen um das Abgeordnetenhaus erweitert und in einer Eilgesetzgebung mit jeweils Zwei-Drittel-Mehrheit in State Assembly und Senat verabschiedet: Seit Juli 1967 galt dieses Gesetz in Kalifornien und wurde auch selten besonders kontrovers diskutiert – weil es der Agenda der Demokraten nahestand und vom Parteiheiligen der Republikaner, Reagan, unterzeichnet worden war. Mit dem zweiten wegweisenden Urteil des Supreme Court in der vergangenen Woche ist es, soweit absehbar, hinfällig geworden.

Der Mulford Act war insofern revolutionär, dass er das Recht auf Waffenbesitz in den USA erstmals spürbar einschränkte – und gleichzeitig die letzte dieser Einschränkungen war, die von der amerikanischen Waffenlobbyorganisation NRA bedingungslos unterstützt wurde. Die NRA, traditionell eine sehr weiße Organisation, orientierte sich in der Folge an ihren Mitgliedern, die sich nicht etwa mit der Black Panther Party solidarisierten, aber befürchteten, künftig in dieselbe Situation zu kommen. Die Vorstellung, sich nicht mit eigenen Waffen gegen einen diskriminierenden, überbordenden Staat wehren zu können, gewann in dieser Zeit an Popularität.

Anders gesprochen: der Selbstverteidigungsaspekt des amerikanischen Waffenfetischs entstand aus der Furcht, irgendwann selbst so behandelt zu werden, wie man selbst immer die Schwarzen Amerikaner behandelt hatte.

Was sonst noch war:

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