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Texte, die du 2023 gelesen haben solltest

Liebe Leserinnen und Leser,

was für ein Jahr. Davon wollen wir gar nicht anfangen, Sie wissen es ja selbst. Unser Rückblick auf die – unserer Meinung nach – besten und wichtigsten Texte der letzten zwölf Monate ist deswegen auch wieder eine Mischung. Es sind Texte dabei, die das Elend greifbar machen, den Verfehlungen der Politik Menschen entgegensetzen, die darunter leiden. Und es sind Texte dabei, die Sie ablenken sollen. Fröhliche Geschichten oder einfach Texte, über die Sie nachdenken können. Großartig sind sie alle.

Zum Jahresende würden wir Sie nun um eine letzte Sache bitten: Wenn Sie es noch nicht tun, unterstützen Sie doch bitte unsere Arbeit bei Steady. Das kostet Sie nur wenige Euro im Monat, uns ermöglicht es aber, die Server am Laufen zu halten und als Team einmal im Jahr ein Bier trinken gehen zu können (es sind dann meistens zehn Bier, aber Sie verstehen schon).

Vielen Dank und einen guten Jahreswechsel
Annkathrin Weis und Robert Hofmann

Julia Belzig empfiehlt:

Liebe im Aquarium (Opens in a new window)

von Andreas Wenderoth, Reportagen Magazin (Opens in a new window)

Ich liebe Liebe. Und die Reportage „Liebe im Aquarium“ kann einem nur das Herz erwärmen. Der Text ist etwas für jede sensible Maus, die sich zum Jahresende nochmal etwas richtig Schönes wünscht oder einfach etwas braucht, um auf andere Gedanken zu kommen. Denn 2023 war anstrengend für uns alle.

Die Protagonistin Sylvia kann zwar nicht unbedingt gut mit Menschen, dafür aber mit den Fischen im Aquarium des Berliner Zoos. Für die würde sie ihr letztes Hemd geben und besucht Quallen, Haie und ihren Liebling, den Napoleon-Lippfisch, seit zehn Jahren fast täglich, manchmal sogar mehrmals. Und eines Tages findet sie dann sogar jemanden, der Fische genauso toll findet wie sie. Ein gemeinsames Hobby ist schon mal ein guter Anfang für die große Liebe.

Britta Rotsch empfiehlt:

Warum musste mein bester Freund Luca sterben? (Opens in a new window)

von Barbara Ackermann, Das Magazin (Opens in a new window)

Zwei Menschen wachsen zur gleichen Zeit im gleichen Ort auf, werden beste Freund:innen und verbringen Jahre miteinander. Warum kippt die eine in keine Sucht, während der andere daran stirbt? Darum geht es in diesem Text.

Ich hatte auch mal einen besten Freund, der zwar nicht an Drogen starb, aber innerlich daran zerbrach. Vielleicht hat mich der Text deshalb auf eine besondere Art abgeholt. Aber vor allem ist die Ich-Geschichte lesenswert, weil sie ehrlich ist und das Thema Drogenkonsum neu verhandelt. Ob die Frage beantwortet wird, müsst ihr selbst herausfinden.

Mina Marschall empfiehlt:

Durchs Feuer (Opens in a new window)

von Julia Lorenz, Die Zeit (Opens in a new window)

In den letzten Jahren habe ich an dieser Stelle Geschichten ausgewählt, die mich in ihrer Unaufgeregtheit berührt haben. Weil sie tragisch waren und schön und noch schöner aufgeschrieben. In diesem Jahr ist das anders. Ich wähle eine Reportage aus, die im Grunde eine Konzertkritik ist. Doch es ist nicht irgendein Konzert, das die Autorin Julia Lorenz besucht hat. Es ist das erste Konzert von Rammstein in Deutschland, seitdem Till Lindemann sich mit Vorwürfen konfrontiert sieht, die ich an dieser Stelle nicht wiederholen muss.

Und überhaupt fragen sich manche von Ihnen jetzt vielleicht, ob wir das Thema zum besinnlichen Ende des Jahres wirklich nochmal ausgraben müssen. Ich habe mich das auch gefragt und meine Antwort sehen Sie hier. Julia Lorenz hat für mich die beste Reportage des Jahres geschrieben, weil sie eine simple Realität abbildet: Ein Mann, dem systematische sexualisierte Gewalt vorgeworfen wird, steht auf einer Bühne – und 240.000 Menschen jubeln ihm zu. Keine Pointe.

Jan Petter empfiehlt:

Die Jugendherberge bei Auschwitz (Opens in a new window)

von Jonah Lemm, Stern (Opens in a new window)

In Oświęcim in Polen gibt es eine einzige Jugendherberge, 40 Zimmer und 115 Betten, rote Dachziegel und weiße Fassade. Vor 36 Jahren wurde sie eröffnet, den Ort kennen viele der Besucher mit deutschem Namen: Auschwitz. In der Herberge sollen junge Menschen lernen, das Erinnern nicht zu vergessen. Doch dann kommen die Jugendlichen und es geht erst einmal um Kartoffelchips, um Regeln für Sex an einem Ort der Massenvernichtung, um “mega krasse" Geschichten.

Jonah Lemm erzählt von diesem besonderen Ort voller ehrlicher, kleiner Beobachtungen, schrieb ich schon im Frühjahr – heute scheint mir dieser Text wieder sehr lesenswert, er ist für mich der vielleicht beste in diesem Jahr. Im Mittelpunkt stehen die Menschen vor Ort. Nachfahren von verfolgten Polen, junge Deutsche, Lehrkräfte, eine der letzten Überlebenden. Die Jugendherberge Oświęcim bereitet sich seit Langem darauf vor, künftig auch ohne Zeitzeugen arbeiten zu können. Spätestens nach diesem Jahr ist klar: Wir brauchen sie noch lange.

Julia Reinl empfiehlt:

Und jetzt hoch! (Opens in a new window)

von Charlotte Parnack, ZEIT Magazin (Opens in a new window)

Ich halte nicht viel von Jahresvorsätzen. Ehrlich gesagt halte ich davon gar nichts. Charlotte Parnack weckt mit Sätzen wie “Ich bin ein baumelnder Klops”, trotzdem den Drang danach, es 2024 endlich zu schaffen: Ich will an die Stange, will mein volles Körpergewicht in einem Klimmzug nach oben hieven. Danach will ich mich auf den stinkigen Boden im Fitnessstudio fallen lassen und diese unfassbare Stärke zelebrieren. Vielleicht werde ich Applaus einfordern.

Aber “Und jetzt hoch!” ist mehr als nur eine Anleitung zum Klimmzüge ziehen. Es ist ein Plädoyer für die Kraft von Frauen. Als Kinder legen wir uns mit Jungs an, gewinnen eine Mutprobe nach der anderen, aber vergessen, verlieren oder verlegen unsere Kraft irgendwann, weil jemand, also die Gesellschaft, uns erklärt hat, dass Frauen nicht stark sind oder zumindest nicht stark sein sollten. Dabei sind wir längst stark, wir müssen uns nur wieder daran erinnern. Parnack schreibt allerdings auch, Schwäche sei nicht sexy. Sich Schwächen eingestehen zu können, sich schwach fühlen zu dürfen, ist das nicht der Klimmzug für Fortgeschrittene?

Martin Hogger empfiehlt:

War früher alles besser? Oder wirklich alles schlechter? (Opens in a new window)

von Sara Geisler, Der Standard (Opens in a new window)

Die Vergangenheit ist wieder da, wir tragen sie an unseren Körpern, zahlen enorme Mengen Geld dafür und nennen sie “vintage”. Wir sehen sie, hören sie, sehnen uns nach ihr, wir verdrängen, wie furchtbar sie ist. Wie sonst rechtfertigt sich die Existenz von Thomas Gottschalk, Poppunk und Schlaghosen? Wie sonst comen Milli Vanilli wieder back? Guys, you know it’s true uh uh uh.

Ich würde es gerne beweisen, ja wirklich. Und weil Zeitmaschinen noch nicht erfunden sind, müssen Sie bis Jahresende noch unbedingt das lesen, was der Reise in die Vergangenheit am nächsten kommt: diesen megagigaaffenstarken und meinen liebsten Text des Jahres von Sara Geisler.

Rabea Westarp empfiehlt:

Das Pochen am Hals (Opens in a new window)

von Fabian Hain, taz (Opens in a new window)

Fabian Hain wollte nie Lehrer werden. Und jetzt steht er plötzlich doch als Quereinsteiger vor der 6b einer Gesamtschule. In der zweiten Woche hat er bereits mehrere Panikattacken hinter sich. Die Respektlosigkeit und Frustration seiner Schüler:innen überfordern ihn, das Kollegium ist wegen vieler Burnout-Ausfälle unterbesetzt. Alle tun, was sie können – und stopfen damit doch nur Löcher im maroden System „Schule in Deutschland“.

Aus der Ich-Perspektive beschreibt der Autor bildlich sein Jahr in der 6b und nimmt uns durch die vielen Einblicken mit ins Klassenzimmer. Und klar, so frustrierend wie am Anfang bleibt es nicht. Langsam nähert die Klasse sich dem neuen Lehrer an. „Glauben Sie eigentlich an uns, Herr Hain?“, fragen ihn die Kinder. Und doch zieht der Autor nach einem Jahr das Resümee: „Normalerweise ist die Beziehungsarbeit zwischen Lehrer- und Schülerschaft die Basis für Lernerfolg. Bei uns ist sie der Lernerfolg. Mehr lässt sich nicht erwarten.“

Gabriel Rinaldi empfiehlt:

Als die Polizisten kommen, springt Ishaq aus dem Fenster (Opens in a new window)

von Julius Geiler, Tagesspiegel (Opens in a new window)

Ishaq ist ein junger Mann, der aus Pakistan kommt. Seine Angst vor einer scheinbar drohenden Abschiebung wird so groß, dass er sich aus einem Fenster im fünften Stock stürzt. Meine Reportage des Jahres beleuchtet Ishaqs persönlichen Kampf und stellt ihn in den Kontext der aktuellen Migrationsdebatte in Deutschland.

Die präzise Beschreibung von Ishaqs Schicksal und die Atmosphäre im Brandenburgischen Viertel, einer Plattenbausiedlung in Eberswalde, ziehen direkt in das Geschehen hinein. Julius Geilers Text besitzt eine emotionale Tiefe und schafft es, die persönlichen Geschichten hinter politischen Entscheidungen zu zeigen. Damit wirft er ein Schlaglicht auf eine der wichtigsten Fragen unserer Zeit, die nicht nur in der Ampelkoalition für Streit sorgt: Wie umgehen mit den menschlichen Schicksalen, die mit einer strengeren Migrationspolitik verbunden sind?

Henrik Schütz empfiehlt:

Der Schaum der Tage (Opens in a new window)

von Madeleine Londene, DUMMY (Opens in a new window)

Wer in der eigenen Familie oder im Bekanntenkreis schon einmal mit Demenz zu tun hatte, der weiß, welche unfassbare Kraft und Energie diese Krankheit kostet, wenn geliebte Menschen immer weniger sie selbst werden. In der Reportage von Madeleine Londene mit dem großartigen Titel “Der Schaum der Tage” geht es um ein Altenheim in Duisburg.

Das Besondere: Hier gibt es eine eigene Kneipe, in der die Zeit stehen geblieben ist. Die Spielautomaten nehmen D-Mark an und die Schlagermusik war schon in den 80ern alt. Madeleine Londene fängt die kleinen Momente ein, die für demenzkranke Menschen so wichtig werden. Während den Patient:innen die Erinnerungen verschwinden, haben die Pfleger:innen ein Umfeld geschaffen, das ein bisschen Ruhe gibt, wo sonst keine mehr wäre.

Robert Hofmann empfiehlt:

„Stell mich nicht als Opfer dar! (Opens in a new window)

von Nora Gantenbrink, Der Spiegel (Opens in a new window)

Im Boxen kristallisiert sich das Leben, sagt man: Zwei Menschen stehen sich gegenüber, nur die Kraft, das Können, die Trainingsstunden entscheiden, wer gewinnt und wer am Boden blutet. Die Geschichte von Mazen Girke zeigt, dass das Quatsch ist. Im Boxring ist das Leben genauso unfair wie überall sonst, wo Herkunft, Bekanntschaften und finanzielle Mittel über den Erfolg bestimmen. 

Girke ist Journeyman, er wird bezahlt, um im Kampf zu verlieren. Und er schätzt, dass 90 Prozent aller Kämpfe in Deutschland schon vor dem ersten Gong entschieden sind. Er steigt trotzdem in den Ring, immer wieder, bald 200 Mal, lässt sich verhauen und dafür bezahlen.

Im Boxen wie im Kapitalismus gibt es Leute, die nie eine Chance hatten. Don’t hate the player, hate the game, heißt es. Dieser Text zeigt, wie korrupt dieses game ist. Nora Gantenbrink zeigt die Ungerechtigkeit, ohne sie je ausbuchstabieren zu müssen. Der Mann mit syrischem Background, aufgewachsen in Berlin-Wedding, trainiert von einem Verbrecher. Der sich die Freude an seinem Sport nicht nehmen lassen will, nur weil das System ihn als Verlierer definiert. Der Würde in der Niederlage gefunden hat.

Ich bin selbst Boxfan, kann Rocky fast auswendig mitsprechen, und weiß nach diesem Text trotzdem, wie kaputt das alles ist. Und mit “alles” meine ich nicht nur den Boxsport. 

Annkathrin Weis empfiehlt:

„Wenn ich Geld ausgebe, dann um Geld zu sparen“ (Opens in a new window)

von Denise Peikert, Leipziger Volkszeitung (Opens in a new window)

Bitte alle einmal klatschen, es wird so vieles besser! In wenigen Stunden verdienen die Ersten in Deutschland bereits mehr, der Mindestlohn steigt und auch der Anteil der Geringverdienenden nimmt tendenziell ab. Doch schon mit diesem Begriff grenzen wir ab, suchen nach einer Kategorie für Jobs und Menschen, die so schlecht bezahlt wie wichtig sind.

Solidarität – ein toller Gedanke, jede:r trägt einen Teil der Last, damit es allen gut geht. Denise Peikert zeigt uns, dass das so nicht stimmt. Zumindest nicht für alle: die Bäckerei-Mitarbeiter:innen, die Menschen in Callcentern oder in der Kulturbranche. Mit Löhnen zwischen 1.300 und 1.800 Euro netto funktioniert für sie das Notwendigste, können sie (über)leben. Doch oft eben nur das, ohne Chancen auf Lohnanstieg, Beförderung, Verbesserung. Laut Statistischem Bundesamt ist das die Realität bei etwa jedem Fünften Beschäftigten in Deutschland. Und deswegen dieser seltene, sensible Einblick so wichtig.

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