H
Hass
Als sie siebzehn war unternahm sie ihre erste große Reise ganz allein. Zwei Monate Israel. Die DDR hatte sie gerade entlassen und der Zweite Golfkrieg war ausgebrochen.
Sie kannte niemanden im Lande außer einem alten Freund, der sofort, nachdem sich die Mauern der DDR für sie öffneten, dorthin ausgewandert war und nun in irgendeinem Kibbuz im Norden des Landes lebte. Sie hatte sonst nur sehr weit entfernte Verwandtschaft im Land, die sie noch nie gesehen hatte, nicht mehr als deren Namen wusste und dass sie im ultraorthodoxen Viertel Jerusalems lebten, in Mea Schearim.
Es war ungemein aufregend, sich so frei und ohne Begleitung, ohne Pläne durch das Land treiben zu lassen, in dem alle irgendwie so aussahen wie sie und eine Sprache sprachen, die sie bisher nur in der Altfassung der Bibel kannte. Hier bleib ich, dachte sie - und wiederum nicht. Das raue, direkte Auftreten und die schnörkellose Sprache der Sabres gefielen ihr, kein Wenn-Sie-bitte-so-freundlich-sein-würden, dieses Umstandslose zur Sache kommen. Kein Krawattenjudentum, das sich erst in Schale wirft, bevor es G’tt anruft, nach guter alter europäischer Art, mit der sie aufgewachsen war und die sie deshalb angebracht fand. Irgendwie auch als Kind schon fand, dass angemessene Kleidung auch angemesseneres Verhalten hervorrief.
Wie naiv sie doch war.
Nur dass die Sabres tatsächlich auch umstandslos zu der einen Sache kommen wollten, irritierte und überforderte sie komplett - und stieß sie ab. Schnell hatte sie Schimpfwörter zu lernen, um irgendwelche Typen loszuwerden.
Baby, das hier ist der Nahe Osten, wir haben keine Zeit für Schmus.
Kein Spaziergang durch ein ruhiges Stadtviertel, kein Sitzen am Wasser, ohne dass irgendein Mann auftauchte und an ihr klebte. Es war widerlich und ihr aus Berlin, zumindest den Straßen der Stadt, gänzlich unvertraut.
Eines Tages saß sie allein in Davids Stadt auf einer Parkbank. Ein Schwarzer, ein Orthodoxer, näherte sich ihr und ließ sich neben ihr auf der Bank nieder. Dass das an sich schon seltsam war, wusste sie in ihrer Naivität damals nicht, aber seine Kleidung ließ ihn im ersten Moment ganz lauter erscheinen und bar jeder Absichten. Zumal er ihr aus Mea Schearim gefolgt war und irgendeine Wächterfunktion behauptete, die ihr zwar lästig und albern erschien, sie anderseits aber mürbe war von all den anderen unfreiwilligen Begegnungen und Berührungen. Außerdem hatte sie gerade eine religiöse Phase, so frisch aus dem aufzubauenden Kommunismus entlassen, Vaterstaat und Vaterlos und vor allem ganz ohne Gespür für sich und keine Ahnung, wie man Fassaden baut.
Ein Ultra, der da am anderen Ende der Bank kauerte, sie war ans andere Eck gerückt, beruhige dich.
Er rückte plötzlich näher, griff nach ihr, auf ihre Beine unter dem bodenlangen Kleid und nach einem kurzen Schockmoment stieß sie ihn weg und rannte planlos davon.
Falsche Richtung.
Natürlich hatte sie sich vor dem Besuch Jerusalems den Stadtplan angeguckt. Sie konnte Pläne lesen und besaß einen sehr guten Orientierungssinn. Nur waren in dem Stadtplan keine Warnflaggen eingezeichnet gewesen. Östlich der Altstadtmauer, im Kidrontal, das Grab des Abschaloms undsoweiter, Sehenswürdigkeiten also und irgendwo ja doch diese Schnellstraße. Um den Tempelberg musste man doch auch hinten herum laufen können und zurück in bekanntes Territorium kehren, nun, da sie kopflos schon mal in ihrer Panik in die falsche Richtung geflohen war.
Als sie kurz anhalten musste um Atem zu schöpfen, fiel ihr auf, dass sie hier womöglich ganz falsch war. Ja, die im Kopf gespeicherte Karte sagte ihr, wo sie lang musste, aber neben ihr waren plötzlich rottige kleine Häuschen mit aufgesprühten palästinensischen Flaggen, Parolen auf Arabisch wie Graffiti die sie nicht verstand, aufgetaucht. Sie verstand nur, dass sie hier genauso schnell weg musste wie vor dem lüsternen Frommen.
Das Kidrontal, das Grab des Abschaloms, die Sehenswürdigkeit, das war doch hier. Irgendwie links. Lauf weiter, lauf dahin, da hinten ist ja auch die große Straße, ein Taxi, Leute.
Leer war das Kidrontal. Kein Tourist besuchte das Grab des Abschaloms. Das naive DDR-Mädchen hatte sich den besten Zeitpunkt für ihre erste Reise in den Nahen Osten gesucht.
Okay, es war etwas unheimlich, diese Stille, diese Stille in dieser sonst überall so lauten Stadt. Aber sie war jetzt rennend angekommen vor der Grabstätte, die ihr Begrüßungsgeld-Reiseführer pries, da hinten parallel lief die große Straße wie in der Karte gesehen, da musste sie nur hin, es war nicht weit.
Einmal kurz Luft holen. Ihr langes schwarzes Kleid klebte an ihrem Körper und sie hatte Durst.
Als sie sich aufrichtete, sah sie sich umzingelt von einer Bande Jungs ihres Alters.
Sie hatten einen Kreis um sie gebildet und starrten sie wortlos an. Gesicht für Gesicht ging sie die Runde durch. Was soll mir das. Ich bin verloren. Nein, bin ich nicht. Sie wollte ausbrechen aus der Umzingelung dieser jungen Männer. Nein, es waren noch Jungs, beim zweiten Hinsehen und einmal Drehen, sich jedem zuwendend sah sie, dass einige noch jünger waren als sie. Sie lächelte, Ich hab mich verlaufen, lasst mich gehen, sagte sie.
Leider in Hebräisch.
In diesem Club wird ein »Alphabet der Geschehnisse« durchgetanzt. Werden Sie exklusives Mitglied, sichern Sie sich einen Stammplatz!
Dankeschön! (Opens in a new window)
Already a member? Log in (Opens in a new window)