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#32 Soll ich der Genossenschaft beitreten? 

Auf Wohnprojektbörsen und in den Sozialen Medien werben "Junge Genossenschaften" mit netten Menschen und schönen Visionen für ihr Projekt. Sie freuen sich auf nette Stunden in Gemeinschaft, viele Gemeinschaftsräume für tolle Aktivitäten, Solidarität untereinander, ...

Nachfolgend finden Sie nüchterne Hinweise zur bewussten Entscheidungsfindung:  

1. Die Genossenschaft als Rechtsform hat einen guten Ruf. Jeder Genosse hat - unabhängig von der Höhe seiner Einlagen - eine Stimme in der jährlichen Mitglieder-/Generalversammlung. Die wichtigsten Entscheidungen sind dieser Versammlung vorbehalten. Arbeitsgruppen können die Entscheidungen vorbereiten. 

2. Grundsätzlich sind alle Genossen gleich zu behandeln. Aus sachlichen Gründen kann von dem Gleichheitsprinzip abgewichen werden (z.B. Höhe der wohnungsabhängigen Anteile, Nutzungsentgelt, Vergaberichtlinie, etc.). Die Regeln über die Abweichung vom Gleichheitsprinzip müssen als Anlage zur Satzung veröffentlicht werden.

3. Kommunen vergeben Grundstücke fast nur noch im Konzeptvergabeverfahren. Dabei werden Genossenschaften bevorzugt. Insofern können Genossenschaften mit der Aussicht auf bezahlbare und dauerhaft nutzbare Wohnungen werben. Vielfach sind jedoch Baubeschreibungen sehr vage, Grundrisse nicht zur Maßentnahme geeignet und Konzepte eine schöne Vision.
Der Einzelne kann keine Ansprüche auf Leistungserbringung durchsetzen.
Der Beitritt basiert ausschließlich auf Vertrauen.
Auch Kommunen als Grundstücksverkäufer können die Einhaltung der Konzeptbeschreibung nur begrenzt absichern (Vertragsstrafe, Wiederkaufrechte der Kommune, etc.).
Das versprochene Miteinander ist - unabhängig von der Rechtsform - nicht erzwingbar und hängt von den künftigen Bewohner:innen ab. 

4. Sog. „Junge Genossenschaften“ haben kein Eigenkapital und hohe Fehlbeträge in der Bilanz. Gerade in der teuren Projektentwicklungsphase gibt es (noch) keine Einnahmen durch Nutzungsentgelt.
Auch die Bankfinanzierung greift erst, wenn das erforderliche Eigenkapital für neue Projekte (ca. 30 - 35 % der Projektgesamtkosten) nachgewiesen ist.
Insofern müssen in einer frühen Projektphase neue Genoss:innen eingeworben werden > mittels wohnungsabhängige Genossenschaftsanteile oder qualifizierte Nachrangdarlehen. (Opens in a new window) Diese "Vorfinanzierung" muss transparent sein! Hierzu gehört eine ausführliche Risikobewertung, da ein Projekt aus vielerlei Gründen scheitern kann. Ein Totalverlust ist möglich.

5. Genossenschaften mit operativem Geschäft sind von der Prospektpflicht für Vermögensanlagen ausgenommen. Im Prospekt müsste sonst auf Risiken der jeweiligen Geldanlage hingewiesen werden.

Der Interessierte muss sich selbst ein Bild von der wirtschaftlichen Lage der Genossenschaft machen. Die jeweilige Bilanz des vergangenen Jahres ist öffentlich zugänglich (Opens in a new window).  
Auch Genossenschaften können unseriös sein > monatliche Warnliste Geldanlage (Opens in a new window)

6. Die wohnungsabhängigen Genossenschaftsanteile liegen zwar unter den Kosten für eine Eigentumswohnung, können aber locker sechsstellig sein.
Im Gegensatz zum Bauträgervertrag fehlen jedoch die strengen Verbraucherschutzregeln zur Leistungsbeschreibung und zur Fälligkeit der Ratenzahlungen im Zuge des Baufortschrittes.  

Immerhin müssen seit 2017 die Beitrittserklärung und die Zeichnung der weiteren wohnungsabhängigen Anteile (Opens in a new window) bestimmte Formvorschriften erfüllen. So sind alle Zahlungsverpflichtungen in EURO, Fälligkeit und mit Hinweis auf mögliche Kündigung (Kündigungsfrist!) explizit darzulegen. 

Aktuell findet man jedoch Formulierungen wie "die wohnungsabhängigen Anteile betragen 25 % der tatsächlichen Gestehungskosten" oder "im Laufe der Realisierung können sich die Kosten des Bauvorhabens erhöhen, deshalb kann eine Erhöhung der wohnungsabhängigen Anteile notwendig sein".
Dies ist wider dem Genossenschaftsrecht.

Genoss:innen können nicht über einen Bankkredit mit Grundschuld ihre Anteile finanzieren.  Die Genossenschaftsanteile müssen also anders finanziert werden (Eigenkapital, evtl. KfW-Förderung (Opens in a new window)).

In vielen Fällen kann die Zielgruppe laut Konzept  (Menschen mit Behinderung, Alleinerziehende, etc.) die geforderten wohnungsabhängigen Genossenschaftsanteile nicht zahlen. Ein Verzicht im Einzelfall löst die Haftung des Vorstandes aus.
Deshalb muss es im Vorfeld transparente Richtlinien (gelten für alle) geben: Querfinanzierung über die freifinanzierten Wohnungen, Einwerben von sog. Solidaritätsanteile, investierende Genossen oder qualifizierte Nachrangdarlehen.
Trotzdem entstehen häufig Deckungslücken, die eine Genossenschaft in Gefahr bringen. Auch die langfristigen Folgen bei Tod, Ausscheiden / Neubeitritt eines Genossen sind zu berücksichtigen. Gerade ehrenamtliche Vorstände unterschätzen eine langfristige Liquiditäts- und Finanzplanung.

7. In einer „Dachgenossenschaft“ hat eine Projektgruppe keinen juristisch einklagbaren Anspruch auf Umsetzung ihres Konzeptes. Der Vorstand einer Genossenschaft agiert immer in eigener Verantwortung und ist primär der Gesamtgenossenschaft verpflichtet. Der Vorstand kann die Gruppe zur Meinungsbildung freiwillig einbeziehen. 

Zusätzliche „Projektverträge“ sind riskant, wenn in einer frühen Projektphase erhebliche finanzielle Vorleistungen zu erbringen sind und  das unternehmerische Risiko der Genossenschaft auf die „Bauherrn“ verlagert werden soll.
So sollen über qualifizierte Nachrangdarlehen Grundstückskaufpreis, Grunderwerbsteuern, Notar- und Beurkundungskosten als Projektgruppe vorfinanziert werden, ... ohne Baugenehmigung, Kostenplanung, Bankfinanzierung, kalkuliertes Nutzungsentgelt pro qm, Belegungsquote, ect.
Die Nachrangdarlehen werden erst mit Abschluss eines Dauernutzungsvertrages in wohnungsabhängige Pflichtanteile umgewandelt. Doch was passiert mit den Darlehen, wenn das Projekt irgendwo dazwischen scheitert? Handelt es sich um einen "verlorenen Projektzuschuss" ? Das wäre nochmals eine Risikostufe unter dem Rangrücktritt. (Opens in a new window)

8. Als Genosse / Anteilseigner einer Wohnungsbaugenossenschaft mieten Sie nicht nur eine Wohnung, sondern sind auch an einem Unternehmen beteiligt - mit allen verbundenen Risiken. Investieren Sie in eine Genossenschaft, so ist ein Totalverlust Ihres eingesetzten Geldes möglich. Geht die Genossenschaft pleite, verlieren Sie Ihr Geld. Der einzelne Genosse ist in der Rangliste der vorletzte aller Gläubiger (vor den Darlehensgeber mit qualifiziertem Rangrücktritt).

Alle Zahlungen an Genossenschaften sind ungesichert. Allein über sog. Dauerwohnrechte nach WEG (Opens in a new window)wäre eine Absicherung im Grundbuch möglich.

9. Der Vorstand ist für die Geschäftsführung der Genossenschaft alleine zuständig und entscheidet in eigener Verantwortung. Die Kontrolle obliegt primär dem Aufsichtsrat, der jedoch auf Informationen durch den Vorstand angewiesen ist.
Eine wirksame Kontrolle durch die jährliche Mitgliederversammlung ist begrenzt.
Vorstand und Aufsichtsrat haben zwar über Tätigkeit und Lage der Genossenschaft zu berichten, aber detaillierte Auskünfte können als Geschäftsgeheimnisse verweigert werden.
Die Prüfung des Genossenschaftsverbandes erstreckt sich primär auf Formalitäten.

10. Ist ein Vorstandsmitglied auch als Architekt oder Projektsteuerer tätig, sind Interessenkonflikte vorprogrammiert. Planungsmängel oder Kalkulationsfehler bleiben so unentdeckt und ohne Rechtsfolgen - zu Lasten der Genossenschaft.

11. Günstige Nutzungsentgelte für Wohnungen findet man noch in den Traditionsgenossenschaften oder wenn eine Genossenschaft öffentliche Förderungen erhält (EOF, München Modell, ect). Die Belegung ist an Bedingungen gekoppelt, die der Einzelne erfüllen muss.

12. Der Ausstieg aus einer „Jungen Genossenschaft“ (z.B. wegen enttäuschter Erwartung) ist finanziell selten ratsam.
Für Verkauf / Übertragung von Genossenschaftsanteilen an Dritte gibt es keinen funktionierenden Markt.
Insofern bleibt nur die Auseinandersetzung nach Kündigung. Bis Sie jedoch das Geld tatsächlich auf dem Konto haben, können auch Jahre vergehen (s. Kündigungsfrist laut Satzung). Verlustvorträge lassen die tatsächlich gezahlte Einlage schmelzen. Nicht jeder kann warten, bis eine Genossenschaft eine ausgewogene Bilanz ausweist.

13. Als Mitglied einer Genossenschaft unterschreiben Sie einen Dauernutzungs-vertrag. Sie können also ein lebenslanges Wohnrecht haben. Wenn Sie alle Vertragspflichten erfüllen, ist eine ordentliche Kündigung durch die Genossenschaft (wegen Eigenbedarf) ausgeschlossen. 

In der Satzung oder im Dauernutzungsvertrag sind jedoch Ausnahmen möglich.
Belegungsrechte können zumindest einen Umzug in eine andere Wohnung erfordern.

Fazit:

Bewahren Sie für die Entscheidung einen kühlen Kopf.
Eine eG i.G, also Genossenschaft in Gründung, ist besonders riskant, da es sich juristisch um eine GbR mit privater gesamtschuldnerischer Haftung alle Mitglieder handelt.
Verlassen Sie sich nicht auf schöne Worte auf einer Homepage oder in einem Flyer.
Besuchen Sie ein realisiertes Projekt und unterhalten Sie sich mit Bewohner:innen.
Schauen Sie in die Bilanz und erkundigen sich nach den Macher:innen in der Genossenschaft. Es geht um eine Unternehmensbeteiligung.
Können Sie sich die Beteiligung wirklich finanziell leisten?
Lassen Sie sich neutral beraten.

Wenn die Voraussetzungen stimmen und die Erwartungshaltung realistisch ist, kann das genossenschaftliche Bauen und Wohnen viel bieten.

Erfahrungsbericht 

Topic juristische Fachthemen

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