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PBN-News mit Mauerfall, Bionade und Tofu-Rezepten von Johann Lafer

Die Bösebrücke am 10. November 1989 (Foto: Gerd Danigel, CC BY 3.0 (Opens in a new window) via Wikimedia Commons)

Liebe alle.

Ja, ich weiß. Wenn es am heutigen Morgen etwas nicht braucht, dann ist es noch eine Analyse über die Beweggründe unseres bisherigen Finanzministers / noch eine Meinung zur US-Wahl /ein weiterer pathosgeladener Bericht einer Journalistin über ihre persönlichen Erinnerungen an den 9. November vor 35 Jahren, als sie im Schlafanzug vor dem Fernseher saß und die Eltern aufgeregt darüber diskutierten, ob man sofort nach Berlin fahren müsse oder doch bis zum Wochenende warten? Morgen war schließlich noch ein Werktag.

Keine Sorge: Das erspare ich euch. Und erzähle stattdessen lieber die Geschichte meiner Nachbarin, die es dem Prenzlauer-Berg-Klischee gemäß gar nicht geben dürfte. Schließlich zog sie 1948 in unser Haus, das zu diesem Zeitpunkt zur Hälfte noch Bombenruine war.

Im Sommer ist sie 99 Jahre alt geworden und erträgt mit einer mit diesem Alter erworbenen Geduld, dass ich mich ab und an in ihre Küche setze und sie bitte, Daten aus dem Geschichtsbuch mit ihren Anekdoten zum Leben zu erwecken.

Beginn des Zweiten Weltkriegs? Beim Baden im Strandbad Wannsee erfuhr sie, dass Großbritannien Deutschland den Krieg erklärt hatte. Die jungen Männer, die aufgeregt die aktuelle Entwicklung diskutierten, verschwanden kurz darauf, oft für immer, an der Front.

Bombenangriffe? Verbrachte sie lieber in der Wohnung statt im Keller, damit ihr der SA-Mann von unten nicht wieder unter den Rock zu fassen versuchte.

Währungsreform? War problematisch, weil sie mit ihrem Ost-Geld die Straßenbahn zur Verwandtschaft im Westteil nicht mehr zahlen konnte.

Der Abend des 9. November 1989? Da schwappte die Aufregung um die Menschenansammlung vor dem Grenzübergang Bornholmer Straße durch das Haus, das in Spuckweite zu eben diesem liegt. Mit dem Vorhaben, einmal zum Kudamm, habe sich die Hausgemeinschaft der Menge angeschlossen, die über die Grenze drängte. „Da standen fünf Grenzer. Wie hätten die uns aufhalten können?“, sagt sie, und ich sage nicht, dass mir da schon Möglichkeiten einfielen, die in Budapest, Prag und Peking bereits erprobt worden waren.

Dieser Tage feiern wir den 35. Jahrestag dieser Nacht, die für mich mit dem seltsamen Gefühl einhergeht, das wir Ehrfurcht nennen, und zwar gegenüber der Tatsache: Das ist hier passiert.

Hier wurde der erste Grenzübergang geöffnet. Hier formte und engagierte sich über viele Jahre die Opposition, die erfolgreich eine der wenigen friedlichen Revolutionen der Menschheitsgeschichte umsetzte. Hier trafen sich Umweltbewusste in der Zionskirche, hielten Bürgerrechtler:innen in der Gethsemanekirche ihre Mahnwachen, hier druckten und verteilten Menschen Untergrund-Zeitungen im Bewusstsein, dass im nächsten Moment die Stasi durch die Tür kommen und alle mitnehmen könnte.

Kurz: Am Prenzlauer Berg kristallisierten sich Menschen mit der Vorstellungsgabe, dass es auch anders sein könnte. Und zwar nicht das Anders, von dem AfD und Konsorten immer warnen, und das Veränderung mit Verschlechterung und Angst gleichsetzt. Sondern das Anders, das Hoffnung verheißt.

Zur Wahrheit gehört, dass viele der damaligen Oppositionellen sich eine Zukunft wünschten, die weniger D-Mark, weniger Kapitalismus, weniger Neoliberalismus beinhaltete, als sie dann bekamen. Und dass wir viel zu spät begonnen haben, das anzuerkennen und darüber zu sprechen.

Aber ich kenne niemanden, der damals dabei war und heute sagt: Wären wir mal besser zu Hause geblieben und hätten uns mit einem Leben hinter der Mauer arrangiert.

Früher Mauer, heute Park, am 1. April 1990 (Foto: Gerd Danigel , ddr-fotograf.de (Opens in a new window), CC BY-SA 4.0 (Opens in a new window) via Wikimedia Commons)

Es folgten wilde Jahre des Umbruchs, in denen die Prenzlauer Berger:innen aus dem Osten in die Welt und alternative Westler:innen in den Prenzlauer Berg drängten. Dass sich manche Hausbesetzer:innen (Ost) von ihren BRD-Kolleg:innen verdrängt und bevormundet fühlten, zeigt, dass hier schon früh die Konflikte ausgefochten werden mussten, die lange Zeit unter „Wir sind doch alle deutsch. Wo ist das Problem?“ abgebügelt wurden und uns aktuell auf die Füße zu fallen drohen.

Wer sich für die vielen Schichten interessiert, die hinter dem Wort „Wiedervereinigung“ stecken, sollte mit gefrusteten Prenzlauer Berger:innen sprechen, die sich von Porschefahrenden nach Marzahn verdrängt fühlen.

Mit glücklichen DDR-Bürgerrechtler:innen, die sich bis heute daran erfreuen, sanierte Wohnungen mit Klo und Gasetagenheizung zu haben.

Mit dankbaren Wessis, die ihr Leben in Prenzlauer Berg dem Mauerfall verdanken und nun wiederum Angst haben, im Wohnungskampf gegenüber hinzuziehenden Google-Mitarbeiter:innen den Kürzeren zu ziehen, die 2.000 Euro kalt im Vergleich zur Bay Area für ein Schnäppchen halten.

Mit den Jahren formte sich dabei das Biotop, dem Zeit-Autor Henning Sußebach 2007 als „Bionade Biedermeier” (Opens in a new window)ein textliches Denkmal setzte.

Die ganze Republik lachte damals über Väter, die ihren skandiavisch benamten Nachwuchs mit dem Lastenrad aus der Kita holten. Über Kinder, die ihren Babychino in vegan bestellten. Über Besserverdiener:innen in ausgebauten Dachgeschosswohnungen mit Ökokisten-Abo und einer Vorstellung von Arbeit, die vormittags im Café absolviert werden konnte, und die den Begriff „Schwabenhass“ auch deshalb diskriminierend fanden, weil er Schwabinnen nur mitmeinte.

Spätzle-Anschlag aufs Kollwitz-Denkmal: Humorlevel anno 2013. (Foto: PBN)

Seit ein paar Wochen stapeln sich im deutschen Internet Texte, die den Abgesang auf diese Jahre anstimmen. Die Party sei vorbei, seitdem es in der Ukraine Krieg, in Thüringen Björn Höcke und in Prenzlauer Berg wieder Kita-Plätze gebe, so die Argumentation.

Dabei schwingt mit, der Prenzlauer Berg habe seine Innovationskraft verloren. Wer sich hier heute noch die Mieten leisten kann, der (oder die) ist angekommen und will nirgendwo mehr hin.

Ich mag diesen Zynismus nicht, zumal ich ihn jeden Tag im Kleinen, nicht nur in der Küche meiner Nachbarin, widerlegt sehe. Vielmehr ist die Bionade mittlerweile bis in den letzten Winkel der deutschen Provinz geschwappt: Im Deutschlandfunk wird gegendert. Unterfränkische Maschinenbaufirmen setzen auf die Vier-Tage-Woche. Johann Lafer empfiehlt Rezepte mit Tofu.

Aus Vision wurde Selbstverständlichkeit.

Klingt nach Ende der Geschichte. Aber das ist ja, wie wir wissen, (Opens in a new window) nicht erreicht.

Im Herbst 1989 galt es, etwas zu erreichen.

Im Herbst 2024 gilt es, etwas zu verteidigen.

Geschichte passiert nicht irgendwo, sondern immer auch hier.

Wissen

Knapp 100 Niststätten von Spatzen stoppen den Abriss des Jahn-Sportparks – zumindest vorerst. Das Berliner Verwaltungsgericht hat am Montag dem Eilantrag der NaturFreunde Berlin (Opens in a new window) recht gegeben, die in einem Teil der alten Stadionbauten erhaltenswerte Lebensräume bedrohter Tiere sehen.

Die für den Abriss zuständige Senatsverwaltung für Stadtentwicklung habe den Spatzen zwar ein paar Ausweichquartiere in Form von Nistkästen zur Verfügung gestellt, so das Gericht. Aber nicht genug.

Das wolle man nun nachholen, erklärt der Sprecher der Senatsverwaltung, Martin Pallgen. Er hoffe, das in den kommenden zwei Wochen klären zu können. Dann bliebe man nämlich im Abriss-Zeitplan.

Aktuell werden in Jahnstadion Innenbauten demontiert. Für diese Arbeiten ist der aktuelle Gerichtsbeschluss egal. In zwei Wochen soll es aber draußen weitergehen, und bis dahin möchte man das Gericht davon überzeugen, nun genug für den Spatzenschutz zu tun.

Machen

  • 7.11., 19.30 Uhr: Gesprächsabend mit den Ost- bzw. West-Berliner Alltags-Fotografen Harald Hauswald und Gottfried Schenk im Kultur- und Bildungszentrum Sebastian Haffner, Eintritt frei (mehr (Opens in a new window)).

  • 9.11., 15 bzw 17 Uhr: Rüdiger von Fritsch liest aus “Endspiel 1974 – Eine Flucht in Deutschland”, Flix aus “Da war mal was...” in der Bibliothek am Wasserturm, Eintritt frei (mehr (Opens in a new window)).

  • 9.11., 16 Uhr: Vernissage der Fotoausstellung von Rolf Zöllner mit Bildern des Mauerparks “Vom Ort der Trennung zum Ort der Begegnung” im Vereinhaus Blumenwunder (mehr (Opens in a new window)).

  • 9.11., 19 Uhr: Wie jedes Jahr treffen sich die beiden Bürgermeisterinnen aus Pankow und Mitte an der Bösebrücke und trinken Sekt (mehr (Opens in a new window)).

  • 9./10.11.: Sechs Stunden Kurzfilme plus Gespräche mit Zeitzeug:innen beim Mauerfilmfest im Colosseum. Sonntag spezielles Programm für Kinder und Jugendliche. Eintritt frei (mehr (Opens in a new window)).

Liebe Grüße und auf bald,

Juliane von den Prenzlauer Berg Nachrichten

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