Der menschliche Faktor
Wird der Wahlkampf wieder spannend?/Serie Genombrottet/Gedenktag der jüdischen Gemeinde Frankfurt/Leuchtturm411/ Comeback des Bouillons
Ich hatte mich fast damit abgefunden, in Friedrich Merz den nächsten Bundeskanzler zu sehen. Immerhin ist er ein europäisch gesinnter, bürgerlicher Mensch, der stabile Mehrheiten organisieren kann. Doch nun kommt Bewegung in einen kurzen und bis dato langweiligen Bundestagswahlkampf. Merz geht nach dem Doppelmord von Aschaffenburg konzeptionell und parlamentarisch auf die AfD zu, was er zuvor stets ausgeschlossen hatte. Wäre die SPD auf Zack, würde sie ihn nun mit einer braune Socken-Kampagne jagen. In den neunziger Jahren waren alle SPD Kanzlerkandidaten an der Frage gescheitert, ob sie sich notfalls mit den Stimmen der Linken, den “roten Socken”, zum Kanzler wählen lassen. Heute zeigt sich Merz offen für die Möglichkeit der Kooperation mit der AfD, um seinen Antrag noch vor der Wahl im Bundestag verabschieden zu lassen. Dieses Thema - wie hältst Du es mit der Brandmauer? - wird bis zum Wahltag jedes Interview mit ihm dominieren. Dabei geht es dann nicht um den Verdacht, dass Merz ein verkappter Rechtsradikaler sein könnte, sondern ganz einfach darum, ob er zu seinem Wort steht.
Dieses Manöver von Merz birgt ein großes politisches Risiko: Wer in Zuwanderung die Wurzel allen Übels sieht, wird jetzt erst recht die AfD wählen – schließlich hat Merz nun selbst deren Kurs und deren Themensetzung legitimiert. Und wer die Blauen auf jeden Fall von der Regierung fernhalten möchte - das ist immer noch die große Mehrheit der Menschen - wählt alles außer CDU. Die AfD ist ja keine harmlose Politfolklore, sondern eine stramm rechtsradikale Partei, mit deren Regierungsbeteiligung die Bundesrepublik das Versprechen, dass sie der Weltgemeinschaft 1949 gegeben hat - Nie wieder! - bricht.
Wer die französische Politik verfolgt, den wird der Doppelmord von Aschaffenburg und seine politischen Folgen an die Karriere von Nicolas Sarkozy erinnern. Der war von jedem Kindsmord aufgewühlt, reiste sofort hin, hielt Kontakt zu den Eltern und bemühte sich ehrlich, solche Taten durch markige Auftritte und schärfere Gesetze zu verhindern. Richtig funktioniert hat das nicht. Verbrechen haben eine eigene Logik, die sich der politischen Gestaltung entzieht: Michel Fourniret, der Serienmörder und Xavier Dupont de Ligonnès, der seine Familie ermordete und unter der Terrasse einbetonierte, führten ein unauffälliges Leben. Kein noch so wachsames politisches Auge hätte ihre schrecklichen Verbrechen ahnen oder verhindern können. Es mangelte ihnen weder an Geld noch an Bildung – wie müsste eine Gesellschaft aussehen, in der niemand mehr mordet?
Schärfere Strafen schrecken nicht ab und die Polizei kann nicht überall sein. Darum muss man die politische Thematisierung von Kriminalfällen mit Bedacht vornehmen. Das nachvollziehbare Entsetzen über Morde hat schon oft zu völlig falschen politischen Konsequenzen geführt. Politische Führung beweist sich in der sachgemäßen, von Expertinnen und Experten begleiteten Entwicklung präventiver Prozesse.
Bürgerinnen und Bürger haben einen Anspruch drauf, vom Staat geschützt zu werden. Sicher brauchen Polizei, Justiz und Psychiatrie neue kriminologische, wissenschaftliche Instrumente, um solche Täter schon im Vorfeld in den Blick zu bekommen. Wer die kommunikativen Schwierigkeiten hiesiger Behörden, die altertümliche Ausrüstung und die zögernde Digitalisierung kennt, mag vermuten, dass sich aus einer Reform solcher Punkte mehr Schutz entwickeln kann. Es gibt klügere Wege der Analyse und der Prävention als zu sagen: Wäre er nicht eingewandert, wäre die Tat nicht geschehen.
Eine Schließung der Grenzen oder mehr Abschiebungen sind unpassende, sehr teure und ineffektive Antworten auf dieses Problem. Ein Migrant, der zum Täter wird, weist ja -außer der Tatsache seiner Zuwanderung - noch weitere Merkmale auf. Er ist ein Mann, neigt zur Gewalt, fällt durch psychische Labilität auf und vieles andere mehr. Es wäre ja auch zu einfach: Viele Straftäter sind Deutsche und die übergroße Mehrheit der Migranten sind friedliche Zeitgenossen.
Dass Merz nun seinen Wahlsieg auf Kopf oder Zahl spielt, erinnert daran, was ihn im Innersten antreibt. Sein politischer Gegner ist nicht der Bundeskanzler, nicht Habeck und auch nicht die AfD: Es ist die CDU vor ihm und ihre Vorsitzende Angela Merkel. Aus diesem Affekt heraus setzt er seinen Wahlsieg aufs Spiel. Der menschliche Faktor wirbelt alle Prognosen durcheinander.
Wenn der Netflix-Algorithmus zu einer Empfehlung kommt, die den Mund so voll nimmt, provoziert mich das natürlich:”Diese Serie gefällt ihnen zu 100%!” Ha, das wollen wir doch mal sehen! Zumal, wenn ich von der Sache noch nie gehört habe. Es gab schwedische oder nordische Serien, die mich begeistert haben – etwa “Der unwahrscheinliche Mörder”die Miniserie über das Attentat auf Olof Palme (Opens in a new window) –doch die meisten langweilen mich rasch. Ich bin ohnehin nicht so der große Krimi-Fan, darum schreibe ich derzeit einen, den ich auch selber gern lesen würde. Doch zurück zur Serie Genombrottet : Die lohnt sich von Anfang bis Ende und entfaltet sich wie ein sehr guter Roman über die schwedische Provinz!
https://www.netflix.com/watch/81581086?trackId=14170289&tctx=2%2C0%2C4ac8da17-7832-4854-85ca-a38cffdcdbb9-38874510%2CNES_2C0AD946246A4FB663343AFC6D9669-994911DC4F528C-52E03F25DD_p_1737712790305%2C%2C%2C%2C%2C81566970%2CVideo%3A81581086%2CdetailsPageEpisodePlayButton (Opens in a new window)Am vergangenen Sonntag war ich zu Gast in der jüdischen Gemeinde zu Frankfurt. Es war ein intensiver Tag des Ge- und Nachdenkens mit Podien von bemerkenswerter Qualität, weit besser als viele Tagungen und Talkshows.Seit jeher ist die Frankfurter jüdische Gemeinde eine wesentliche Quelle literarischer und intellektueller Exzellenz in Deutschland. Sie ist logischerweise nicht nur das, es gibt ja Jüdinnen und Juden in allen Branchen und Berufen, aber eben auch ein Glutkern des Nachdenkens über den Gang der deutschen Dinge. Leider waren nur sehr wenige Leute da und einen Stream gab es auch nicht. Nun hat die Gemeinde dankenswerterweise eine Zusammenfassung ins Netz gestellt, die ich allen nur empfehlen kann. Es beginnt mit Carolin Emcke und endet mit dem Kanzler.
https://www.youtube.com/watch?v=0GgjTFFUcVo (Opens in a new window)Es ist sehr gesund für die Psyche, einen Spleen zu kultivieren und in meinem Falle sind das bekanntlich Schreibwaren. Ich kann ewig in Papeterien abhängen, stöbere im Netz danach und bestelle in der ganzen Welt. Für alle, denen es ebenso geht oder die einfach nur wissen wollen, wie das mit dem Moleskine Wahnsinn losging, gibt es nun ein preisgekröntes Sachbuch bzw. jetzt erst habe ich es entdeckt. Allen geht der Geschichte meiner Lieblingsobjekte nach und stellt fest, wie es in solchen Büchern nun mal ist, dass wir ohne Notizbücher noch in Höhlen hausen würden! Ganz meine Meinung!
https://roland-allen.com/ (Opens in a new window)A propos: Für unsere Gemeinschaft begann das Jahr mit einem echten Coup. Moleskine ist ja schon vor Jahren mit einem besonders umfangreichen A5 Notizbuch vorgeprescht, der Extended Version des Classic. Ich wusste irgendwie, dass auch die Freunde von Leuchtturm1917 nachziehen würden, sie ziehen immer nach – aber auf ihre norddeutsch-phlegmatische Art lassen sie sich gerne etwas Zeit. Die extended Moleskines habe ich in große Stückzahl beehrt, alles gut, aber Leuchtturm ist eben noch einen Hauch gediegener und in meinem biblischen Alter schätzt man das. 411 Seiten, das ist schon eine Ansage und dabei ist es angenehm leicht und kompakt. Never leave home without it.
In dieser Saison stürzen sich wieder alle auf die Essenz und den Beginn aller Küche, die Brühe. Die New York Times würdigt diesen Zaubertrank als panaceum gegen alle Übel und völlig zu recht:
https://www.nytimes.com/2025/01/23/t-magazine/chicken-broth-winter-soup-recipe.html (Opens in a new window)Auch die Kolleginnen und Kollegen von Le Monde besinnen sich auf die inneren Werte
https://www.lemonde.fr/m-styles/article/2025/01/23/tout-est-bon-dans-le-bouillon_6511163_4497319.html (Opens in a new window)Die Geschichte des Bouillon-Ausschanks in Paris ist auch sehr interessant. Ich vermute, dass solche großen und preiswerten Restaurants mit Stofftischdecke auch heute wieder funktionieren können – es könnte Platz sein für etwas zwischen Fast food und der normalen, super teuren und oft nur mäßig erfreulichen Gastronomie.
https://www.youtube.com/watch?v=Kv_8pgx4r0o (Opens in a new window)Kopf hoch,
ihr
Nils Minkmar
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